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Der Mensch triumphiert

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GELEITBRIEF. Entwurf zu einem Selbstbildnis. Von Boris Pasternak. Ullstein-Bücher Nr. 216. 155 Seiten

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GELEITBRIEF. Entwurf zu einem Selbstbildnis. Von Boris Pasternak. Ullstein-Bücher Nr. 216. 155 Seiten

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Es ist still geworden um Boris Pasternak, nachdem die um den Nobelpreis für seinen „Dr. Schiwago“ geführte Diskussion alle propagandistischen Momente dieses tragischen Falles erschöpft hat. Wie wenig aber das Phänomen Pasternak in den Bereich der Sensation gehört, erweist erneut der „Geleitbrief" des russischen Dichters, der nun auch in deutscher Sprache in einer preiswerten Ausgabe vorliegt. Es fehlt zwar diesem „Entwurf zu einem Selbstbildnis” nicht an erregenden Perspektiven; aber sie lassen sich schwerlich für billige aktuelle Zwecke auswerten.

Auch in dieser autobiographischen Studie offenbart sich Pasternaks Mut Js Einzelgänger in einem totalitären System; er zeichnet dort freimütig die Stadien einer ganz individuellen Entwicklung nach. Einer Entwicklung, deren geistige Grundlagen und deren Menschenbild wesentlich vom Neukantianismus der Marburger Schule geprägt sind, und in der als zweiter charakteristischer Wesenszug die unverbrüchliche Liebe zur russischen Heimat auffällt. Wir erfahren in diesem Buch, daß schon einmal dem jungen Studenten von seinem verehrten Marburger Lehrer Cohen nahegelegt wurde, im Westen zu bleiben. „Ich dankte ihm mit großer Wärme für die Gastfreundschaft. Aber meine Dankbarkeit sagte ihm viel weniger als die Anziehungskraft, die Moskau für mich hatte . .. Wie konnte ich ihm sagen . .. daß ich nicht im entferntesten daran dachte, später nach Marburg zurückzukehren?"

Pasternak gibt in seinem „Geleitbrief“ keinen vollständigen Abriß seines Lebens. Er berichtet vielmehr von Menschen und Räumen, die sein Wesen geformt und seine geistige Entwicklung bestimmt haben. Die Begegnung des Kindes mit Rilke am Anfang des Buches wirkt blaß und verschwommen. Aber das Idol des Jünglings, der einige Jahre ernsthafte Musikstudien treibt, der Komponist Skrjabin wird lebendig heraufbeschworen. Ihm verdankt Pasternak die schmerzliche Erkenntnis, daß nicht die Musik „sein Schicksal" ist. Aber der Weg zur Literatur ist damit noch nicht frei. Es folgt zunächst ein wieder sehr ernsthaftes Studium der Philosophie in Marburg, die lösende Begegnung mit dem Neukantianismus, an dem Pasternak die „Unabhängigkeit und den Historismus“ rühmt. „Jene beiden Merkmale zeigen seine Originalität, das heißt seinen lebendigen Platz in der lebendigen Ueberlieferung, in der sich Gesicht und Herz einer Generation lebendig mitteilt.“ Eine Italienreise beschließt Pasternaks Marburger Aufenthalt, und die Begegnung mit der italienischen Kunst schenkt ihm „das Empfinden für die greifbare Einheit unserer Kultur“. Pasternak bekennt sich nicht nur mit Freimut und Unbefangenheit zu der bedeutsamen Rolle, die diese Jugenderfahrungen in Deutschland und Italien für seine geistige Entwicklung hatten. Er schildert diese Periode seines Lebens mit Liebe und Dankbarkeit; in echter Hingabe und Anteilnahme erschließt sich ihm das Besondere und Charakteristische der fremden Atmosphäre, die dank dieser Haltung sein bisheriges Weltbild wesentlich bereichert und erweitert. Am ergreifendsten ist der letzte Teil der Studie, die Auseinandersetzung mit dem genialen Freund und zeitweiligen Gegenspieler Majakowskij. Einer der schönsten Nachrufe, die je geschrieben worden sind! Besonders der Teil, den Pasternak „das letzte Jahr des Dichters“ nennt, eine. Phase umfassender geistiger Verwandlung, „die die Kontinuität des voraufgegangenen Lebens mit Freude und Schroffheit zerreißt“. Erfahrungen übrigens, denen Pasternak Allgemeingültigkeit für den Dichter überhaupt zugestanden wissen will.

Das Buch endet mit einer sehr russischen Wehklage über Majakowskijs Selbstmord. „Plötzlich war mir, als sähe ich draußen vor dem Fenster sein Leben, das jetzt ganz der Vergangenheit angehörte. Es entfernte sich in schräger Richtung vom Fenster wie eine stille, baumgesäumte Straße. .. Und der erste, der auf dieser Straße stand, ganz dicht beim Fenster, war unser Staat, unser nie dagewesener, unvorstellbarer Staat, der auf die Jahrhunderte zueilte und für immer von ihnen aufgenommen wurde.. .“

Wie auch der „Dr. Schiwago“ ist Pasternaks Geleitbrief alles andere als ein Pamphlet gegen den Bolschewismus. Man sollte die Worte nicht vergessen, daß er „seinem Land und seiner Epoche dankbar ist, denn sein Werk und seine Kraft sind von dieser Epoche und diesem Land geformt worden“. Und doch ist Pasternak ein geistiger Widersacher des Kommunismus, weil er von Grundlagen ausgeht, die denen der kollektivistischen Gesellschaftsordnung diametral entgegengesetzt sind. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung steht das Individuum und der Glaube an die Unverlierbarkeit des Menschen, unter welchen Umständen auch immer er leben mag. Und diese Stimme wird gehört und verstanden in seiner russischen Heimat. Wie sonst hätte es zu jener ergreifenden Episode kommen können, daß bei einer öffentlichen Lesung seiner Gedichte, als Pasternak das Vortragsblatt entglitt, seine Zuhörer auswendig seine Verse weiter rezitierten, Verse, die zwanzig Jahre nicht mehr publiziert worden waren. Welch Dichter bei uns dürfte eine so ganz und gar lebendige Resonanz erhoffen?

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