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Der Missionar der lebendig Toten

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Im Herzen des Stillen Ozeans, tausende Meilen von jedem Land entfernt, verstreut der Hawaische Archipel, wie eine den Fluten überlassene Blumengirlande einen Rosenkranz von Inseln. Die feuchte, heiße Luft, regendurchdrängt, läßt einen traumhaften Pflanzenwuchs gedeihen, in dem Tabak, Zuk-kerrohr, Ananas und Baumwolle sprießen, ohne daß sich jemand ihretwegen viel Mühe geben muß. Die Blumen sind dort farbenprächtiger als irgendwo in der Welt. Ha-wai... Perlen des Stillen Ozeans, wo die Namen der Inseln und Städte wie das zarte Klirren von Muschelketten klingen: Manu, Cahu, Lehus, Honolulu .. ■

Am 4. Mai 1873 hatten sich auf der Insel Menui, im Zentrum des Archipels, sieben Priester versammelt. Der älteste war Mon-signore Maigret, apostolischer Vikar von Honolulu, ein alter Pionier des Apostolats. Die sechs anderen waren seinem Befehl unterstellte Missionäre.

Die Lage für den Katholizismus schien im Gebiet des Stillen Ozeans gut. Die Zahl der Getauften stieg von Tag zu Tag. „Das Feld ist bebaut, morgen wird überall das Korn emporschießen...“, rief der Bischof aus. Doch der älteste der Patres schüttelte den Kopf und erhob die Hand, wie um einen Vorbehalt auszudrücken. „Nicht einverstanden, Pater Raymund?“, fragte der Prälat. „Sie haben eine Insel vergessen, Eminenz ...“

Aller Blicke wandten sich ihm zu. Man wartete bis er den Namen aussprach: „Molokai.“ Aller Stirnen umdüsterten sich. „Ja“, begann der Pater von neuem, „Molokai. Anderswo mag vielleicht das Paradies sein, doch dort ist sicherlich die Hölle. Ich bin zweimal hingefahren und habe noch den Schrecken in den Augen, den Schrecken dessen, was ich dort sah. Ja, ich weiß wohl, auch dort gibt es Katholiken, sogar eine Kirche. Doch keinen Priester.“

„Ich habe oft daran gedacht“, sagte Mon-signore Maigret langsam mit schmerzlicher Stimme, „doch einen von Ihnen, oder vielleicht alle abwechselnd der Reihe nach in diese Hölle zu schicken . .. Denn Sie haben recht, Pater Raymund, ich bin selbst auch hingefahren, das ist wohl die Hölle... Bis zu dieser Stunde hatte ich nicht den Mut...“

„Wir sind alle bereit, nach Molokai zu gehen“, sagte ein Pater.

„Einige meiner Täuflinge sind dort. Ich bitte darum, hierzu designiert zu werden. Wenn sie mir diese Gnade erweisen, Eminenz, so werde ich aufbrechen und zu jenen in die Hölle des Inselreiches ziehen. Ich bin bereit, mit diesen Unglücklichen lebendig begraben zu werden.“

Aller Augen wandten sich nun dem zu, der gesprochen hatte. Es war ein junger, kräftiger, gut aussehender Mann von frischer Hautfarbe, mit offener Stirne. An seiner langsamen, singenden, gleichzeitig etwas gewundenen Art sich auszudrücken, erkannte man seine Herkunft aus Flandern. Er war ein Belgier aus den Niederlanden, ein Sohn flämischer Großbauern. Mit seinem bürgerlichen Namen hieß er Joseph de Veuster, als Mönch Pater Damien.

Monsignore Maigret betrachtete ihn lange eindringlich. Zweifellos dachte er nach, bereitete eine Entscheidung vor. Trotz seiner Jugend hatte Pater Damien schon große Erfahrung als Missionär. War er nicht überall dort, wohin man ihn gestellt hatte, wunderbar erfolgreich gewesen?

„Wie alt sind Sie, Pater Damien?“, fragte der Bischof.

„Dreiunddreißig.“

„Sie haben schon Aussätzige gesehn?“

„O ja, in Kohala, daran fehlt es nicht“, antwortete der junge Priester mit einem engelgleichen Lächeln.

„Wenn Sie zögerten, nach Molokei zu fahren, könnte ich es wohl verstehen“,

drängte der Bischof. „Sie hängen an Ihren Gläubigen, an Ihrer Mission... Sie halten Ihr Anbot aufrecht? Nun gut,,gehen Sie also im Namen des Herrn!“

Ohne zu antworten war Pater Damien vor dem alten Bischof niedergekniet, dessen Hand mit dem Fischerring sich segnend über ihm erhob.

*

Im Meeresarm, der Cahu von Molokai trennt, durchfurchte der kleine Dampfer „Kilauea“ mit aller Kraft das grüne Wasser..

An der Reeling starrte, grenzenlos verzweifelt, ein ganzer Trupp von Männern, Frauen und Kindern dumpf und wortlos vor sich hin. Bei allen — bei den einen mehr, bei den andern weniger — zeigten sich auf der dunklen Haut purpurrote oder fahle Krusten: viele hatten aufgedunsene Lippen, knollige Ohren oder riesige Faltenwülste, die ihre Mundpartien den Schnauzen wilder Tiere ähnlich machten. Einige trugen die Hände in großen eitrigen Verbänden eingewickelt.

Auf dem Vorderschiff standen, wie Schildwachen, zwei Priester. Sie sprachen nicht. Monsignore Maigret betete leise: seine bleichen Greisenlippen bewegten sich. An die Bordwand gelehnt, blickte auch Pater Damien wie die Aussätzigen geradeaus vor sich hin.

Die schwarzen Felsen von Molokai, dem Gebiet, wo die Regierung die Aussätzigen zermerte, kamen näher. Am Ufer und entlang der Landungsbrücke gestikulierten menschliche Gestalten. Das kleine Schiff legte an: man warf den Steg aus. Immer noch stumm, viele in Tränen, gingen die Aussätzigen an Land, zum ersten Male jenen

Boden betretend, den sie nie mehr verlassen sollten. Einige würden von Freunden, Verwandten empfangen, die sich mit lauten Schreien auf sie stürzten, dann brachen jämmerliche Seufzer aus. Pater Damien betrachtete alles das, vor Staunen wie vor den Kopf geschlagen. Diese schrecklichen Gesichter, diese Tiermäuler, diese schwangen, hinkenden, mit Pusteln bedeckten, diese ekelerregenden Wracks, das waren' nun seine täglichen Gefährten, das war die Herde, deren Hirt er zu seih hatte!' - ■

„Steigen wir aus“, sagte sanft neben ihm die Stimme Monsignore Maigrets. Die Kranken hatten den Bischof erkannt: sie stürzten ihm entgegen, die Hände ausgebreitet, die Blicke leuchteten vor Freude. „Ka Ekopo,

Ka Ekopo, unser Bischof!“ riefen sie in ihrer Sprache.

„Ja“, sagte der Bischof, „ich bin gekommen, euch zu besuchen und heute, seht' ihr, bin ich nicht allein gekommen. Hier ist der, den ihr erwartet habt. Er wird nun unter euch leben. Er wird euer Vater sein. Er wird euch pflegen. Er wird euch trösten.“

Staunend starrten die plötzlich still gewordenen Kranken diesen schönen kräftigen blonden Mann von weißer Hautfarbe an, der gekommen war, um in ihrer Mitte ihr Leben zu leben. Ein Greis kam heran und betrachtete mit dem Auge eines Kenners Pater Damien von der Nähe.

„Du kannst ihn untersuchen“, rief der Bischof mit gutem Lachen, „er ist nicht krank. Und dennoch siehst du, daß er zu euch kommt.“

Als er. mit einer Geste auf den jungen Missionär hinwies, blieb sein Blick auf ihn haften. Pater Damien war bleich wie ein Laken. Diese Gesichter, dieser Menschheitsauswurf, die wilden Schreie der närrischen Betrunkenen und vor allem ... vor allem dieser ekelerregende Geruch, der all diesem

verfaulenden menschlichen Fleisch entströmte: dieser Gestank, den selbst die Meeresbrise nicht verscheuchen konnte. Der Bischof legte Damien die Hand auf den Arm.

„Pater Damien“, sagte er leise, „noch ist es Zeit: in einer halben Stunde fährt das Schiff zurück. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie wieder mit. Ich werde Verständnis haben. Es gibt Opfer, die ein Vorgesetzter nicht zu fordern das Recht hat.“

Pater Damiens Blick traf jenen des Prälaten: „Ich bleibe, Eminenz. Ich bleibe freiwillig. Mein Leben wird von nun an nur den einen Sinn haben, aus diesen da wieder Menschen zu machen.“ Und sich seinen neuen Gläubigen zuwendend: „Meine Kinder, ich werde in eurer Mitte bleiben bis zu meinem Tode. Euer Leben wird mein Leben sein, euer Brot wird mein Brot sein. Und wenn es der liebe Gott will, wird eines Tages eure Krankheit auch meine sein. Ich bin bereit, aussätzig zu werden wie ihr!“

Das Schiff lichtete den Anker. Lange sah Pater Damien nach, wie es sich entfernte. Vom Heck aus sandte ihm der alte Bischof einen letzten Segen.

Sechzehn Jahre .'.. Er sollte sechzehn Jahre in dieser Hölle bleiben. Die erste Zeit war grauenhaft. Die Entbehrung, das Elend des Gebietes, wo die Leprakranken zusammengetrieben waren, kann man sich kaum vorstellen. Von Zeit zu Zeit kam ein Regierungsschiff, um ein Minimum an Nahrungsmitteln abzuladen, gerade genug, um die Aussätzigen nicht Hungers sterben zu lassen. Doch aus Nachlässigkeit, aus Faulheit, taten die Gefangenen nichts zu ihrer eigenen Hilfe. Der Feldbau, war mittelmäßig; Wasser fehlte, die reichlichen Quellen am Berge waren nicht gefaßt. Der schlimmste Ort des ganzen Geheges war das Spital, ein Gipfel der Abscheulichkeit. Dort fehlte alles: Aerzte, Krankenpfleger, sogar Wasser. In dem hübschen, von leuchtenden Blumen überwachsenem Steinhaus zusammengepfercht, waren die Leprakranken nur mehr lebende, schon von den Würmern angenagte Leichname.

Und das Allerschlimmste: Diese schon zu einem furchtbaren Tode verurteilten Unglücklichen betrugen sich, statt einander brüderlich beizustehen, wie wilde Tiere. Als Pater Damien eines Tages an einem langen Graben voll Unrat vorbeikam, erschien ein Mann mit einem Schubkarren und leerte die Ladung in den Graben. Der Missionär glaubte, es handle sich um einen Haufen Lumpen, doch im Herabfallen ließ die verpestete Masse einen Schrei vernehmen. Es war ein Mensch, ein Sterbender. Man hatte, um ihn auf den Misthaufen zu werfen, nicht einmal seinen letzten Seufzer abgewartet. Ein anderes Mal kam der Pater in die Hütte eines Sterbenden: bei seinem Erscheinen liefen sieben oder acht Aussätzige davon, alle mit schweren Packen beladen. Auch die Plünderer warteten nicht den Eintritt des Todes ab! Andere Menschen wären vor solchen Abgründen der Leiden und der Frevel entmutigt worden. Aber Damien war Priester. Nicht einen Augenblick zögerte er. Dies war seine Pflicht. Wie er zu seinem Bischof gesagt hatte: man mußte aus diesen Wracks Menschen machen. Mutig ging er an die Arbeit.

Dem Sohn handfester flämischer Bauern war nichts vom Beruf des Landwirtes unbekannt und seine Arme waren jeder Anforderung gewachsen. Ein umfangreicher Pflanzungsplan wurde ausgearbeitet, .überall, wo es der Boden erlaubte, wurden Kulturen angelegt. Das Wasser wurde vom Berg heruntergebracht, zuerst durch freiwillige Träger, die — in jeder Hand einen Eimer — an jedem Morgen in einer Karawane, mit dem Pater an der Spitze, aufbrachen. Gleichzeitig schritt man an die Sanierung: die ekelhaften alten Hütten voll Ungeziefer wurden verbrannt und durch neue ersetzt, an denen der Missionär als Zimmermann und Maurer tätig war. Die Umgebung der Dörfer wurde gereinigt: man legte Friedhöfe an, um die Toten nicht mehr auf den Mist werfen zu müssen. Ein großer Tag war jener, an dem eine Leitung reines, nicht versiegendes Wasser

aus den Quellen heranführte, doch ein noch größerer Tag jener, an dem eine neuerbaute Kirche im Beisein aller dem Kult eröffnet wurde.

Alle diese Handarbeit war nur das Mittel, das Werkzeug einer anderen Arbeit, jener des Aposteltums. Oder vielmehr tat Pater Damien, indem er sich nur so zeigte wie er war: wunderbar gütig und hilfsbereit, ohne Unterlaß allen seinen aussätzigen Brüdern ergeben. Sein lachendes Gesicht, seine fröhlichen ermunternden Reden, die Großmut seines Herzens, gewannen ihm besser die Seelen als eine Predigt. Sehr rasch mehrten sich die Bekehrungen und die Zahl der Taufen. Eine ganz neue Atmosphäre der Freundschaft und Güte verbreitete sich im Lager der lebendig Toten.

Uebrigens zögerte Pater Damien nicht, alle Mittel anzuwenden, um die Ursache des Hasses und der Uneinigkeit auszuschalten. Die Trunkenbolde wurden zur Vernunft gebracht, das Brennen von Alkohol, das vor Ankunft des Paters im Großen geschehen war, wurde verboten. Er selber war die Polizei. Die Schlechten, die Gewalttäter zitterten vor ihm. Wenn er, einen dicken Stock in der Faust, an den Ort der Prügeleien und der Orgien kam, war es wie ein Wunder anzusehen, mit welcher Schnelligkeit alles wieder in Ordnung kam. Die „schlechten Galgenvögel“, wie der Missionär sie zu nennen pflegte, machten sich, vom Knüppel verfolgt, aus dem Staube.

So vergingen die Jahre. Durch ständige Gesuche und Proteste hatte Pater Damien schließlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine lieben Aussätzigen gelenkt. Man begann auf den Inseln — und sogar in Artikeln der Presse von Honolulu — von dem außerordentlichen Missionär zu sprechen. Betten, Decken, Medikamente, Lebensmittel kamen, vom „Kilauea“ herbeigeschafft, in Mengen an. Die Nonnen von Honolulu, die selbst auch so gerne zu den Aussätzigen gegangen wären, sammelten unermüdlich und sandten die Ergebnisse ihrer Kollekten, darunter sogar eine kleine Glocke für die Kirche, in das Lepralager.

Doch wenn dieses Ansehen, das Pater Damien selbst nicht angestrebt hatte und das ihn sogar stark belästigte, auch dazu taugte, ihm die notwendige Hilfe zu bringen, so hatte es auch seine Schattenseiten: es rief Eifersüchteleien hervor. Unzufrieden, mitanzusehen, wie ein einziger, nur auf sich gestellter Mann in wenigen Jahren viel mehr und viel Besseres zustandegebracht hatte als sie selber in fünfzig Jahren, begannen die Behörden auf den Inseln ihm Prügel in den Weg zu werfen. Man trachtete, ihn zur Abreise zu bestimmen: er weigerte sich. Man versuchte, ihn mit schönen Versprechungen zu ködern, ihn durch Drohungen zu beeindrucken: er schlug die einen aus und verachtete die anderen. Nun schritt man zu einer abscheulichen Maßnahme: unter dem Vorwand, daß er die Lepra nach anderen Inseln verschleppen könnte, verbot man ihm auf Lebenszeit, das Aussätzigenlager zu verlassen.

Eines Tages legte wie gewöhnlich der „Kilauea“ mit seiner Ladung von Lebensmitteln und neuen Aussätzigen an. Ein Ordensbruder Pater Damiens war an Bord, sein Freund und Vorgesetzter. Damien stürzte ins Boot, und als er bei dem Schiffe angekommen war, wollte er die Bordleiter emporklettern. „Bleiben Sie unten, bleiben Sie unten“, rief der Kapitän. „Ich habe strengstes Verbot erhalten, Sie an Bord zu lassen.“ — „Kann ich den Pater Modeste nicht sprechen?“ — „Man hat mir verboten, Sie mit wem immer in Berührung zu bringen!“ Niedergeschmettert, den Tränen nahe, kniete Pater Damien im Boot nieder. „Mein Vater“, sagte er, „hören Sie, bitte, meine Beichte.“ Und lateinisch beichtete der Missionär mit lauter Stimme, worauf ihm sein alter Vorgesetzter, über die Reeling gebeugt, weinend die Absolution erteilte.

Als das kleine Schiff hinter der schwarzen Steilküste verschwunden war, kehrte Pater Damien in seine Kirche zurück. Er fühlte, wie seine Seele blutete und zerrissen war. Doch als er näherkam, hörte er junge frische Stimmen einen Choral singen: Es waren seine Lieblinge, die Kleinen aus dem Waisenhaus, die er aufgenommen und erzogen hatte, denen er das Ministrieren beibrachte. Die Bosheit der Menschen würde ihn nicht überwältigen. Nein, er würde seine Aussätzigen nicht verlassen.

*

An einem der ersten Dezembertage 1884 — er war nun beinahe zwölf Jahre in Molokai — kam Pater Damien nach einer harten Gebirgsreise zu Pferd, in deren Verlauf ihn ein fürchterlicher Tropenregen überrascht hatte, in seine Hütte zurück. „Mutter Anna“,

rief er der guten Frau zu (einer noch leicht Kranken), die er zu seiner Bedienung hatte, „bereite mir schnell ein Fußbad: ich bin wie ein Eiszapfen!“ Nach einer Viertelstunde kam die brave Frau zurück: „Achtung, Makua Kamiano, es ist brennheiß!“ Vorsichtig tauchte Pater Damien die Zehen ins Wasser. Nein, es war nicht zu heiß. Er steckte beide Füße hinein. Mutter Anna betrachtete ihn mit Staunen, dann mit Furcht: sie hatte begriffen. „Seltsam“, sagte der Pater, „dein Wasser raucht, wärmt aber nicht!“ Er zog die Füße heraus, stieß einen Schrei aus: er hatte richtige Blasen. Der Missionär wurde bleich: auch er hatte mit einem Schlag begriffen. Eines der Symptome, welche nach Monaten, sogar Jahren langsamer Inkubation die Lepra anzeigen, ist gerade jenes der Gefühllosigkeit in Armen und Beinen. Die Haut spürt nichts mehr. Man kann in sie hineinstechen, sie verbrennen, ohne daß sie reagiert.

Aussätzig... Er war aussätzig. Vor dem kleinen Toilettespiegel untersuchte er sich lange. Noch ließen weder das Gesicht noch die Hände etwas davon sehen. Auch der Körper nicht, wo sich keinerlei verdächtiger Fleck zeigte. Aber er konnte sich keiner Täuschung mehr hingeben. Die schreckliche Krankheit, gegen die man noch kein wirksames Medikament gefunden hatte, würde ihren Lauf nehmen. Vielleicht würde es gelingen, durch die Injektionen, von denen so viel gesprochen wurde, ihr Fortschreiten zu verzögern... Nach und nach aber würde sie alle seine Glieder erfassen, das Gesicht und zweifellos die Augen erreichen. .. Eine große menschliche Verzweiflung brach über ihn herein. Doch sein Priestergewissen war stärker als das Aufbäumen seiner zerrütteten Empfindung. Hatte er nicht, als er in Molokai ankam, sich mit lauter Stimme bereit erklärt, aussätzig zu werden, wenn dies Gottes Wille wäre? Die Stunde vollkommener Hingabe war gekommen.

Er sollte vier Jahre zum Sterben brauchen. Fast war die Krankheit gnädig gegen ihn, in dem Sinne, daß sie ihm erst in den allerletzten Tagen das Augenlicht nahm und bis zum Schluß jenen abscheulich eitrigen Zerfall der Glieder ersparte, den er so oft bei den anderen Aussätzigen gesehen hatte. Doch sein Gesicht, sein schönes, ehrliches, flämisches Bauerngesicht, schwoll an, wurde unförmig, bedeckte sich mit Schwären. Niemand hätte den großen frischen kräftigen Burschen wiedererkannt, der vor sechzehn Jahren unter den lebendig Toten gelandet war.

Und gerade, als Pater Damien sich dem Ende seiner Laufbahn näherte, wurde er eine Berühmtheit. Nach und nach hatte sich der Ruf dieses außerordentlichen Mannes verbreitet. Aus Europa, aus Amerika erhielt er mit jedem ankommenden Schiff Zeitungen

und Mazine, in denen von ihm die Rede war. Ein belgischer Journalist nannte ihn den „Helden von Molokai“, ein anderer, ein Franzose den „Apostel der Aussätzigen“. Ein Artikel in einer deutschen Tageszeitung hatte folgende Ueberschrift: „Ihr, die ihr an der Steilküste von Molokai vorüberfahrt, verneigt euch tief!“ Vielleicht glaubte man ihm durch solche Lobpreisung Freude zu machen, doch ärgerten sie ihn nur. Hatte er sich deshalb voll Demut ans Ende der Welt in die Verbannung begeben? Er hätte es vorgezogen, von niemandem, außer von seinem Gott, erkannt zu werden.

Doch diese ungewollte Reklame erwies ihm gute Dienste. Die Feinde, die Neider, mußten die Waffen strecken. Die Verwaltungsbeamten waren gezwungen, sich großzügig zu erweisen. Die Regentin der Inseln, eine großherzige Frau, ließ ihm, nachdem sie das Lepralager besuchte, das Werk des Missionärs bewundert hatte, einen hohen Orden überreichen. So ziemlich von überall her kam Geld an: Spenden, neue, von einem japanischen Arzt erfundene Medikamente, wurden nach Molokai gesandt, um den Versuch zu machen, diesen Helden zu retten. Doch er gab sich keiner Täuschung hin: er wußte, die Stunde war nahe, da der Herr ihn zu sich rufen würde.

Die einzige Sorge, die ihn hätte bedrücken können, war die um sein Werk, doch dieses war gesichert. Helfer kamen an: ein amerikanischer Offizier stellte sich in seinen Dienst, ein belgischer Priester, sein früherer Studienkamerad, Nonnen vor allem, die sich seiner Waisen, um seine Kranken annehmen würden, einer seiner eigenen Brüder, der gleichfalls Mönch geworden war, versprach seine Ankunft. Das Samenkorn, das Pater Damien in die undankbare Erde von Molokai gesenkt hatte, würde nicht mit ihm sterben ... Er konnte getrost scheiden. Und seine letzte Arbeit war, mit dem Bau einer neuen Kirche zu beginnen, für die Zukunft.

Am 15. April 1889 starb er. Der letzte Monat war sehr schmerzhaft gewesen: die Geschwüre hatten sich vervielfacht und waren entsetzlich geworden. Er hatte viel gelitten. Dennoch hatte er, energisch bis zum Schluß, sich gegen das Bett gesträubt, in das ihn seine Freunde bringen wollten, so daß man ihn mit Gewalt niederlegen mußte. Einer seiner letzten Befehle war, alle seine Habe zu verteilen, seine arme persönliche Habe und die Pfund Sterling und Dollars, die er aus den vier Weltgegenden erhalten hatte. Seine letzte Stunde war sanft. Man begrub ihn nach seinem Wunsch abseits vom Dorf, unter dem großen Pandanusbaum, wo er seine erste Nacht verbracht hatte.

Aus dem Werk „Abenteuer“, Verlag Herold, Wien

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