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Der Nachbar am Fenster

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Wenn ich morgens mein Haus verlasse und dem Ausgang der .kleinen Sachgasse zustrebe, in der ich wohne, sitzt mein Nachbar bereits am Fenster und erwartet mich mit seinen Augen. Seit Jahren erwartet er mich so jeden Morgen am Fenster. Er ist ein alter Mann mit gütigem Gesicht und silberweißem Haar. Wenn er lächelt, scheint die Sonne und wenn er trauert, rinnt der Regen.

Zu Beginn unserer Bekanntschaft blickten wir einander scheu in die Augen. Ein wenig später lächelten wir uns an, dann grüßten wir uns und endlich wurden wir vertraute Freunde.

Eines Morgens klagte mir mein Nachbar sein Leid.

„Ich kann nicht gehen. Ich bin lahm. Ich bin wie ein Baum. Immer stehe ich am selben Ort, bin festgewachsen und eingewurzelt. Mein Blickfeld ist klein und meine Welt ist enge.“

Armer Mann! dachte ich und leise fragte ich: „Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?“

Das Antlitz des Alten wurde hell und froh und seine Augen leuchteten.

„Oh“, sagte er. „Wenn Sie so freundlich sein wollten. Sie gehen jeden Morgen in die Stadt. Möchten Sie mir wohl etwas mitbringen?“

„Gern will ich das! Doch was soll es sein?“

„O, nichts, das Ihnen besondere Mühe macht. Nur einige Kleinigkeiten. Was Ihnen der Tag bringt. Ihre kleinen Freuden und Ihre kleinen Schmerzen Ihre alltäglichen Erlebnisse. Wollen Sie das?“

Ich nickte erfreut und versprach es ihm.

„Ich danke Ihnen“, sagte er gerührt. „Leben Sie wohl! Ich werde Sie am Abend erwarten!“ Dann reichte er mir seine linde Greisenhand, hieß mich gehen, und als ich des öfteren zurückblickte, nickte er mir freundlich zu.

Den ganzen Tag über saß mein Nachbar am Fenster und hielt Ausschau. Er hatte scharfe Augen und übersah nichts.

Der alte Mann hatte viele Freunde und fühlte sich nie einsam. Gleich nachdem ich ihn verließ, besuchte ihn eine Taube und f mit ihr teilte er sein Frühstück. Aber auch die Sperlinge kamen jeden Morgen an. sein Fenster und wurden von ihm bewirtet. Dann gab es Ameisen, Käfer, Mücken und Falter, die den alten Mann besuchten und für alle, die an seinem Fenster vorüberkamen, hatte er ein Lächeln und wer es hören wollte, auch ein gutes Wort. Wenn aber der Kuckuck der alten Schwarzwälderuhr in seiner Stube die Mittagsstunde ankündigte, kam auch Röschen von der Schule zurück und an seinem Fenster vorbei. Die flachsblonden Zöpfchen waren zu beiden Seiten seines Köpfchens zu zierlichen Schnecken gelegt und seine großen, runden Kinderaugen blickten scheu zu dem Mann auf, der stets am Fenster saß und ihm freundlich zunickte. In seine kindliche Stirn kerbte sich eine kleine Falte. Die kam vom Nachdenken. Wer mag bloß der alte Mann sein? Warum sitzt er immer so still am Fenster und warum blickt er mich immer so an? dachte es. Die Neugier brannte in ihm und immer wieder wollte es ihn etwas fragen. Eines Tages faßte es Mut und blieb vor seinem Fenster stehen.

„Sag, bist du immer am Fenster?“ fragte es.

Der Greis lächelte milde.

„Ja, immer! Den ganzen, lieben Tag lang . . .“

„Und gehst du nie aus? Gehst nie in die Stadt?“ wollte das Kind wissen.

„Nein, nie. Idi bin immer hier am Fenster. Nur meine Gedanken gehen aus. Die gehen in die Stadt und noch weiter. Gehen überall hin und begleiten die Menschen auf ihren Weg. Auch dich begleiten sie Tag für Tag. Gehen mit dir in die Schule und gehen mit dir nach Hause . .

Aufmerksam lauschte das Kind und die Falte in seiner Stirn vertiefte sich. De Augen blickten verwundert.

„Sag, bist du etwa der liebe Gott?“ fragte scheu das Stimmchen der Kleinen.

Die Frage kam dem Alten unerwartet und seine Wangen röteten sidi. Er räusperte sich verlegen und meinte: „Wie kommst du darauf?“

Das kleine Mädchen wiegte bedächtig den Kopf.

„Weil du so aussiehst! Ich habe didi gleich erkannt!“ Dann lädielte es selig und meinte: „Nun muß ich aber gehen. Meine Mutter wartet schon . . .“

Der alte Mann blickte dem Kind mit feuchten Augen nach und schämte sich.

Oh, dachte er, auf welch sonderbare Gedanken die Kinder heutzutage kommen! Und er ließ seine Augen hinauf wandern zum Himmel. Der war blau und glänzte wie Seide. Und die Sonne schien und irgendwo sang eine Lerche.

Als ich am Abend aus der Stadt heimkehrte, erwartete mich mein Nachbar am Fenster und nickte mir freundlich zu.

„Guten Abend!“ sagie er. „Haben Sie m;r etwas mitgebradit?“

Ich dachte an Monika, die ich heute im Stadtpark traf. Sie erzählte mir,daß sie nun schon zwei Jähre verheiratet sei und bereits ein Mädchen habe. Ihr Gesicht strahlte, als sie von dem Kind erzählte, doch als ich sie fragte, ob sie glücklich wäre, wurden ihre Züge schattig und grau wie ein Tag ohne Sonne.

„Oh“, meinte sie, „ich kann nidit klagen, und wissen Sie, vorige Woche hat meine Kleine den ersten Zahn bekommen — denken Sie nur! — den ersten Zahn!“

Dann dachte idi an Alfred Wendel, der einst mit mir in die Schule ging und den ich auch heute wieder traf. Er hatte ein dickes Gesidit und war sehr behäbig geworden. Seine Haare hatten sich gelichft und seine Augen blickten trübe.

Einmal hatte er gesagt: „Paß auf, ich werde einmal ein Globetrotter. Ganz gewiß! Ich werde nach Afrika reisen, in die Wüste und dort werde ich Löwen jagen und Elefanten und Nashörner . . .“

„Wie geht es dir?“ fragte ich ihn heute, voll Freude, ihn nach langer Zeit wiederzusehen.

„Oh, danke!“ schnaufte er. „Ich bin ganz zufrieden und auch mein Geschäft geht soweit ganz gut. . .“

„Welches Geschäft?“

„Ach, du weißt es nodi gar nicht? Ich habe in der Hauptstraße eine Tuchhandlung. Import und Export. Idi habe mich schön hinaufgearbeitet. Wenn du einmal einen guten Stoff brauchst, komm ruhig zu mir. Für alle Fälle gebe ich dir meine Karte. Übrigens, du kannst dich doch noch an Wilhelm Munthe erinnern? Der wollte doch immer studieren, Doktor oder Professor werden. Den habe ich vorige Woche getroffen. Rate einmal, was der nun geworden ist. Ach, du kommst sicher nicht darauf. Es ist gar nicht auszudenken. Er ist Dompteur beim Zirkus und früher war er gar Tierfänger in Afrika. Na ja, er war ja immer etwas unsolide . . .“

Der Alte blickte nachdenklich und sagte: „Es ist schon ein großes Glück, wenn die Menschen soweit zufrieden sind. Wirklich glücklich sind nur die Kinder . . .“

„Warum nur sie?“ wollte ich wissen.

Mein Nachbar beugte sich aus dem Fenster und näherte seinen Mund meinem Ohr. Geheimnisvoll lächelnd flüsterte er: „Warum? Weil sie nicht zweifeln, sondern glauben!“

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