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Der nächtliche Oast

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Herr Vianney, Pfarrer von Ars, verläßt gegen Mitternacht wie gewöhnlich den Beichtstuhl. Die Kirche ist noch voll Menschen: so viele Seelen, für die er noch da ist. Er ist freilich schläfrig, aber nur im Kopfe; nur sein Denken hat das Bedürfnis nach Entspannung. Denn seine Glieder haben sich daran gewöhnt, von einer bestimmten Stunde an ihre Tätigkeit einzustellen und den Kopf allein wachen zu lassen. Das ist zweifellos die Wirkung einer besonderen Gnade; ohne diese körperliche Entspannung würde es der arme Priester wohl nicht aushalten ... Seit einigen Augenblicken sind übrigens sein Denken, seine Worte, seine Segnungen sozusagen mechanisch; es wäre nicht viel Gutes herausgekommen, hätte er noch weiter dableiben wollen.

Manche der Wartenden geben auf und gehen zu Bett. Die meisten aber wollen ihren Platz in der Reihe nicht verlieren und schlafen an Ort und Stelle, auf einem Stuhl, einer Stufe, einer Bank. Man weiß, daß Herrn Pfarrer Vianneys Nächte nicht sehr lang sind. Es ist sehr dunkel und sehr still. Der Vikar steckt am Eingang zur Sakristei eine frische Kerze auf, eine zweite in der Johanneskapelle, die zugleich Beichtkapelle ist. Da und dort hört man von Zeit zu Zeit das vereinzelte Murmeln eines Beters. Ein tiefer Friede.

Herr Vianney steigt, die Laterne in der Hand, die Stufen zu seinem Pfarrhaus hinauf. Für einen Augenblick fühlt er sich versucht, zu denken, daß die Sünder es gut haben; sie werfen ihre Bürde in die .Abgründe Gottes“, und es ist keine Rede mehr von ihr. Der Abgrund Gottes aber ist der arme Priester, der das alles auf dem Herzen behält, und noch dazu ohne zu klagen. Denn er fürchtet, wenn er klagte, wäre es nicht so sehr um des beleidigten Gottes, als um seiner selbst willen. Wenn Gott so viele Beleidigungen erträgt, kann wohl er deren Geständnis ertragen.

Was ihn augenblicklich beunruhigt, ist, daß die Beichten mehr und mehr eintönig werden. Neun- von zehnmal Zeichen von Gleichgültigkeit oder Lauheit. Bei Seelen ohne Schwung braucht der „Klumpfuß“ nur den Dingen ihren Lauf zu lassen. Der „Böse“ schläft zuviel seit einiger Zeit...

Nun aber, es kann wohl auch sein, Herr Vianney hat einen „großen Fisch“ durch die Maschen gehen lassen, das heißt einen großen Sünder, den er nur tüchtig hätte rütteln müssen, um einen Heiligen aus ihm zu machen; oder vielleicht eine kleine Seele Gottes, deren Schüchternheit sie ihm verborgen hat. Er mißt wieder sich die Schuld bei: er muß immer zuerst sich selbst anklagen. Hat er die Gleichgültigen genug aufgestachelt, die Lauen genug entzündet? Er hat es nicht recht anzufangen gewußt, er wird es morgen besser zu machen suchen.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen, hat er sich auf die Knie geworfen, die Arme in Kreuzesform ausgebreitet. Da kommt ihm dar Gedanke, sich eine strenge Züchtigung aufzuerlegen. Die Geißel mit ihren Knoten ist bei der Hand. Aber wozu? Sein armer Leib ist unverwundbar geworden, und er hat bemerkt, daß er aus diesen Mißhandlungen nur hochmütige Gedanken schöpft, übrigens hat er auch seinem Vikar versprochen, zu schlafen.

Er legt sich auf sein großes Bett, dessen äußerste Dürftigkeit die zugezogenen Vorhänge verhüllen; ein papierdünner Strohsack auf einem Haufen Reisig. Nicht einmal die Schuhe zieht er aus. Die Laterne hat er so aufgehängt, daß sie die Heiligenbilder an den Wänden beleuchtet. Vinzenz von Paul, Franz Regis, die heilige Philomena, Maria Himmelfahrt...

Wenn er nicht schläft, kann er seine Heiligen betrachten. Jber er braucht den Schlaf und nimmt die Ruhepause willig an.

Er hat die Augen geschlossen und seine Seele dem heiligen Schutzengel empfohlen. Einen Augenblick hat er Zeit, in den Schlaf sinkend, die Wohltat desselben zu empfinden und Gott zu danken, daß er ihn für die armen Menschen erfunden hat. Doch kaum hat er das Bewußtsein verloren, als ein Sturm, der in keiner

Weise vorauszusehen gewesen, über das Pfarrhaus hereinbricht, daß dieses vom Giebel bis in die Grundmauern erbebt. Die Rauchfänge heulen, die Schlösser klirren, die Fensterläden schlagen, Ziegel stürzen vom Dach, Fensterscheiben fallen heraus und zersplittern im Hof mitten in einem Rascheln welker Blätter und dürrer Äste... Es hört sich wenigstens so an. Sogar das Bett wird geschüttelt.

Herr Vianney erwacht und versteht. Er macht das Kreuz und sagt leise:

„Das ist er.“

Durch die unversehrten Fenster sieht er den Himmel vollkommen wolkenlos und klar.

Er will wieder einschlafen ... Aber mit einem Male hört der Sturm auf, und gleich darauf ziehen Regimenter vorbei. Zuerst der Marschschritt der Infanterie, genau abgehackt, unablässig, eintausend oder zweitausend Füße zugleich aufstampfend; dann das Geklapper der Kavallerie, im Schritt, im Trab, dann im Galopp, Wiehern, Klingeln der Kiruiketten, Hufschläge — und die Pferde stürmen die Tür. Schließlich die Artillerie wie ein donnernder Strom, wie das Poltern eines einstürzenden Holzhauses, ratternde Lafetten und Munitionswagen, Räderknirschen, Peitschenknallen, Fluchen. Nun ist's, als wollten sich die drei Waffengattungen die Straße streitig machen und drängten sich ums Haus. Sie sprengen das Tor zum Hof, dringen in wildem Durcheinander ein und versuchen mit Kosakengebrüll, sich häuslich einzurichten. Es ist ein richtiger Überfall, und der Lärm sprengt einem den Kopf.

Herr Vianney wirft einen Blick auf die heilige Philomena, seine kleine Heilige. Sie trägt eine Palme in der Hand, sie lächelt. Als sie im Gefängnis war, hörte sie so die römischen Legionen vorüberziehen. Der Gedanke beruhigt ihn und macht ihn taub.

Aber jetzt hört man das winselnde Kratzen des Wirtshausgeigers, das seit zwei Jahren in Ars nicht mehr zu hören war. Bald auf dem Dorfplatz, bald unter dem Fenster, bald auf dem Dachboden, als sei der Fiedler zu Pferde da oben. Er spielt so schlecht, so falsch, so schneidend wie möglich... und der letzte Ton reizt ein irrsinniges Lachen auf, das um die Nußbäume auf dem Platz durch die Münder der Mädchen und Burschen die Runde macht. Ein viel näheres Lachen, das seine, dringt durch die Tür wie ein Bohrer.

Er muß es aufgeben, schlafen zu wollen. Der heilige Franz Regis, der nie gelacht hat, scheint von weitem zu Herrn Vianney zu sagen:'

„Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“

Herr Vianney antwortet:

„Es ist ein gutes Zeichen.“

Aber er merkt, daß er schläfriger ist als je, und versucht, das Ballgetöse nicht zu hören; denn jetzt wird getanzt, und zwar mit einer Raserei, wie sie Ars auch in den schlimmsten Zeiten nicht gekannt hat. Der gute Pfarrer weiß, daß es nur Trug ist, und im tröstlichen Gedanken, daß er in diesem Punkte Satan überwunden hat, schläft er wieder ein.

Gleich darauf macht sich sein Nachbar, der Schmied, an die Arbeit. Zwei kurze Schläge auf den Amboß zur Probe — zwei klingende Schläge wie eine Glocke. Herr Vianney fährt auf. Nichts mehr. Er sinkt zurück. Wieder zwei kurze Schläge. Und — in der Theatersprache —: „Dieselbe Szene noch einmal.“ So zehnmal nacheinander. Kaum ist er in sein Wohlbehagen zurückgesunken — das ihm Gott heute offenbar verwehrt —. reißt, ihn das Klingen des Ambosses wieder hoch. Nun schlägt, er die Augen auf und betrachtet die Muttergottes auf der Gravüre, die von den Engeln in den Himmel gehoben wird, und er betet mit lauter Stimme des Engels des Herrn. Der Schmied gerät in Wut und hämmert mit verdoppelten Schlägen auf ein Dutzend Ambosse zugleich. Aber Herr Vianney hört nur mehr die fröhlichen Schläge seiner zwei Glok-ken in dem Turm, den er ihnen hatte bauen lassen, und die nun den Engel Gabriel verkünden Es mächt nicht viel aus, ob er schläft oder nicht! Es liegt schon eine große Ruhe im Aussprechen dieses Geheimnisses, durch das die Welt erlöst worden ist.

Nun herrscht so tiefes Schweigen nach all dem Lärm, daß es einen andern erschrecken würde. Aber Herr Vianney hat die berechnete Wirkung der Gegensätze schon erfahren. Trotz allem, das Schweigen hält ihn wach.

Wirklich oder nicht — ein kleines Mäusetrippeln auf dem Dachboden. Eine Pause. Eine knarrende Tür. Die Flamme in der Laterne hat sich bewegt. Wieder eine Pause. — Man hört die Schrittchen nicht mehr, aber es kommt jemand die Stiege herauf. Dabei streift er an der Mauer an. Ein Stoß Bücher fällt zu Boden. Eine Stimme ruft hinter der Tür her, dann am Fenster; dann unter dem Bett. Es ist keinmal die gleiche Stimme, aber eine Stimme aus der gleichen Familie. Es ist ein Seufzen und ein Zischeln und ein Näseln in ihr:

„Vianney! Vianney!... Vianney!“

Gut. Er ist da.

Herr Vianney sieht ihn nicht; aber er spürt ihn, wie wenn er ihn sähe, groß oder klein nah oder fern, vor oder hinter sich, rechts oder links, bisweilen so rasch den Plalz wechselnd, daß es den Eindruck macht, als seien es mehrere.

Er flüstert ihm ins rechte Ohr: '„Vianney!“

Er flüstert ihm ins linke Ohr:

„Vianney! — Du wirst nicht schlafen.“

Er lacht. Dann am andern Ende des Zimmers, als ginge er:

„Nein... du bist zu alt... ich lasse dich in Ruhe.“

Aber er geht nicht. Er ist wieder eine Ratte und nagt eine gute Weile am Bettfuß.

Plötzlich gerät er in Zorn; er schnellt durchs Zimmer wie ein Affe, der zuviel getrunken hat; er wirft die Stühle um, und die Stühle fallen wirklich um; er hebt die Kommode, den Tisch, das Bücherfach einen Meter hoch über den Böden und läßt sie mit ihrem ganzen Gewicht wieder fallen; er schlägt mit einem Schlüssel einen Trommelwirbel auf dem Wasserkrug; er läßt die Bilder an der Wand tanzen; er hängt sich an den Bettvorhang; er macht einen Hund, einen Löwen, eine Kuh und schreit aus vollem Halse:

„Vianney! Vianney! Trüffelfresser! Du bist noch nicht tot, aber ich bekomme dich!“

Herr Vianney behält kaltes Blut; er richtet den Blick auf sein Kruzifix, macht das Kreuz und sagt:

„Ich liebe dich, mein Gott.“

Bebend fügt er, zu seinem Besucher gewendet, hinzu:

„Dich — dich verachte ich ... du weißt es wohl.“

Da erwischt ihn der, den er den Klumpfuß nennt, bei den großen Schuhen und schüttelt ihn. Einmal, zweimal, dreimal.

„Gelobt sei'die allerheiligste Dreifaltigkeit!“ sagt Herr Vianney.

Der andere packt ihn bei den Schultern und wirft ihn zu Boden. Herr Vianney antwortet:

„Ich danke Dir, mein Gott.“

Und legt sich wieder zu Bett.

Er wirft ihn ein zweitesmal heraus und schleppt ihn durchs Zimmer. Herr Vianney steigt wieder ins Bett.

Der „Klumpfuß“ schickt sich zu nochmaliger Wiederholung an ... aber diese Nummer drei, die immer nach Nummer zwei kommt, ist ihm entschieden zuwider, Herr Vianney,hat keine Lust mehr zu schlafen; er fühlt, daß der andere über ihn geneigt ist.

„Weiter!“ sagt er lachend.

Denn nach und nach hat er sich wieder erheitert. Er ermißt wieder einmal die Ohnmacht seines Feindes, die Seele ins Leben zu treffen. Sein armer, alter Leib hat schon anderes mitgemacht! Und wenn der „Klumpfuß“ ihn töten würde!

Er denkt auch, daß das ganze Getue das Zeichen eines mächtigen Schreckens im Reiche der Finsternis ist. Wahrscheinlich wird der morgige Tag gut werden. Man wird sich aus der Lauheit aufraffen. Wenn er die unterschiedlichen Gewinne des Aufruhrs abwägt, dessen Opf=r er geworden ist, findet er diesen so eitel, so lächerlich, daß ihn die Anwandlung aufrichtiger Heiterkeit erfaßt.

„Nun, mein armer Kamerad, sagt er zu seinem Verfolger, „du hast mich nicht schlafen lassen. Was willst du mehr? ... Es ist Zeit, daß ich wieder an die Arbeit gehe.“

Der „Klumpfuß“ hat Sinn fürs Komische und lacht auch. Er lacht gelb, aber er lacht. Und dann hört man sein Lachen nicht mehr.

Die Seance hat zwei Stunden gedauert. Herr Vianney erhebt sich; er ist erschöpft. Er nimmt seinen Hut und seine Laterne, und bevor er sich in den Beichtstuhl setzt, dankt er Gott, daß er ihm die großen Dinge, die sich vorbereiten, angezeigt hat, und erbittet von ihm noch so viel an Erleuchtung und Kraft, als ob er ausgezeichnet geschlafen hätte. Aus dem Roman „Die Spiele des Himmels und der Hölle“, mit Bewilligung des Anton-Pustet-Verlages, Graz-Salzburg

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