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Der neue Herder

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Nun liegt das zweibändige Lexikon des Verlags Herder vollständig vor und wir können dem Gesamtwerk das gleiche Lob zollen, das wir auf Grund der früheren Lieferungen an dieser Stelle ausgesprochen haben. Nicht nur in Anbetracht der schwierigen Verhältnisse der deutschen Nachkriegszeit, sondern überhaupt verdient diese enzyklopädische Leistung höchsten Beifall. Unter den Artikeln, die in diesem Band Aufmerksamkeit auf sich lenken, ragt der über Österreich (Spalte 3125 ff. und Beilage) hervor. Auf gedrängtem Raum ist er prall von wesentlichen Einsichten. „Österreichs Weg“ betitelt sich ein auch in der Form meisterhafter Essai über das Wesen dieses Landes und seiner Bewohner. Er zeigt, v/ie sehr ein modernes Lexikon über die trockene Geistlosigkeit früherer Nachschlagebücher hinauszustreben vermag. Da lesen wir von dem „weltumfassenden Heilskosmos des Barock“. „Ohne ihn sind der Wiener Prater, der Wiener Wurstl, der österreichische Humor mit seinem dunklen Untergrund, der typisch österreichische Natur- und Vorsehungsglaube (noch erhalten im Anzengruberschen ,Es kann dir nix g'schehn') ebensowenig verständlich wie das berühmte .Fortwurschteln', das Zögern und Zaudern in innen- und außenpolitischen Fragen, das Wissen um die .Schwierigkeiten' und Gebrechlichkeiten alles Irdischen, Hier fußen sowohl die .staatspolitische österreichische Milde' des 17. Jahrhunderts, das Staatstheater des österreichischen Barock und seine prunkvollen Begräbnisriten wie auch jene Mischung von Ironie, Skepsis, Resignation, Welttrauer (nicht Weltschmerz) und graziös beschwingter Leichtigkeit im Uberwinden von Katastrophen, jenes Timbre der Seele, das nicht nur die Wienerin, seit Fanny Elßler, sondern den Österreicher ,als einen charakteristischen Typus abendländischer Existenzhaltung' geschaffen haben.“

Nicht alle Artikel sind von so gehältiger Weisheit und Umsicht. Wir ermessen aber das allgemeine Niveau des Herderschen Lexikons an den Gipfeln, zu denen es emporreicht. Hervorragend sind die Schlag worte Pflanze, Radiotechnik, Rasse, Relativitätstheorie, Renaissance (mit prächtigem Bildermaterial), Romantik, Rundfunk, Schweiz, Skandinavische. Kunst, Sonne, Sprache, Sterne, Theater, Tier, Tod, Vereinigte Staaten, Weltkrieg (sehr sachlich), Wetter, Zeit. Unter den Biographien, ausgezeichnet in ihrer Knappheit, die von Pascal, St. Paulus, Planck, Piaton, Raffael, Rembrandt, Rilke, Rubens, Schiller, Schubert, Shakespeare, Sokrates, Stalin (ein Muster zugleich bewundernder und kritischer Würdigung aus diametral entgegengesetztem Standort), Strindberg, Tizian, Voltaire. Richard. Wagner. Nur selten scheinen uns die Einzelpersonen gewidmeten Artikel danebenzugreifen. Das trifft etwa in den Dimensionen bei Racine, F. D. Roosevelt und Jean-Jacques Rousseau zu, deren Bedeutung einläßlichere Darstellung erfordert hätte. Gelegentlich empfinden wir Personen, deren Geltung allzu sehr an den Tag geknüpft ist, als überflüssig (Nomina sunt odiosa!). Mitunter greift der Sonderbearbeiter daneben, indem er Wichtige übersieht und Unnötige einbezieht. So geschehen zum Beispiel bei der neueren polnischen Literatur, wo die unbeträchtliche Rodziewicz erscheint, während der größte Prosaschriftsteller Polens im 20. Jahrhundert, Zeromskl, der hervorragendste (dazu noch katholische) Dramatiker Rostworowski und der ausgezeichnetste, ebenfalls katholische, Lyriker Staff fehlen. Vorbehalte melden wir zum Artikel über russische Literatur an. Aus jüngster Zeit sind zum Beispiel Fadeev und Simonov, bei der Kinderliteratur deren bedeutendster Vertreter Marücak nicht erwähnt. Hie und da wäre zu sonst guten biographischen Notizen Unübergehbares nachzutragen. So bei Paasikivi seine schwedische Abkunft (Hellsten!), bei Petöfi seine slawische Abstammung (Petrovic) und ein paar Sätze, aus denen seine Rolle als größter Dichter seiner Nation hervorleuchtet. In der allzu knappen Notiz über die Poniatowski steht der helle Unsinn, daß diese urpolnische Familie italienischer Herkunft sei, eine Schmeichelei gefäliger Skribenten des 18. Jahrhunderts, die jeder Grundlage entbehrt. Der französische Außenminister spricht sich Schumann aus (und nicht Schümän), Bei Josef Unger wäre seine Tätigkeit als Minister und als Präsident des Reichsgerichts zu erwähnen, bei Wyschin-skij (VySinskij, Wyszynski) seine Abkunft aus polnischem Adel.

Weil wir nun schon am Ergänzen sind, sei eine Liste der Namen gegeben, die wir vermissen und die für eine nächste Auflage auch in ein so knappes zweibändiges Lexikon hdneingehörten: der türkische Feldherr Osman Pascha („Held von Plevna“), der japanische Marschall Oyama, der französische Dramatiker Pagnol, der korsische Freiheitsheld Paoli, der römische Jurist Papinian, der griechische Marschall Papagos, der rumänische Staatspräsident Parhon, der irische Freiheitskämpfer Parnsll, der griechische Staatsmann Pangalos,

, die Sängerin Patti, der amerikanische Heerführer General Patton, Marschall Pelissier, der Oberkommandant der amerikanischen Armee im ersten Weltkrieg, General Pershing, der bayrische Ministerpräsident v. d. Pfordten, der französische Staatsmann Pichon, der belgische Erstminister Pierlot, der jugoslawische Politiker und marxistische Theoretiker Pijade, die beiden ausgezeichneten belgischen Historiker Henri und Jacques Pirenne, der französische Ministerpräsident Pleven, der griechische Regierungschef General Plastiras, der philippinische Präsident Quezon, der österreichische Politiker Raab, mehrere Radziwill, der jugoslawische Politiker Randolic:, der ungarische Diktator Räkosi, sein wichtigster Gefährte Revai, Vizekanzler Schärf, der polnische Regierungschef General Sikorski, der große polnische Prediger (Polens Bossuet) Skarga, der ungarische Historiker und Diplomat Szekfü, der magyarische Quisling Szälasi,. der gewesene ungarische Staatspräsident Szakasits und sein Vorgänger Tildy, der unglückliche und edle Paul Teleki, der bulgarische Diktator Tschervenkov (Cervenkov), der Sowjetmarschall Tuchatschewskij (Tucha-cevskij), Oberbefehlshaber 1920, dann hingerichtet, der Sowjethistoriker Tarle und der berühmte russische Naturforscher und Denker Timirjazev, der Präsident der Sowjetakademie der Wissenschaften Vavrilov, der japanische Admiral Togo und die Syogun-Familie Toku-gawa, der belgische Staatsmann Vandervolde, der rumänische Agrarführer Vayda-Voevod, Kardinal Verdier, der österreichische Ministerpräsident Windischgrätz, der polnische Staatsmann Marquis Wielopolski, der polnische Bauernführer Witos, der russische Maler Wereschtschagin (VereScagin), die polnischen Heerführer und Staatsmänner Jan Zamoyski und Zolkiewski, der Zionist Zabotinskij.

Zuletzt noch zwei grundsätzliche 3itten, die wir für die kommenden Neuauflagen anmelden: Es mögen grundsätzlich stets Tag und Monat der Geburt und des Todes der durch biographische Artikel geehrten Personen angegeben werden, und die Namen seien in der richtigen Originalschreibweise zu bieten, beziehungsweise in der üblichen wissenschaftlichen Transkription, neben der die annähernde deutsche Aussprache zu bezeichnen wäre.

Unsere Besprechung sei mit nochmaliger bewundernder Anerkennung für ein Werk geschlossen, das die meisten Hindernisse glänzend besiegt hat und an dem Absicht, Ansicht und Durchführung gleichermaßen zu bejahen sind, Lücken und 'deine Unvoll-kommenheiten sind unvermeidlich, wo es sich um eine derartige Uberfülle eines gewaltigen Stoffes handelt. Daß beides, die Lücken und die Unvollkommenheiten so selten sind, ist erstaunlich. Daß ihnen so mannigfache Vorzüge gegenübertreten, entscheidet über den dauernden, ungewöhnlichen Wert des Neuen Herder, der nicht nur dem Zeitungsleser und dem Durchschnittsmenschen willkommenen knappen Aufschluß gewährt, sondern auch den Fachmann oft genug durch selbständlige Auffassung und originelle Formulierung überrascht.

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