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Der neue „Jedermann“

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Als ein Ereignis von hoher kultureller und volksbildnerischer Bedeutung, das auch in der Theatergeschichte Wiens seine Stellung beansprucht, muß die Aufführung des Volks theaters „Der Prozeß" angesehen werden. Die von Gide und Bairault besorgte Dramatisierung wird uns, in einer deutschen Bearbeitung von Joseph Glücksmann, durch Epp als Regisseur und Manker als Bühnenbildner mit Hilfe des ganzen Ensembles dieser Bühne' (36 Personen, Herr K.: Joseph Hendrichs) vorgestellt. Was wenige für möglich hielten, wird hier Ereignis: Kafkas Innendimension, an sich auf keine äußere Bühne dieser Welt transponierbar, so wenig wie die unsichtbare Kirche der Spiritualen, wie Kierkegaards Einzelner, wird doch vorstellbar durch den transparenten Realismus dieser Darbietung,

Was Brecht in seinen besten Stücken versucht, gelingt hier: dem „Volk", das heißt jener hartherzigen Masse, deren Teil auch wir sind, etwas von dem begreiflich zu machen, was da heißt: Mitverantwortung für alles, was in der menschlichen Gesellschaft heute geschieht. — Der „Inhalt“ des „Prozesses": Jüngstes Gericht heute; ein honetter, gutaussehender Durchschnittsmensch, Herr K. (das heißt: Kafka, eine Nummer aus dem Adreßbuch, und: du und ich), Bankbeamter, erfährt sich plötzlich in einen Prozeß verwickelt, in dem er weder Gerichtshof, Ankläger, Richter noch Anklage zu Gesicht bekommt. Skurrile Gestalten, Beamte, Dirnen, Verteidiger, Künstler, Verwandte, Freunde, Kollegen — alle entpuppen sich im Laufe dieses Prozesses, der nichts anderes ist als sein Leben, in das langsam das Bewußtsein seiner Mitschuld, Mitverantwortung für alles, was geschieht, einbricht, als Diener des Gerichts. Was aber sind das für Diener? Büttel, kleine Unverantwortliche und Befehlsempfänger, korrupte Beamte; — es scheint also, als habe sich die göttliche Gerechtigkeit gerade das elendeste Gesindel ausgesucht, ihre Befehle dem nichthörenden und nichtsehenden Menschen zu mitteln. Gerechtigkeit? Gott? Bis nah an seinen letzten Herzschlag zweifelt Herr K. an ihnen, fühlt sich als Opfer einer infernalischen Maschine, in der Gier, Neid, Tollheit und Verbrechen anderer (es sind ja immer „die anderen “) ihn zerstückeln. Hingerichtet durch zwei imaginäre Gestalten, die nichts anderes sind als seine Schuld, präsentiert durch mitspielende Schuldgefährten, sieht er brechenden Auges ins Tor der Freiheit: der Erlösung aus dem Prozeß durch Annahme des Opfers. — Diese Andeutung des „Inhalts" möge vorerst genügen; nur dies muß hier noch bereits vermerkt werden: dieses Stück und seine Aufführung im Volkstheater ist die echte, innere, zeit- und stoffkonsequente Weiterbildung des spanischen Mysteriendra- mas und des österreichischen Spätbarockspiels, also auch Nestroys und Raimunds. Hier ist der neue „Jedermann !

Als Vorfeier zum 9 0. Geburtstag G. Hauptmanns bringt die Josefstadt „Eiga", das B u r g t h e a t e r „Die Rat-

ten". — Grillparzers „Kloster von Sendomir" ist eine Novelle, zu vergleichen mit Kleists Meisterwerken. Das Wissen der Romantik um die Zusammenhänge von Nacht Schuld, Sühne verbindet sich hier mit dem harten Bewußtsein des josephinischen Jansenisten von der düsteren Schwere der Konkupiszenz: Eiga ist der östliche Mensch, der zwischen Fleisch und Gewissen zerbricht, ein Exerzierbeispiel dafür, was das Spätmittelalter und die Reformation unter augustinischer Erbschuld verstanden haben. Der Mensch ist ein Stück Gier, hemmungslos seinem Trieb verfallen, nur wenigen wird Rettung- durch frühe oder späte Entsagung. Hinter dem polnischen Kloster, in dem Graf Starschenski den Mord an Weib, Kind und Nebenbuhler sühnt, stehen die Ruinen Port-Royals und Grillparzers unerlöster innerer Dual. — Es ist also verständlich, wenn eine Wiener Bühne Hauptmanns Drama nach dieser österreichischen Vorlage als Memorial gewählt hat. Leider ist Hauptmanns Nachdichtung und Dramatisierung zu schwach, um heute noch bestehen zu können. Schlicht und sehr deutlich wird hier sichtbar, daß Hauptmann weder als Denker noch als Metaphysiker stark genug war, die bei Grillparzer angedeuteten Linien auszuzeichnen, geschweige denn den Untergrund zu erfassen. So wird ein romantizistisches Spiel von einer Schauernacht im alten Klosterturm, mit- Mönchsgespenst, verwunschener Gräfin Trunk, Säbel, Minne, Rache und Sühntod, Die Josefstadt kann nichts dafür: eine prächtig bemühte Aufführung, Grete Zimmer und Heinz Woester sind neben den glänzend besetzten Chargen mit Meisterleistungen zu nennen.

„Die Ratten" in der Burg! Bedeutsam wahrhaftig, die Wahl gerade dieses Dramas: handelt es sich hier doch um nicht mehr und nicht weniger als die einzige bühnenmäßige Gesamtdarstellung der innerdeutschenTragödie 1871—1914. Der falsche Glanz im Spiegelsaal von Versailles, der Kaiserproklamation (vor der dem alten preußischen König mit Recht graute) leitet jene Überfülle theatralischer Projekte und Produktionen ein, die sich immer hemmungsloser entfesselnd, über das ludo- vicische München (König Ludwigs und Wagners Kulturmaskeraden) zu Nietzsches Endzeitpathetik und Wilhelms II. Hunnenrede führen. Eine Atmosphäre des „Theaters“ Sein und Schein, auf der Bühne der Politik, der Gesellschaft, der Wissenschaft und Religion. — Hauptmann fängt nun, mit dem genialen Griff des Dramatikers, die größten und weitesten Perspektiven der Zeit und ihrer Geschichte in scheinbar simpeln Historien, in Personalien ein, wie sie kein Ballkalender, kein Börsen- und kein Wehrmachtbericht vermeldet. Ein verkrachter Theaterdirektor, der auf dem Dachboden Schauspielkunst und Kultur unterrichtet, ein junger Theologe, der dem falschgewordenen Pathos väterlicher Theologie in die reine Sphäre, in die Wahrheit und Wachheit der Kunst entfliehen will (der die Bühne also als existentielle Predigtform begreift), ein Maurerpolier, der sich gerade anschickt, den schweren Weg der deutschen Arbeiterschaft aus preußischer Kaserne, vom Grab Lasalles, zu Bebel und Liebknecht zu gehen, dabei über Arbeit und Lebenslust sein Weib ve'rgessen hat: diese große tragische Heldin, diese deutsche Medea, die da nun auf den Brettern steht als ergreifendes Symbol für die gehemmten, gebundenen, verbogenen, mißleiteten Kräfte ihres ganzen Volkes. Noch ist der Historiker nicht erschienen, der dieses deutsche Drama wirklich dargestellt hat: wie da, in Arbeit und unsäglicher Mühe, ein Volk sich erhebt, ein Riese an Kräften, und an Rhein und Ruhr, in Ostland und im Westen gewaltige Energien entfaltet, zur Verfügung stellt: einer „Führungs“-Schicht von Politikern, Predigern und Professoren, die alle und insgesamt ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren. So daß, als Strom von Blut und Eisen, Zorn, Verzweiflung und verzweifeltem Glauben, seine Kräfte auf die Schlachtfelder der Weltkriege entlassen wurden. Der Dichter Hauptmann aber sieht diese Tragödie seines Volkes, dieses einfachen, zähen, arbeitswilligen, strebsamen Volkes kleiner Leute, provinzieller Existenzen zusammen in den erschütternden Bildern der „Ratten“. Erstes und letztes Symbol seiner Gesichte: die Schuld an dem polnischen Mädchen, der „Berlin" zuerst das Kind, dann das Leben nimmt. (Die Schuld am polnischen Volk ist die Erbsünde preußisch-deutscher Geschichte — sie selbst ist aber nur Zeichen der Schuld am eigenen Volk, das 1525, 1813, 1870, 1933 um seine Befreiung

betrogen wurde, so heiß diese auch von Kant und andern ersehnt wurde.)

Leider wird die Aufführung der Burg (Regie: Viertel) dieser einmaligen Gelegenheit, die Tragödie Zwischendeutschlands (zwischen Mittelalter und 20. Jahrhundert) in ihrer Ganzheit, Geschlossenheit, gedanklichen und nicht zuletzt atmosphärischen Dichte zu präsentieren, nicht ganz gerecht. Die Aufführung zerfällt in Einzelleistungen, die teilweise ganz vorzüglich sind (Käthe Dorsch, Balser, Hörbiger), es fehlt aber jene alles durchdringende Gesamtformung, die gerade die besten Aufführungen der Burg in den letzten Jahren so sehenswert machten. Jene erregende Penetranz, die vom Ritterpanzer bis zum Kinderwagen, von der Butterstulle bis zum Spind, vom Buckel des Mörders bis zum Lächeln der Direktorstochter alles und jedes, das Haupt- und Nebensächlichste (hier oft durchaus gleichrangig) hier einbegreifen müßte in einen großen Dienst, das fehlt hier, leider. Gehalt des Stücks und Einzelleistung verpflichten dennoch jeden an Zeit und Welt Interessierten, die Aufführung zu sehen.

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