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DER NEUE KALENDER

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Obwohl der Gregorianische Kalender den Julianischen schon seit Jahren ersetzte, kümmerten sich die orthodoxen Bauern der Moldau nicht darum und feierten ihre Heiligen so, wie es der althergebrachte Brauch vorschrieb: 13 Tage später. Das führte zu mancherlei Ärgernis. Sogar die jüngeren Leute, die bei der Einführung der neuen Zeitrechnung noch gar nicht geboren waren, bezeichneten sie als „gottlose Neuerung“.

An einem Tag im März, dem neunten dieses unguten Monats, der mit seinem Schneeregen und flüchtigen Sonnenstrahlen nicht mehr ganz zum Winter und noch nicht zum Frühling gehört, standen die Bauern vor der Kirche. Sie froren. Nässe rieselte von den Schafpelzen in die Pfützen, in denen ihre Bundschuhe versanken. Vom Zwiebelturm bimmelte die Glocke, eintönig wie das Tropfen des Regens auf dem Blechdach.

Die Dörfler sahen böse unter ihren Fellmützen hervor. Die Weiber, Köpfe und Schultern in schwarze Wolltücher vermummt, drängten sich ängstlich hinter ihren Männern, und keine wagte zu sprechen.

Als die Glocke endlich schwieg, glich ihr letzter Ton dem weinerlichen Greinen eines Kindes. Es wäre nun an der Zeit gewesen, in die Kirche zu gehen, aber niemand rührte sich vom Fleck. Gleich einer Herde träger Rinder standen die Bauern unter dem Schauer.

Die Kirchentür öffnete sich. Der Pope — ein junger Mann mit bartlosem Gesicht und dunklen Augen — trat heraus. „Habt ihr die Glocke nicht gehört? Heute ist der Tag der 40 Märtyrer. Kommt zum Gottesdienst!“

Durch die Menge ging es wie Murren, die Opanken platschten auf dem weichen Boden. Dann wurde es wieder still.

„Nun?“ Die Stimme des Geistlichen klang ungeduldig.

Der Dorfälteste trat vor. „Heute ist kein Feiertag, und die Glocke läutet zu Unrecht!“ Die Augen unter den stachligen Brauen funkelten die schmächtige Gestalt im Meßgewand' an. „Ihr könnt den Kalender ändern soviel ihr wollt — die Tage des Jahres bleiben doch die gleichen! Wenn wir zu den richtigen 40 Märtyrern das erste Saatkorn in die Erde legen, können wir mit Gottes Hilfe am Johannistag ernten. Tun wir es aber heute, dann werden die Ähren wenig Körner tragen.“

„Ihr guten Leute“ — der Pope zeigte jene Sanftmut, die ihm sein Amt vorschrieb —, „ihr müßt euch damit abfinden! Es ist ein Beschluß der Synode!“

Der Alte richtete sich steif auf. „Wer ist die Synode? Bloß Menschen! Aber der Kalender ist von Gott! Die Bäume grünen und welken nach der alten Ordnung. Selbst die Tiere richten sich darnach. Kehren nicht die Schwalben am Verkündigungstag wieder? Der Kuckuck ruft zu Christi Himmelfahrt und zum heiligen Elias. Wie sollen wir wissen, woran wir sind, wenn ihr uns den Kalender nehmt? Diese Änderung hat der Böse erfunden!“

„Ja, der Teufel!“ schrien die Weiber. „Alle kommen wir dadurch ins Unglück!“

Der Pope wurde blaß vor Erregung. Nicht umsonst hatte ihn der Bischof von Husch gewarnt: „Du wirst dort Geduld brauchen, viel Geduld!“

Er wollte zu einer längeren Rede ansetzen, doch der Dorf-alte ließ ihn nicht zu Wort kommen: „In der Auferstehungsnacht schlägt eine Flamme aus dem Heiligen Grab. In dem Jahr, als sie den neuen Kalender angefangen haben, da haben die Christen umsonst 13 Tage früher auf das Licht gewartet. Gott hat ein Zeichen gegeben! Wird seitdem das Osterfest bei uns nicht noch immer nach dem alten Kalender gefeiert?“

Der Pope zuckte die Achseln und betrat die Kirche. Bald darauf ertönte sein monotoner Gesang. Er hielt den Gottesdienst zu Ehren der 40 Märtyrer, wie es die Kirche am 10. März vorschreibt. Die Bauern hörten das Klirren der Meßgeräte, Weihrauch wehte aus der halboffenen Tür. „Gehen wir nach Hause!“ gebot der Dorfälteste, und alle gehorchten.

Der Geistliche ritt nach einer Stunde davon. Die Geräusche von werktags — Holzhacken, Maisrebeln, Webstuhlgeklapper — klangen ihm höhnisch nach. An der Gemarkung der Gemeinde hielt er sein Pferd an. Der Wind hatte den Himmel reingefegt, ein Schwärm Krähen strich darunter hin. Bald kam der Frühling mit dem Sankt-Georgs-Tag, dem heiligen Konstantin und Elena. Was geschah, wenn auch dann keiner in die Kirche kam? Er stieg aus dem Sattel und schritt langsam neben seinem Pferd einher. „Sicher wird der Bischof von dem schimpflichen Vorfall erfahren, mich abberufen und in ein Kloster verbannen“, dachte er. Bei dieser Vorstellung malte sich Niedergeschlagenheit auf seinen Zügen. Was nützten Pflichteifer und Überzeugung bei diesen Dickköpfen!

Eine gebückte Gestalt schwankte den Weg heran. Es war Pribeagu, ein alter Mönch, der, aus einem längst vergessenen Grund aus der Gemeinschaft seines Klosters gewiesen, bettelnd durch die Dörfer zog.

„He, Pribeagu!“ rief der Pope ihn an und deutete tadelnd auf den löcherigen Pelz, die zerfranste, braune Kutte. „Findest du nicht, daß es eine Schande ist, dein Amt so zu erniedrigen? Auch du hast einmal die Weihen erhalten.“ Er schnupperte. „Nach Schnaps riechst du auch!“

In den pfiffigen Augen des Alten blitzte es vergnügt: „Die Zuika ist bei diesem Wetter eine wahre Gottesgabe, und das Amt kann überall heilig sein. Ich helfe 'den Leuten beim Beten, damit sie den Kampf gegen den Unreinen leichter bestehen. Dafür geben sie mir Geschenke. Ist das gegen die Gebote? Doch mir scheint, du hast heute nicht viel Gutes im Dorf erlebt!“

Der Jüngere räusperte sich ärgerlich. „Woher weißt du das?“

„Das ist nicht schwer zu erraten. Die 40 Märtyrer fast zwei Wochen früher feiern, das kannst du den Bauern nicht zumuten!“ Er schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Die Synode will, daß jetzt nur der neue Kalender gilt.“

„Und wenn sich die Bauern nicht darum kümmern?“

„Ich werde sie dazu zwingen!“

Der Bettelmönch lachte: „Wie denn?“

„Ich bringe die Gendarmen!“

Das verwitterte Männchen sah sich entsetzt um, als kämen die Uniformierten schon ins Dorf geritten: „Willst du deine Lämmerherde dem Bösen in den Rachen treiben?“ rief er vorwurfsvoll.

„Aber was soll ich bloß tun! Rate mir doch!“ Es lag etwas so Hilfloses in der Stimme des Popen, daß der Alte schmunzelte. In seiner Bedrängnis ging der junge Geistliche sogar so weit, die Hand des zerlumpten Mönches zu ergreifen: „Hilf mir! Du kennst die Leute besser. Sie hören auf dich.“

Pribeagu schien zu überlegen. „Weder der Bischof noch die Synode können hier etwas ausrichten“, sagte er von oben herab. „Wenn ich etwas tue, so geschieht es, weil du mir leid tust. Aber...“ Er kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr und deutete auf eine Wolkenwand. „Es wird gleich wieder regnen!“

Der Pope nickte und lehnte sich frierend an den Leib seines struppigen Pferdchens. „Sag schon!“ drängte er.

Pribeagu schnalzte mit der Zunge. „Eine Zuika wäre jetzt nicht schlecht! So wie ich denken sie alle.“ Er wies mit dem borstigen Kinn auf die Strohdächer. „Gibst du ihnen den üblichen St.-Georgs-Schnaps, so werden sie kommen, und die Heiligen ärgern sich bestimmt nicht, wenn wir sie zweimal feiern — du nach dem neuen und ich nach dem alten Kalender! Bring jedesmal, wenn die Reihe an dir ist, ein paar Flaschen mit. Das übrige laß mich machen!“

Der Regen setzte gleich einer Sturzflut ein, und sie hasteten auseinander.

Am 23. April, dem neuen Georgstag, brauchte die Glocke nicht lange zu mahnen. Die Bauern drängten sich frohgelaunt ins Gotteshaus. Der Frühling hatte seinen grünen Teppich ausgebreitet, die ärmlichsten Schlehenbüsche blühten, und es gab keine häßlichen Mädchen mehr. Vogelgezwitscher drang durch die Kirchenfenster und mischte sich in die Gesänge und Litaneien.

Pribeagu wartete vor der Tür. Er hatte eine umgestürzte Kiste vor sich aufgestellt, auf der Gläser und Flaschen standen. Jeder Bauer, der nach dem Gottesdienst vorbeikam, bekam ein Gläschen Zuika, die Weiber ein halbes, und den alten Leuten, die heranhumpelten, vergönnte der Bettelmönch einen Schluck. Er selbst trank jedem zu: „Du sollst leben, ihr alle sollt leben!“

Ein schöner Tag und ein guter Feiertag, trotz allem, wenn auch der richtige Sankt Georg erst 13 Tage später von Parinte Pribeagu, wie ihn die Dörfler achtungsvoll nannten, gefeiert werden sollte.

Der Pope spendete der Gemeinde erleichtert seinen Segen, ging dann auf den alten Mönch zu und umarmte ihn. Sie tranken aus einem Glas und wurden immer fröhlicher. „Ohne dich, mein Guter, hätte ich wirklich nicht gewußt...“

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