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Der Orden von Downingstreet

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Es gehört in England zum guten Ton, über die Männer vom auswärtigen Dienst, für den man im Jahr beinahe 200 Millionen Schilling ausgibt, in einer ironisch-distanzierten, aber doch auch familiären Weise zu sprechen. „Foreign Office types“ heißen sie, und sie sind längst in die Karikatur eingegangen. Man soll sich davon nicht täuschen lassen, man soll auch gelegentliche Ausfälle einer fast unsinnigen Gehässigkeit nicht für bare Münze nehmen. Wenn etwa Malcolm Muggeridge, der begabte Herausgeber eines verjüngten „Punch“, unlängst schrieb: „Ich bin der Meinung, daß das Verschwinden von MacLean und Burgess für uns äußerst vorteilhaft war, und wenn aus keinem anderen Grund, so aus dem einen, daß ihre Trunksucht und Abnormität, wie es nun einmal ums Foreign Office bestellt ist, den beiden ein immer glorioseres Avancement garantiert hätte“, so bedeutet das noch keinesfalls, daß er die heimliche Bewunderung des Landes für seine Diplomaten nicht teilt; es ist viel wahrscheinlicher, daß dieser unausrottbare Respekt vor einem Haltungsideal ins Haßgefilde verdrängt wurde. Denn der englische Diplomat: lässig, einfach, schon in der Kleidung die Zugehörigkeit zum illustren Orden der Downingstreet verratend, korrekt, aber von einer Korrektheit, die völlig natürlich wirkt, dabei doch imstande, es mit den geschickten, immer ein wenig suspekten Ausländern aufzunehmen, stellt zweifelsohne die Ausformung vieler Tugenden dar. die jedermann, ob er nun in der Nation weit rechts oder weit links steht, anerkennt und bewundert. Man muß dies im Auge behalten, um die Reaktion des Publikums anläßlich des Abfalls der beiden Diplomaten, die erst jetzt, da so viele Einzelheiten enthüllt wurden, ins Bewußtsein gedrungen ist, zu verstehen. Man ist tief in seinem Stolz getroffen und wäre in diesem Gefühl der Verletztheit durchaus bereit, das Idol, das man so lange angebetet, zu zertrümmern, ja selbst die Fundamente, auf denen es gestanden, zu zerstören. So kommt es, daß vieles, was gesagt und geschrieben wurde, auf den ersten Blick einen höchst unvernünftigen Eindruck macht, ja manchmal ein bißchen komisch wirkt. Stockkonservative Kreise erörtern etwa mit Feuereifer, ob das Uebel nicht daher komme, daß die Jünger des F. O. — wer etwas auf sich hält, benutzt nur diese beiden Buchstaben — sich allzu ausschließlich aus einer bestimmten Gesellschafisschichte rekrutieren,-oh- nicht die engen Beziehungen innerhalb des Korps schädlich seien und man nicht gut daran täte, den Einfluß des „Establishment“ (so hat der ebenfalls durchaus konservative „Spectator“ jene kleine Führungsschichte getauft, deren Mitglieder sich immer wieder in den verschiedensten Macht-, Kontroll- und Einflußpositionen begegnen) drastisch zu reduzieren. Ja, man hat sogar erwogen, den Außendienst in den allgemeinen Verwaltungskörper einzuschmelzen, in eine Organisation also, die, wenn man die Gemeinden berücksichtigt, rund 1,3 Millionen Menschen umfaßt, während in der Landwirtschaft und Fischerei nur 1,1 Millionen, im Bergbau nur 792.000 Menschen beschäftigt werden. Offenbar sollte also der Apparat für die Verfehlungen seiner Mitglieder bestraft werden.

Der unbefangene Betrachter entdeckt dabei zunächst einmal, daß in dem Fall MacLean-Burgess die Verantwortung des „Establishment“ 50 Prozent keinesfalls übersteigen kann. Burgess kam nämlich als Outsider und Schützling eines sozialistischen Staatssekretärs in den Orden des F. O.; da er sich daselbst nicht bewährt hat, wäre es vielleicht richtig gewesen, ihn schon früher auszuschließen, doch ist dies ein Vorwurf ganz anderer Art. Sodann drängt sich der Gedanke auf, doch einmal festzustellen, welche Regierungsorganisation sich bisher in der westlichen Welt gegen den Verratsbazillus besonders anfällig und welche sich als relativ immun erwiesen haben. Dabei zeigt sich völlig eindeutig: Je jünger eine Organisation ist, über je weniger Tradition sie verfügt und je größer sie aufgezogen werden mußte, desto größer auch die Chance einer Infizierung. Die Randorganisationen des Rooseveltschen „New Deal“ waren wesentlich gefährdeter als der Kern der alten Verwaltung oder das State Department, nach seinerzeitigen Angaben Lord Vansittarts war im englischen Kriegsministerium die Infiltration größer als in der Admiralität, die neuaufgezogenen nuklearen Forschungsinstitute haben mehr Abtrünnige in ihren Reihen gesehen als die Zweige der orthodoxen Wissenschaften; solche Beispiele ließen sich unschwer vermehren. Daraus ergibt sich, daß ein Verschmelzen des „Foreign Service“ mit dem großen „Civil Service“ den Verratskoeffizienten nicht vermindern, die Ueberwachung aber schwieriger machen würde. Bereits im Falle MacLean war es, als einmal entdeckt wurde, daß Nachrichten gegen den Osten durchsickern — Eden hat diese Entdeckung einen „fast unglaublichen Akt beruflichen Spitzen-

könnens genannt“ und somit darauf hingewiesen, daß der Geheimdienst auch seine großen Stunden hatte —, notwendig, rund 6000 Personen zu überprüfen, bis sich der Verdacht auf eine Person, eben MacLean, verdichtete, ohne daß indes die Beweise für ein richterliches Verfahren ausgereicht hätten. Eine weitere Vergrößerung dieses Kreises hätte den Geheimdienst wahrscheinlich vor kaum mehr zu lösende Probleme gestellt. Es ergibt sich also, daß der behauptete Einfluß des „Establishments“ auf die Rekrutierung für den auswärtigen Dienst die Verratsanfälligkeit nicht vergrößern, schlimmstenfalls eine Geneigtheit zum Vertuschen mit sich bringen könnte. Aber wie steht es nun überhaupt um diesen Einfluß? Muß man in der Tat einer bestimmten Gesellschaftsschichte angehören, um ins F. O. zu gelangen, oder gehört man ihr nur meistens an; wir werden sehen, daß diese Unterscheidung keinesfalls überspitzt ist.

Bis etwa 1870 gab es in England, wie überall sonst, das Gönnerprinzip. Wollte man bestallt werden, so brauchte man einen Protektor, der einen mit dem nötigen Nachdruck befürwortete. Gladstone brach mit diesem Brauch und führte das Wettbewerbsprinzip ein, über dessen faire Anwendung seither die „Civil Service Comis-sion“ zu wachen hat. Damit sollten zwei Ziele erreicht werden: 1. eine gerechte Verteilung der Stellen und 2. die Auswahl der Fähigsten für einen bestimmten Beruf. Tatsächlich bewirkte der Entschluß eine Reinigung der öffentlichen Atmosphäre, Disraelis Bedenken erwiesen sich als ungerechtfertigt. Sir Stanley Leathes, einer der ersten Vorsitzenden der Kommission, hat es optimistisch in den Worten zusammengefaßt: „Es gibt noch immer ein bißchen Glück und etwas Irrtum, aber das Schicksal des Kandidaten liegt nun in seiner eigenen Hand.“ So einfach war die Lage aber nun wieder nicht, ja es mag heute füglich bezweifelt werden, ob die beiden Ziele völlig erreicht werden konnten. Was zunächst das Wettbewerbsprinzip anbelangt, so wird es nur dann segensreich angewandt werden können, wenn Prüfungsmethoden vorhanden sind, die es ermöglichen, die Begabungen der Kandidaten objektiv miteinander zu vergleichen. Gerade im auswärtigen Dienst ist dies aber keinesfalls so ohne weiteres möglich. Man schwört zwar stets von neuem auf die jeweils geübte Auslesemethode, da aber diese Methoden recht häufig wechseln (gegenwärtig gelten Sprachkenntnisse als nicht so wichtig), ruht die Selektion doch auf einem unsicheren Fundament. Das im Augenblick für die Aufnahme ins F. O.

entwickelte Verfahren ist seit dem Jahr 1948 in Kraft, es soll probeweise einmal zehn Jahre lang gehandhabt werden und stellt eine Variation der Civil Service Method II dar, die wieder ihr Vorbild in Prüfungsmethoden der Armee hatte. Es handelt sich hierbei um eine etwas surrealistisch anmutende Kombination von Tests und Prüfungen, wobei der Kandidat drei Stadien der Läuterung: zuerst die „Qualifying Examination“, dann die „Civil Service Selection Board“, schließlich den „Final Board“ durchlaufen muß. Es gilt hier nicht nur Statistiken zu analysieren, Aufsätze zu politischen Themen, wie „Mangelt es dem öffentlichen Leben in Großbritannien an Idealismus?“, zu schreiben; man muß auch sagen, wohin man reisen würde, wenn man 14.000 Schilling zur Verfügung hätte, warum Evelyn Waugh mehr die Jugend als das Alter anzieht, und in welchem der übrigen Kandidaten man einen „potentiellen Diplomaten“ oder einen angenehmen Urlaubsgefährten erblickt. Ob man mit diesen Methoden — sie werden von denen, die sie anwenden, mit seltsamer Leidenschaft verteidigt — wirkliche von scheinbarer Begabung trennen kann oder ob es nur möglich ist, das offensichtlich ungeeignete Material auszuschließen (was ja auch im Protektionssystem möglich gewesen sein muß), mag dahingestellt bleiben.

Eine ganz andere Frage ist nun die nach det gerechten Verteilung! Nehmen wir an, es stellte sich im Laufe der Jahre heraus, daß bei diesen Prüfungen von allen jungen Männern, die sie bestehen, wieder 90 Prozent dem „Establishment“ zuzuzählen sind, so wird man die Verteilung an sich nicht „gerecht“ nennen können, sie wird sogar eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Resultat der Vor-Wettbewerbszeit aufweisen! Es ist mit anderen Worten die Auswahl für den diplomatischen Dienst nicht als isoliertes Phänomen zu verstehen, sie ist vielmehr ein Teil der allgemeinen Elitebildung. Die Kandidaten, die den Aufnahms- und Prüfungsritus des F. O. durchlaufen, müssen sich ja durch eine „with honours“ abgelegte Universitätslaufbahn ausweisen können, dieser Erfolg setzt wieder voraus, daß die Familie ihn durch beträchtliche Opfer unterstützt und diese Opferbereitschaft, wie das Talent, sie fruchtbar zu machen, ist eben in bestimmten Kreisen ausgeprägter als in anderen.

Man kommt also am Schluß der Betrachtung zu der etwas simplen Auffassung, daß die Neigung für bestimmte Berufe, die Begabung, gewisse öffentliche Aufgaben zu lösen, in manchen Blutlinien stärker ist als in anderen, ja daß im Grunde nur eine radikale Liquidation der englischen Oberschichte für eine gewisse, ebenfalls beschränkte Zeit „egalitäre Verhältnisse“ schaffen würde. Diesen Preis ist aber erfreulicherweise niemand zu zahlen bereit.

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