6629554-1956_29_07.jpg
Digital In Arbeit

Der Papst an Gott

Werbung
Werbung
Werbung

Am 7. Juli 1956 starb in Florenz der bekannte italienische katholische Dichter und Philosoph Giovanni Papini im 75. Lebensjahr. Wir bringen im folgenden das Schlußkapitel aus seinem Buch „Cölestin VI. Briefe an die Menschen“ in der Uebersetzung von Paul Thun-Hohenstein, erschienen im Amandus-Verlag, Wien; ein Kapitel, das, gleichsam als persönliches Bekenntnis konzipiert, uns gerade in dieser Stunde wesentlich erscheint.

Ich habe zu den Menschen gesprochen, zu allen Menschen, in Deinem Namen.

Und nun, am Abend seines langen Tagewerks wendet sich der greise Abgesandte an den Herrn und Gebieter, von dem ihm der Auftrag kam.

Ich habe zu den Menschen gesprochen, zu allen Menschen, von Dir und Deiner Liebe und von Deiner Glorie.

Wolle es zulassen, daß ich nun zu Dir spreche, bevor mein Mund zu einem Nest von Würmern wird, daß ich spreche im Namen der Menschen und des Leids, das ihre Glorie ist.

Für mich selbst erbitte ich nichts, denn alles war mein, seit ich Dich hatte.

Ich bitte Dich auch nicht um meinen Tod, der doch die einzige Gnade ist, die ich für mich erwarte; denn dann wäre ich ja der schlechteste der Soldaten: einer, der Urlaub begehrt, wenn die Schlacht am heißesten tobt.

Ich will aber auch für die Menschen nichts von Dir erbitten, denn ich müßte fürchten, Dich zu beleidigen: kennst Du ihre Träume und ihre Nöte nicht viel besser, als ich sie wissen kann und Dir zu schildern vermöchte?

Und sollte auch meine Bitte eine Beleidigung Deiner Person sein, so bin ich doch Deiner Verzeihung gewiß, denn ich hätte, aus Blindheit gefehlt und an meiner Blindheit wäre Liebe schuld gewesen. Ich erbitte für die Menschen nicht die Dinge, um die sie in ihrem unendlichen Elend fast immer nur bitten.

Gib ihnen nicht Kraft — sie macht sie übermütig und unverschämt.

Gewähre ihnen nicht Glück, das sie dreist macht und so lange in Knechtschaft hält, bis sie tot hinsinken.

Gib ihnen nicht Reichtum — er verdirbt sie und macht sie zu Rasenden.

Nicht einmal Freude erbitte ich für sie, denn Du hast ja die Freude in jedes Erdenstäubchen gelegt, und- wenn die Menschen sie zu suchen wünschten und wüßten, die Freude würde sie allesamt mit allem Tröstlichen überfluten.

Lind auch Deine Barmherzigkeit rufe ich nicht an, denn hättest Du sie nicht überreichlich ausströmen lassen, bliebe den Menschen längst kein Weg zur Umkehr offen.

Du hast die Menschen geliebt, wie nur ein Gott, unermeßlich und unendlich, zu lieben vermag.

Du hast sie so tief geliebt, daß Du von ihnen getötet werden wolltest, damit sie in Deinem Blute Stillung fänden für ihr wahnwitziges Wüten, das den Bruder gegen den Bruder treibt; damit sie in diesem Quell der göttlichen Liebe allen Makel des Hasses von sich abwüschen.

Doch mein Wundsein ist so tief, daß ich selbst in dieser unendlichen Liebe nicht alle Beruhigung fühle.

Ucber das Unendliche hinaus kann die Menschenseele nicht vordringen, keine Vorstellung reicht so weit.

Was aber unserem wunden, gefesselten Geist unmöglich ist, wird es Deiner Liebe unmöglich sein?

Im Namen Deiner unendlichen Barmherzigkeit berufe ich mich auf eine zweite Unendlichkeit der Liebe, auf die überschäumende Fülle Deiner allgewaltigen, unermeßlichen Liebe.

Wenn solches Berufen Torheit ist, so schäme ich mich nicht, ein Tor zu sein, denn ich weiß, daß der Mensch Torheit nennt, was in Deinen Augen höchste Weisheit ist.

Alles hast du den Menschen vergeben, aber ich höre in mir Dich sagen, Du hättest noch nicht genug vergeben und die Menschen bedürften noch einer letzten, unerhörten Ergänzung der Vergebung.

Sie haben kein anderes Recht als ihre Sünde, keinen anderen Anspruch als ihre Schandtaten.

Aber wie unermeßlich auch ihre Schuldlast sei und wie ungeheuerlich ihre ,Schmach - Du kannst den nicht von Dir weisen, der in ihrem Namen zu Dir spricht.

Du hast ihrem Ungehorsam verziehen, aber Du mußt auch ihrer Auflehnung verzeihen.

Du hast ihrem Undank vergeben, aber Du mußt auch Vergebung sagen ihrem Abfall.

Du hast Nachsicht gehabt für ihre Abtrünnigkeit, aber Du mußt auch ihren Verrat vergessen.

Gedenke ihrer großen Schwäche, ihrer Glück-lofigkeit, ermiß, wie sehr sie verlassen und verdorben sind.

Bist Du es nicht selbst, der sie schuf, mit Deinem Willen und Deinem Odem?

Sind sie nicht Deine rechtmäßigen Kinder, Deine Erstgeborenen, losgekauft und erlöst durch den Tod Deines Sohnes?

Du verliehst ihnen die Freiheit, aber durch die Freiheit kam ihnen die Versuchung, durch die Versuchung der Fall, durch den Fall die Strafe, durch die Strafe die Verzweiflung, aus Verzweiflung aber sind sie blind geworden.

Du gabst Geschöpfen, die zu schwach waren, einen Wein zu trinken, der zu stark war, Du erlegtest Herzen, die allzu menschlich sind, eine Glückseligkeit auf, die zu erhaben ist.

Ist es zu wundern, wenn sie nicht standhalten konnten, wenn sie Angst bekamen, wenn sie Dein Anlitz zu meiden suchten?

Bedenke, wie schwer die fleischliche Hülle ist, die Du um ihre schwache Seele gelegt hast!

Bedenke die dunkle, verführerische Macht des Blutes, die beharrliche Aufwiegelung durch den Bösen, die bitteten Folgen der Verdammung, die trügerischen Anreize, die im Müdewerden liegen!

Hättest Du sie nicht erschaffen, müßten sie nicht leiden, was sie zu leiden haben.

Auch das Leiden ist eine Gnade aus Deiner Hand, aber nicht alle begreifen das, nicht alle wissen es zu ertragen.

Hättest Du sie anders erschaffen, wären sie nicht hinabgesunken in das abgrundtiefe Dunkel von Schlamm und Blut, in das sie sich jetzt immer tiefer verschlingen als brodelnde

Geringel von Nattern, denen nichts eigen ist als Gift.

Wende ihnen, mein Gott, Deinen Blick zu, mit väterlicher Zärtlichkeit, nicht aber mit richterlicher Strenge!

Sieh auf ihr Antlitz, das von Angst verstört, von der Arbeit zerfurcht, vom Weinen entstellt ist und besudelt von geronnenem Blut!

Sie irren auf dieser Erde umher wie heulende Hunde im Zauberglanz der Wüstennächte, wie wilde Tiere, die keinen Unterschlupf, keinen Weideplatz mehr finden, wie Vögel, die mit den Flügeln gegen die Felswände einer Höhle schlagen, weil sie den Lichtschein nicht entdecken, der sie in sonnige Freiheit zurückführen würde.

Sie möchten sich zum Himmel erheben, aber fast alle haben verstümmelte Schwingen; sie möchten gerne geliebt sein, aber die meisten kennen nur noch Worte des Hasses.

Und dennoch sind sie Deine Kinder, wenn sie Dich auch verlassen haben, um zu den Futtertrögen der Schweine zu gehen; aber mitten unter ihnen gibt es unschuldige, friedsame Seelen, gibt es Herzen, die nach Dir verlangen, die Dich suchen, die ihre Sache auf Dich gestellt haben.

Sie sind wie abgerissene, stengellose Blüten, die von der schlammigen Flut des Hochwassers fortgetrieben werden, aber immer noch schwimmen sie obenauf, und ihre zerpflückten Kelche mischen ihr Blau und ihr Rot in das tonlose Grau des Wassers.

Schon ihretwegen müßtest Du Milde bezeigen, auch der Unzahl der Verirrten, den Scharen der Wahnbetörten: eine einzige Regung der Sehnsucht wiegt tausend Sünden auf.

Auch dieses ehebrecherische Geschlecht bittet Dich um ein Zeichen, und wiewohl es ein solches nicht verdient, wirst Du es ihm geben, denn Deine Güte war immer noch stärker als Deine Gerechtigkeit.

Vielleicht sind meine Worte Lästerungen und Phantastereien, aber Du weißt, daß ihre Quelle jene Liebe zu meinen Brüdern ist, die Du selbst mir eingegeben und aufgetragen hast.

Der Wahnwitz meiner Bitte hat eine Entschuldigung, die Du nicht zurückweisen kannst: das unerträgliche Elend Deiner Kinder.

Du gabst sie nicht preis, Du ließest sie niemals allein — ich weiß es.

Deine Offenbarung brach niemals ab, sie lebte in der Stimme der Propheten und der Dichter, auch wenn sie nur von wenigen verstanden und aufgenommen wurde und rasch wieder in Vergessenheit geriet.

Deine Menschwerdung gab ihnen allen ihr vergeudetes Erbteil wieder zurück, sie bahnte ihnen den Weg des Leidens, der Freude, Umkehr und Aufstieg bedeutet.

Aber trotz alledem kann ich nicht glauben, daß Deine Barmherzigkeit erschöpft sei, daß Deine Liebe ihr Ende gefunden habe.

Die Menschen bedürfen noch Deiner, und weil sie nur durch ein Unmögliches gerettet werden können, für Deine Allmacht aber nichts unmöglich ist, bitte ich Dich in ihrem Namen auch um das Unmögliche.

Aus Liebe zu den Menschen, die Dich nicht erkannten und Dir nicht gehorchten, ließest Du Dich ans Kreuz schlagen, aber heute gibt es keinen Menschen, der nicht von Nägeln durchbohrt und zerfleischt an einem Kreuze hinge, das er mit eigenen Händen zusammengefügt, oder das seine Feinde ihm aufgerichtet haben.

Die Menschen haben Dich gemordet, weil Du hmgemordet werden Wolltest, heute aber ist das gesamte Menschengeschlecht im Begriff, sich selbst zu morden — doch Du willst nicht und kannst nicht wollen, daß es sich hinmorde.

Das Drama, dessen Prolog das „Fiat“ war, ist nun an dem Knotenpunkt angelangt, der die Lawine aller Schrecken ins Rollen bringt.

Dir ist eine Auflösung und Entscheidung nur durch göttlichen Eingriff möglich, durch ein unausdenkbares, aber unwiderlegliches Einschreiten Deiner selbst.

Jegliches Licht ist erloschen oder liegt im letzten Flackern. Schwarze Höllenfinsternis hat die untergeordneten Himmelsregionen überzogen und verdunkelt.

Nur Dein Blitzstrahl kann diese Finsternis durchdringen und zerstreuen, denn die Menschen, die das Licht, das von oben kommt, nicht mehr wahrnehmen, wühlen nur noch in Aschenhaufen und bergen sich in Höhlen.

Welcher Art dieses Dein neuerliches Eingreifen in die menschlichen Dinge sein mag, kann ich mir nicht ausdenken, und könnte ich es, so wagte ich nicht einmal, es mir selber zuzuflüstern.

Aber ich kann Dir doch, indes ich schon höre, wir mir das Grab geschaufelt wird, einbekennen, daß ich von Dir einen letzten, äußersten Erweis Deiner unermeßlichen Vaterliebe erwarte.

Ich “erwarte von Dir eine Torheit, noch größer als jene war, die sich den Menschenaugen auf der Höhe von Golgatha gezeigt hat.

Ich erwarte mit einer Ungeduld, deren Heftigkeit mich selbst erschreckt, daß Du unversehens wiederkehrst, daß Du glorreich herabkommst.

Versprachst Du nicht mit Deinem untrüglichen Wort die Ankunft eines Trösters?

Wann hat je im Laufe der Geschichte der Menschheit die brennende Not einer Tröstung so stark empfunden wie jetzt?

Der Mensch hat sich zerrissen und zerfleischt, und er zerreißt und zerfleischt sich noch immer und ist selbst der geworden, den Dein Prophet im Schmerzensmann wiedererkannt hat.

Der Schmerz ist sein Gesetz, er ist sein Weg und seine Hoffnung, aber das wissen nur wenige, und nur wenige haben die Kraft, ihn ganz in sich aufzunehmen in der Fülle seiner Erlösungsmacht. “

Aus sich selbst kann der Mensch heute nicht Rettung finden; er hat das schreckliche Gefühl, verlassen zu sein, und ist dahin gekommen, Dich zu verlassen.

Hab' Mitleid mit ihm und wolle nicht zulassen, daß seine Augen geblendet bleiben und Deinen Glanz nicht schauen können!

Riesengroß war die Schuldhaftigkeit der Menschen, aber haben sie denn nicht schon genug gelitten? Haben sie nicht genug erduldet, geweint, geschmachtet und mit dem Tode gerungen?

Schon kam das Feuer waffenstarrenden Hasses aus niedrigem Himmel auf sie herab, sie zu vernichten.

Ich erbitte für sie auch nur Feuer, doch soll es das Feuer der Liebe sein, und es soll noch reichlicher über sie kommen als die Wassermassen beim Strafgericht der Vorzeit.

Oeffne die Katarakte des Feuers, wie Du einst die Schleusen der Wolken zur Sintflut aufgetan hast!

Deine Sprache war immer Feuer und Deine Botschaft stand allemal in Feuerlettern geschrieben.

Inmitten des brennenden Dornbusches empfing Moses Dein Gesetz; Feuer verzehrte die Opfer auf den ersten Altären.

Der Strahlenglanz der Verklärung war nichts anderes als das Feuer Deiner göttlichen Seele, das sich den drei erschrockenen Jüngern kundtat.

Dein Vorläufer prophezeite, daß Du mit Feuer taufen würdest, und bevor Deine Apostel nach

Osten und Westen auszogen, senkten sich feurige Funken auf ihre geneigten Häupter.

Von Dir, Du Sonne der Liebe, erflehe ich das Feuer, das Du allein spenden kannst, eine übermächtige Feuerwoge für die Menschen, die kalt, starr, erfroren, vereist und Stein geworden sind.

Kein stoffliches, ein geistiges Feuer zur Läuterung dieser Verderbten, zur Entzündung dieser Kalten, zur Aufenveekung dieser Leichname.

Ein währendes Feuer, das die Herzen gefügig macht, ein Feuer der Wahrheit, das die Gemüter aufflammen läßt, ein Feuer der Torheit, das die alberne Weisheit der Welt aufzehrt, ein Feuer des Schmerzes, das in seiner Vergeistigung die Menschen von neuem befähigt, sich freizumachen und froh zu werden.

Was sind sie denn vor Deinem Angesicht? Ein Haufen Plunder und ein Bündel Angst auf dem Erdenrund.

Und bin ich nicht ganz so wie ein Bettler, der vor dem letzten Tor des Lichtes wehklagt und nur von der Gewißheit lebt, daß durch die Fürbitte seiner Tränen dieses Tor noch einmal für alle sich auftun wird?

Ich, der letzte unter den letzten, wage es doch, Dich, den Vater, um die gerechte Strenge des Alten Bundes anzuflehen; Dich, den Sohn, um die Liebe der frohen Botschaft; Dich, den Heiligen Geist, um den Trost der Erlösungsvollendung.

Für mich gibt es nun nichts anderes mehr als die Ruhe des Schweigens, die Rast im Grabe.

Mein Herz hat sich freigeredet von all den vielen Worten, mit denen die marternde Qual der Zeit es bis an den Rand gefüllt hatte.

Wenn Christus Seinem Stellvertreter nicht zürnt, wird Er es zulassen, daß dieser seine Worte, wenn es nottut, mit seinem Blute besiegle. Cölestin VI., Papst,

Knecht der Knechte Gottes.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung