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Der Pfahl im Fleisch

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Der früh ergraute Mann, der seinen krankmüden Leib durch die Einsamkeit des schwäbischen Dorfes Ustersbach schleppt, wo er im Haus der Magd letzte irdische Raststätte findet, trägt ein Leben, das vom Schmerz großer, in Zucht verhaltener Einsamkeit gezeichnet ist, seinem Ende zu. Tiefflieger schwirren über dem Ort, sein Geist aber schwebt über die Not des letzten Augenblicks in die Ferne. Zuerst dem einzigen siebzehnjährigen Sohne zu, der in den letzten Todeskrämpfen des „ewigen Reiches“ noch zum Einsatz kam; nie mehr wird er, wird ein anderer Mensch von ihm hören... Inzwischen brennt die eigene Fackel zu Ende — in diesem innersten Winke] Schwabens, der einst, als das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“

bereits zur Fiktion der Juristen verglommen war, so schlechthin „Reich" hieß — weil hier eben viel reichsunmittelhare Herren und Herrschaften zusammensaßen ...

Das Reich — was war es gewesen, noch im Traum der drei großen Schwaben, der Tübinger Stiftschüler Hegel, Hölderlin und S c h e 11 i n g, als diese sich dasselbe als Losungswort vorstellten, am Tor ihres Lebens, beim gemeinsamen Auszug in die Welt: „Reich Gottes“, Reich des Geistes, Reich der Freiheit. In diesem Sinne hatte es auch unser Schwabe, es ist Theodor Haecker, als Mission begriffen: in einem erbitterten Seelenkampfe um die Überwindung der großen Fehlträume und Illusionen des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik ringend, war ihm das Reich in einer ganz neuen Tiefendimension inne geworden: in der Brust des einzelnen. In ihr werden, so verstärkt sich immer mehr sein Glaube, seine Ein-Sicbt, alle entscheidenden Schlachten der Weltgeschichte geschlagen. Milde gute Geister seines Landes, Weiser der Liebe und ihrer Erkenntnis hatten ihn eingeführt in diesen Innenraum, hatten ihn zuerst auf jene Kampfstätte gestellt, die, in der Vermählung von Kopf und Herz, die Walstatt seiner Existenz werden sollte: Blumhardt und Hilty. Zu diesen beiden Nahen und Zarten gesellt sich früh ein ferner und herber Freund-Geist: Kierkegaard. Die Begegnung mit ihm wird Schicksal für diesen Einsamen, der am 9. April 1 9 4 5 in Ustersbach stirbt. Sein erstes Werk hieß: „Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit“, sein letztes Werk, dessen verkohltes Manuskript in die Schweiz gerettet und daselbst von Richard Seewald 1947 im Thomasverlag, Zürich, herausgegeben wurde, trägt den Titel: „D e r Buckel Kierkegaards".

Erkenntnis — in der Form des Bekenntnisses —, dies war seit vielen Jahren schon das Zeichen seiner Schöpfungen. Dies Zeichen hatte ihn berühmt gemacht und seinen Namen über die Lande getragen: seit jenen Tagen, in denen er im Zwielicht und Untergang des wilhelminischen Schattenreiches in Ludwig Fickers „Brenner“ mit grausamer Schärfe das Reich der offiziellen und offiziösen Macht, Kultur und Geistigkeit als ein Gegen reich der Ohnmacht, des Gemein-Bösen und des Geistwidrigen entlarvte. Und dergestalt den Kampf Kierkegaards gegen die „Offiziellen", die Geistund Seelbeamten seiner Epoche wieder aufnahm und fortführte. Theodor Haecker hat sich dadurch nicht beliebt gemacht. Die glühende Liebe, die er bei einzelnen erweckte, stand im schroffsten Gegensatz zur Unbeliebtheit bei weiten Kreisen der Bien pensams beim Herdenvolk der Gutdenkenden, der Traktatschreiber des „gesunden Menschenverstandes“. Sein Donner war ihnen zu stark, seine Satiren und Polemiken fielen wie Geißelhiebe auf ihr wundes schuldschwaches Fleisch — er schien unerträglich. Man gewährte ihm notgedrungen das Glashaus einer eisigen Berühmtheit: dort, auf dem Piedestal mochte er blitzen und richten, sein Zeitalter unter das Gericht des Absoluten einfordern — dieser ewig protestierende Prophet des reinen Geistes und seiner „H i e r a r c h i e“, seiner heiligen Herrschaft über alle Güter und Werte dieser Welt.

Ja, er war ein furchtbarer Richter. Wir würden seine und unsere letzte Situation verkennen und verharmlosen, wenn wir

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