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Der Plastik Zeitspanne geben

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Einen, der mit „Volk auf du und du steht, aber keine Kratzfüße macht vor den Herren“, hat Karl Diem den Wiener Bildhauer und Graphiker Alfred Hrdlicka genannt, „einen Michelangelo.... aber der Plebejer Wiens“, einen Rebellen, der Ursprünglichkeit, Naturnotwendigkeit, Genialität wieder zum Ereignis, zur gesunden Sensation macht. Allerdings in einer Art und Weise, auf die man im Establishment der Kunstwelt offensichtlich nicht gefaßt war: Das Menschenbild, das So-Sein erneuert sich da, bemächtigt sich titanenhafter Formen, um sich in ihnen zu manifestieren. Hrdlicka räumt mit der tiefgekühlten Ästhetik der Abstraktion seit Mondrian gründlich auf. Kunst und Politik sind für ihn untrennbar. Er stellt das in harter Sprache immer wieder fest und schüchtert damit Ästheten ein: „Wer dieses Jahrhundert begreifen will, muß sich einen Expander anschaffen. Ich fürchte, wir leben in einem eminent physischen Zeitalter. Es werden zwar keine Erbfolgekriege mehr geführt, aber so eng aufs Fell gerückt wie im zweiten Weltkrieg sind sich die Menschen niemals zuvor... Spitzensport und Massensex wären weitere Kronzeugen.. .

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Einen, der mit „Volk auf du und du steht, aber keine Kratzfüße macht vor den Herren“, hat Karl Diem den Wiener Bildhauer und Graphiker Alfred Hrdlicka genannt, „einen Michelangelo.... aber der Plebejer Wiens“, einen Rebellen, der Ursprünglichkeit, Naturnotwendigkeit, Genialität wieder zum Ereignis, zur gesunden Sensation macht. Allerdings in einer Art und Weise, auf die man im Establishment der Kunstwelt offensichtlich nicht gefaßt war: Das Menschenbild, das So-Sein erneuert sich da, bemächtigt sich titanenhafter Formen, um sich in ihnen zu manifestieren. Hrdlicka räumt mit der tiefgekühlten Ästhetik der Abstraktion seit Mondrian gründlich auf. Kunst und Politik sind für ihn untrennbar. Er stellt das in harter Sprache immer wieder fest und schüchtert damit Ästheten ein: „Wer dieses Jahrhundert begreifen will, muß sich einen Expander anschaffen. Ich fürchte, wir leben in einem eminent physischen Zeitalter. Es werden zwar keine Erbfolgekriege mehr geführt, aber so eng aufs Fell gerückt wie im zweiten Weltkrieg sind sich die Menschen niemals zuvor... Spitzensport und Massensex wären weitere Kronzeugen.. .

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Alfred Hrdlicka, geboren 1928 in Wien, Schüler von Gütersloh, Dobrowsky, Martin und Wotruba, ein ebentso amüsanter wie heftiger Verfechter seiner Kunsttheorien, hat sich in den zwölf Jahren, seit er sein Akademiediplom erworben hat, einen internationalen Namen geschaffen. Preise in Wien, Ljubljana, Lugano, Tokio und große Per-sonalaussteliungen, etwa in Nürnberg, Baden-Baden, bei den Biennalen in Säo Paulo und Venedig, haben dazu wesentlich beigetragen.

Nun, zur Zeit befaßt sich Hrdlicka mit dem Projekt eines Riesenfreskos für eine geplante evangelische Gedächtnfekirche (Thema: „20. Juni“) in Berlin. Nur weiß er noch gar nicht sicher, ob er den Auftrag annehmen kann: „Es hängt vom .sittlichen Wert' meiner Arbeit ab“, kommentiert er nicht ohne Ironie. „Nackedeis spielen immer eine gefährliche Rolle. Da kann man den Auftraggebern nicht einmal mit dem Michelangelo-Vergleich kommen.“ Das religiöse Moment in seinem Schaffen? „Ich habe wenig Neigung zum religiösen Apparat oder zum Pfarrerdenken, und ich lehne es ab, was heute normalerweise an schlechter religiöser Kunst produziert wird. Wie ich überhaupt in der Kunst gegen Sparteneinteilung bin, also auch gegen den Begriff .religiöse Kunst'. Auch .abstrakt' und .gegenständlich' sind sinnlos, gräßlich.“ Hingegen üben das Alte und Neue Testament auf ihn enorme Faszination aus: „Besonders die Verwandlung des Fleisches; das Märtyrertum, dais aufs engste mit politischen Kämpfen verbunden ist. Das sind die Ansätze der religiösen Kunst. Sie demonstriert auch schließlich eine höhere .politische' Gesinnung, um deren Willen sich mancher k. o. schlagen läßt.“ Die Abstraktion hat in diesem Denken nichts verloren. Der Mensch ist ein zentrales Ereignis und Erlebnis, er allein fasziniert, trotz aller Technisierung: „So spannend auch Meßdaten aus dem Weltall und Konstruktionsgeheimnisse sind, die Leute interessiert doch in erster Linie, wer da hinaufgeflogen ist, wie es ihm ergangen ist, wann er einen Brechreiz oder sonst etwas verspürt hat.“ Das graphische Schaffen: „Ist für die nächste Zeit abgeschlossen. Zwar muß ich die Radierzyklen Jiumanae vitae' (für die Marlborough Gallery) und .Masse und Macht' (für Stuttgart) fertigstellen, aber dabei bleibt es vorderhand. Apropos .Humanae vitae': Die Folge ist für den Kölner Kunstmarkt geplant. Nur ob sie bis dahin fertig wird, ist fraglich. Ich habe mir zuerst Blätter vorgestellt, die vor Menschen zum Bersten voll sind, platzen; aber über ein Blatt bin ich nicht hinausgekommen.“ Das Stuttgarter Projekt wurde von Elias Canetti inspiriert, „mit dem ich mich lange über seine Theorien über Machthaber und Masse unterhalten habe. Wir sind vielleicht sogar ein bißchen geistesverwandt. Zumindest hat er's behauptet. Was mich an beiden Arbeiten wirklich interessiert, sind die Vorstudien, von denen Ich vielleicht sogar ein paar plastisch ausführen werde. Ich kaufe jedenfalls bereits viele große Steine.“

Es taucht die Frage auf, wieweit Literatursujets die Grundlage seines Schaffens bilden: „Bestenfalls einen geistigen Rohstoff, der dann eine ganz andere adäquate Form erhalten muß. Literatur ist für mich nur ein Widerstand, der anreizt. Bisher war zum Beispiel der Ablauf einer Handlung, eines Zeitmaßes, typisches Llteraitur-monopol. Ich versuche dieses Monopol endgültig zu überwinden, meine Arbeiten vom ,Stil-lebencharakter' so vieler .Sitzender1 und .Ruhender* zu befreien, den zeitlichen Ablauf aus der Dichtung in die bildende Kunst herüberzuführen. Ähnlich wie in den Comics, die in dieser Hinsicht etwa meinen Zyklus .Martha Beck' (1962) beeinflußt haben. Die Einzelplastik muß da notwendigerweise allmählich verschwinden, es müssen längere, geschlossene plastische Handlungen aufgebaut werden. Und zwar möglichst nicht punktuell, nach Stationen.“ (Als seine erste wirklich gelungene Arbeit mit dieser Tendenz bezeichnet Hrdlicka seine ,,Haarmann“-Folge.)

Der Leiter einer Berliner Avantgardegalerie, der sein Interesse für Zeitprobleme kennt, hat ihm angeboten, eine Graphik-Film-Synthese zu Schaffen: Hrdlicka hat abgelehnt: „Ich möchte diese Probleme vor allem plastisch bewältigen, auch in diesem Medium Zeitspannen einfangen, ausdrücken können.“

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