6562409-1949_09_11.jpg
Digital In Arbeit

Der Proletarierapostel

Werbung
Werbung
Werbung

Im Rihgen um eine bessere Gesellschaftsordnung bedarf es klarer Entwicklungslinien und einer eindeutigen Zielsetzung. Zu der nüchternen Erkenntnis des sicheren Weges muß jedoch auch die Wärme des menschlichen Wollens und Strebens treten. Die allzu große Not und das oft zutage tretende krasse Unrecht können nur durch eine hingebungsvolle opferbereite Liebe, aius dem Gedanken der sozialen Verantwortung heraus, gemildert und gelindert werden. Wo sich di richtige Erkenntnis des Weges mit dem Bewußtsein der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und mit einem hilfsbereiten Opferwillen vereinigen, dort wird eine fruchtbare soziale Arbeit geleistet werden.

Diese Vereinigung aller Voraussetzungen verkörperte das Lebenswerk Dr. Carl Sonnenscheins. Der auf seinen Primizbildern enthaltene Aufdruck: „Evangelizare pauperibus — Den Armen das Evangelium zu verkünden, sandte Er mich“, gab seinem Wirken Inhalt und Leben.

Sonnenscheins Tätigkeit als Kaplan im rheinischen Industriegebiet machte ihn frühzeitig mit der sozialen Problematik vertraut. Die Not der Menschen seiner Pfarre machte ihn ruhelos, trieb ihn, Hilfe und Rat zu geben, durch praktisches Handanlegen all die Ungerechtigkeiten des sozialen Gesellschaftsbildes einigermaßen zu lindern. Er erkannte es zunächst als eine Notwendigkeit, gerade die studierende Jugend zusammenzufassen, in ihr die Überzeugung zu erwecken, daß gerade in der engen Verbindung des geistig schaffenden Menschen mit dem manuell tätigen Arbeiter ein gegenseitiger Interessenausgleich und eine für beide Teile nutzbringende Zusammenarbeit im Interesse des Aufbaues eines gesunden Gemeinwesens gefunden werden kann. Diese Bestrebungen Sonnenscheins fanden ihren Ausdruck in der Gründung des Sekretariats sozialer Studentenarbeit. Von dieser Gründun" ging ein breiter Strom erfolgreicher sozialer Arbeit weit hinaus. Von diesem organisatorischen Zentrum tönte ein lauter Ruf: eine nicht ziu überhörende Mahnung an das Gewissen und an die soziale Verantwortung der verantwortlichen Kreise ins Land hinaus. Die Losung Sonnenscheins war, nicht zu mäkeln, nicht abseits zu stehen, sondern zuzufassen und die herankommenden Probleme tatkräftig zu lösen, die anvertrauten Menschen aus Wirrnis und Not herauszuführen und aus dem Geiste d r christlichen Kulturverpflichtung die Interessen der arbeitenden Bevölkerung wahrzunehmen. Das war Sonnenscheins Verlangen.

Di Berufung Sonnenscheins im Dezember 1918 nach Berlin brachte sein Lebenswerk zur höchsten Entfaltung. Im akademischen Arbeitsfonds, in der sozialen Studen- tenzentrale, im sozialen Verein „Katholische Studenten“ und im akademischen Boni- fatiusverein fand seine Arbeit zunächst ihren organisatorischen Niederschlag: „Es gibt hier viel Arbeit. Ich rede häufig in Versammlungen und sammle einen Kreis Studierender für unser Programm. Die soziale Studentenbewegung muß den Katholizismus in unserem Sinne umformen. U n- ser Ziel ist di christliche Demokratie. Wir sind ein Organismus mit Pulsschlag, kein Mineral, das nach Gewicht und Schwerkraft geht, das man in der Truhe bewahren kann. Keine Goldhai r , die versteckt wird. Wir sind ein Vogel, der singt. Wir sind animalisches Leben, das keucht. Wir sind Seele, die hungert, die sich sehnt, die betet, die verdorrt, die jammert. Darum ist unsere Aufgabe Intensivierung der Arbeit an uns selbst. Wir wollen Christen sein.“

Nach Sonnenscheins Überzeugung ist di Kraft der lebendigen Überzeugung an drei Brennpunkten einzusetzen: Geburten ziffer, Wohnungsfrage, Volkskontakt. „Betreuungspolitik fordert Wohnungspolitik. Die Predigt der kinderreichen Familie fordert unablässige Sozialreform. Die Mietskaserne ist ein Verrat an den zehn Geboten Gottes. Das Armenviertel der Großstadt eine Abschnürung der christlichen Kultur. Der Atem der Gesundheit und des Christentums weht nicht um Hinterhäuser und Quergebäude. Er verlangt Siedlung, Garten, Spielplatz, Sonne, Luft und Horizont. Ein Stück Natur, wehenden Wind und knospende Bäume. Das klingt heute für ein zerbrochenes Volk, wie wir es sind, wie Musik aus Sphären.“

Diese Gedankengänge versuchte Sonnenschein überall und unter allen Umständen zu verwirklichen. Ob in seinen Predigten, ob in seinen Reden und Ansprachen bei großen, gewaltigen Massenkundgebungen oder im kleinen Kreise, ob bei seinen seelsorglichen Verpflichtungen; immer und überall war er der unermüdliche Prediger für eine praktische christliche Sozialpolitik.

Sein nie rastender Schaffensdrang, seine innere Überzeugung von der unbedingten Hingabe an eine als richtig erkannte Idee und sein praktischer Organisationssinn erfüllten ihn mit einer Arbeitsbesessenheit, die sein Tagewerk bis ins kleinste durchwirkte. Neben seiner öffentlichen Tätigkeit batte er einen gewaltigen Organisation - apparat im „Sekretariat sozialer Studentenarbeit“ 'aufgezogen. Hier war die Stelle, wo alles erstrebte Leben Blut und Impuls erhielt. Hier war die Redaktion des „Katholischen Kirchenblattes“, der Sitz der Calderon-Gesellsdiaft zur Durchsetzung einer katholischen Bühne und zu den Bemühungen um den Film, hier di Zentrale der Rundfunkgemeinschaft der Katholiken, zur Siedlungsaktion und zur Aktion gegen die Feuerbestattung. Hier wurden die Katholikentage und die großen katholischen Kundgebungen vorbereitet.

„Wir müssen mitten ins Volk hinein! Mit größerer Sehnsucht schauen wir nach dem Silberstreifen am Himmel der breiten arbeitenden Massen. Ob hinter den Fabrikschloten neue Helle heraufzieht? Ob die Augen am Amboß und im Schacht weiter werden? Ob die Herzen vielleicht beginnen, einen neuen Puls zu schlagen? Ob wieder Platz wird für Christus? Toniolo hat einmal im Gefolge der großen Enzyklika „Re- rum Novarum“ geträumt, Christus wird auf den Schultern der Massen in die Gesellschaft zurückgetragen. Dazu müssen die Massen wieder den Weg zum Christentum finden. Wir Katholiken sind dieses Weges einzige Brücke!“

Diese Ideen haben Sonnenscheins Arbeit ausgerichtet und all seinen Plänen, seinem Organisieren, seinem hilfstätigen Eingreifen Richtung gegeben.

Es war nicht Sonnenscheins Art, bloß zu reden, zu predigen, zu organisieren. Sein Hauptbestreben war es, die gewonnenen Erkenntnisse im Alltag zu verwirklichen und zu helfen. Zu den von ihm eingeführten „Sprechstunden“ hatten alle, die irgendwie in Not waren, Zutritt. Seine Losung war dabei, allen Notleidenden und Besorgten Hilfe und Trost zu spenden. Wer immer keinen Weg und keinen Rat mehr wußte, fand sich bei Sonnenschein ein. Ihm wurde Rat, Hilfe und Unterstützung zuteil. Sonnenschein half, wo Not war, ohne lange zu fragen, ohne Ausfüllung von Fragebögen und langwierigen Erhebungen. So verschaffte er Empfehlungen an den Papst, an Kardinale, an Präsidenten und Bischöfe, an Professoren, Männer der Wirtschaft, an Banken und Kaufleute. So gab er und verschaffte er Geld und Wohnung, Stundengeben, Stipenidien und Freitische, vermittelte er künstlerische Aufträge und Werkarbeit, Aufnahme in Krankenhäuser und Erholungsheime, Reiseangelegenheiten und Ferienunterkünfte. Er besorgte Ärzte und Rechtsanwälte, Fahrtausweise und Gnadengesuche, Kleider und Lebensmittel. Es war ihm eine unbedingte Verpflichtung, zu helfen, und zwar sofort und ohne Zögern und Zaudern beizuspringen, bestehende Not zu lindem und einen Ausweg zu schaffen. In einer großangelegten Kartei wurden seine Schutzbefohlenen weiter betreut, und trotz der Vielfalt seiner allzu reichlichen Tagesarbeit fand er noch immer Zeit, Kranke in ihre Wohnungen und in den Krankenhäusern ziu besuchen, verlassene Menschen zu begraben und ihnen eine Grabrede zu halten.

Diese seine praktische Sozialarbeit unterstützte er durch seine Vorträge, durch Führungen und Besichtigungen der von ihm errichteten und geleiteten Fürsorgeanstalten und durch seine reiche rednerische und publizistische Tätigkeit. So übernahm er auch die Schriftleitung des „Kirchenblattes“. Ein bleibendes Werk schuf er in seinen „N o- t i z e n“ — „W e ltstadtbetrachtun- gen". In diesen Notizen nahm er zu allen Fragen, die ihn bewegten, in seinem eigenartigen kurzen, prägnanten, ja hingeworfenen Stil Stellung. Sie zeigten Sonnenschein in seiner Meisterschaft. Daraus ein' kleiner Ausschnitt, „Auferstehung": „Ich stand vor dem Kaufhaus Wertheim in der Leipziger Straße. In den Fenstern Ostern! Sport, Wanderung, Frühjahr! Wanderanzüge, Segelboote, Gezelt. Mitten im Schaufenster Osterhasen und Ostereier. Dazwischen knospende Weiden, Ostern an der Leipziger Straße. Daheim blätterte ich in Schotts Meßbuch. Liturgie der Karwoche! Gründonnerstag. Flectamus genua! O crux ave. Die Improperien. Vexilla regis. O lux beata. Dann jubelnde Glocken! Alleluja! Das ist Feiertag. Das ist Weihe. Das ist Auferstehung. Wie ist die Welt ohne die Kirche arm und glatt und bürgerlich geworden. Ostereier! Osterhasen! Weidenkätzchen ! Gut essen! Gut trinken und eine Handvoll Frühlingsluft! Hier aber Ewigkeit, Firnenglanz, Sturmgebraus, Auferstehung, Wiedergeburt! Urmenschliches wird aus den Tiefen emporgerissen. Felsen spalten sich, Kreuze stehen lichtumflossen. Ostern kündet und umjubelt den Auferstandenen. Das nenne ich Feiertag! Der die Menschen über sich hinaushebt. Der sie in das Unendliche taucht. Der sie mit dem Göttlichen verbindet. Der so das Tal dieser Welt in den Farbenglanz der Uberwelt teilt, Feiertag!“

Der nie ruhende Arbeitshunger, der Sonnenschein beseelte, verbrauchte nur allzu bald seine körperliche Kraft. Selbst am Krankenbett stellte er seine Arbeiten nicht ein. Trotzdem an seiner Zimmertür das Schild angebracht war: „Besuche nicht gestattet“, besuchten ihn täglich 50 bis 60 Menschen und trugen ihm ihr Anliegen und Sorgen vor. Auch ein kurzer Aufenthalt im Süden konnte ihm keine wesentliche Besserung mehr bringen. Erst der Tod gab dem ewig Ruhelosen und Schaffenden am 20. März 1929 die Ruhe. Sein Leichenbegängnis war eine gewaltige Feierlichkeit, an der ganz Berlin Anteil nahm.

Die Erinnerung an das Lebenswsrk dieses sozialen Apostels legt auch uns Gegenwärtigen V erpflichtungen auf. Die so ziale Not in allen ihren Auswirkungen ist auch heute unser ständiger Begleiter. Mehr als je ist es notwendig, in das Chaos des gegenwärtigen Geschehens Licht und Wärme aus dem Geiste der christlichen Nächstenliebe und der sozialen Gerechtigkeit hineinzutragen. Sonnenschein ist uns Führer und Mahner.

„Die Zeit ruft zur Erfüllung der Caritaspflicht. Vor den heidnischen Menschen der Großstadt ist Apologetik des Wortes fruchtlos, sind Vorträge aus der Geschidite chinesisches Schauspiel! Papier! Damit deckt man keinen Tisch! Damit düngt man keinen Garten! Damit hält man keine Fabrik! Wir brauchen kongeniale Kräfte!“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung