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Der Rat der Alten

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Nichts wäre irriger, als in der Academie Francaise eine Art Spitzenorganisation der französischen Dichtung oder die Auslese der bedeutendsten Literaturgrößen ihrer Zeit zu sehen. Die „illustre Gesellschaft“, wie sie sich gerne nennen hört, ist vielmehr der vornehmste literarische Salon Frankreichs, in dem man nur auf Grund einer ähnlichen verwickelten Prozedur Aufnahme findet wie in andere abgehegte Bezirke der Auserkorenen; allerdings ist eine der Bedingungen, die der fortan „Unsterbliche“ erfüllen muß, daß er gut schreiben kann, daß er die französische Sprache in allen ihren Feinheiten beherrscht Qder vielmehr, daß er von ihr beherrscht wird. Dabei mag er ein seine Epoche überhöhender, jenseits der Grenzen berühmter Genius sein, oder ein an an Zeit und Ort gebundener Erfolgsautor oder auch nur ein Staatsmann, ein Heerführer, ein Gelehrter, ein Prälat, dem beträchtliche Stilvorzüge eignen und der ein paar angenehm lesbare Bücher verfaßt hat. Doch ein Kraftgenie, das sich über die Grammatik oder gar über die in einem Salon verpflichtenden Manieren erhaben glaubt, wird keinen Zutritt „unter der Kuppel“ der Akademie erhalten. Extreme politische Meinungen schaden ebenso wie Aergernis, das man aus irgendeinem Grunde bei der Oeffentlichkeit oder bei den Vierzig erregt. Diese ergänzen sich durch Wahl, zu der alle Mitglieder der Akademie berechtigt sind. Stirbt einer aus ihrem Kreis und ist diese Vakanz offiziell verkündet, dann setzt sofort ein Feldzug ein, der bereits früher vorbereitet worden ist. In den literarischen Zeitungen und Zeitschriften, wie dem „Figaro Litteraire“, den „Nouvelles Litteraires“, in der von der Elite gelesenen Tagespresse, mit dem „Monde“ an der Spitze, wird offen oder versteckt für den einen Kandidaten Stimmung gemacht, gegen andere Bewerber, oft durch boshafte Anekdoten intrigiert. Ein ähnliches Spiel geschieht in den Pariser Salons. Insbesondere werden die zur Wahl berufenen Academiciens nach allen Regeln einer mehrere Jahrhunderte alten Kunst bearbeitet. Für den erledigten Sitz melden stets einige Kandidaten ihren Anspruch an; das erfolgt durch einen offiziellen Brief an die Akademie und durch Besuche bei deren sämtlichen Mitgliedern. Von dieser Regel sind nur königliche Prinzen oder Kardinäle ausgenommen, ferner traditionsgemäß französische Marschälle, die — soferne sie ihren Wunsch aussprechen, in die illustre Gesellschaft einzutreten — einstimmig und ohne Gegenkandidaten gewählt werden. Am kritischen Tag des Urnenganges hält ganz Paris bzw. das „TontParis“ den Atem an. Die Chancen der einzelnen Bewerber sind gründlich in der Presse erörtert worden. Nun naht die Entscheidung. Sie vollzieht sich auf Grund einfacher Stimmenmehrheit der Anwesenden. Mitunter siegt ein Kandidat gleich im ersten Wahlgang, wie bei der letzten „Election“ Daniel-Rops. Manchmal sind mehrere Voten erforderlich; ja es ereignet sich, daß überhaupt kein Ergebnis zu holen ist. Dann wird, wie das vor kurzem zu beobachten war, die Wahl nach einigen Monaten wiederholt. Der glücklich Erkorene kann sich nun seine Uniform, den berühmten grünen Frack, bestellen. Freunde stiften ihm einen Degen. Und er schreitet an die Ausarbeitung seiner Antrittsrede.

Am Tag der feierlichen Reception wird der neue Mann von zwei Paten aus der Schar der „Unsterblichen“ in den Saal unter der Kuppel geleitet, in dem sich, dicht gedrängt, alles versammelt hat, was in Paris Rang und Namen besitzt. Er dankt seinen Wählern und hält sodann den Nachruf auf seinen Vorgänger, dessen „Fauteuil“ er geerbt hat. Derlei ist nicht selten eine heikle Aufgabe. In frischer Erinnerung haften der unvergleichliche Takt und die Eloquenz, mit der Francois-Poncet des Marschalls Petain gedachte, ohne gegen politische Rücksichten oder gegen die geschichtliche Wahrheit zu verstoßen. Nach dem jüngsten Academicien ergreift einer seiner Kollegen das Wort, um ihn zu begrüßen. Dabei geht es weder ohne Lob, noch ohne die den Franzosen so wesenhafte Ironie ab, die sich auch die gefeiertsten Kandidaten gefallen lassen müssen. Doch nun ist die Zeremonie vorbei. Der akademische Alltag beginnt. Die „Unsterblichen“ halten wöchentlich Sitzung. Sie beraten über das Wörterbuch der französischen Sprache, das ihrer Obhut anvertraut ist; sie lassen diese Neubildung zu und verwerfen jene andere, sie scheiden Veraltetes aus. Sie verteilen literarische Preise und Tugend-preise. Sie befassen sich auch mit der Verwaltung des beträchtlichen Vermögens, das ihrer Institution gehört. Sie werden als Delegierte zu offiziellen Feiern entsandt, bei denen sie stets einen bevorzugten Platz erhalten; mitunter erscheinen sie auch als Vertreter der Akademie beziehungsweise Frankreichs im Auslande. Zeitschriften und Zeitungen, Verleger und Veranstalter von Vorträgen bemühen sich um die Mitarbeit der Unsterblichen. Nur die noch nicht Durchgedrungenen, die respektlose Jugend und die gewerbsmäßigen Revolutionäre spotten oder entrüsten sich über diese literarische Fossilie, die als Hort der Reaktion, als lebensfremde, verknöcherte Finrichtung den zeitverbundenen Kräften einer volksnahen Dichtung gegenübergestellt wird.

Eines trifft zu: die Akademiker zeichnen sich weder durch besondere Jugend, noch durch Feindseligkeit gegenüber den sogenannten „Pouvoirs etablis“, den auf Geburt, hohen Rang und Reichtum gründenden gesellschaftlichen Mächten aus. Von 36 Mitgliedern, die seit der letzten Wahl von Anfang März 1955 in der Academie Fran?aise sitzen, entstammen fünf herzoglichen Geschlechtern (zwei Broglie, je ein La Force, Levis-Mirepoix und Harcourt), der Adel ist noch durch einen Vicomte (Lacretelle) repräsentiert. Daneben gibt es einen Kardinal (Msgr. Grente), einen Marschall (Juin), einen ehemaligen kommandierenden General (den allbekannten Weygand), zwei Botschafter (Leon Berard, Francois-Poncet), zwei hervorragende Mediziner (Pasteur-Vallery-Radot, Mondor), einen berühmten Verteidiger (Garcon), einen literarisch interessierten Großindustriellen (Buisson) und den allbekannten greisen Staatsmann Herriot. Nennen wir noch die Wissenschafter: die beiden Historiker Madelin, Spezialisten der Revolution und des Ersten Kaiserreiches, und Gaxotte, Verfasser einer vortrefflichen französischen Gesamigeschichte und glänzender Werke über die letzten französischen Könige des Anden Regime, den ausgezeichneten Soziologen und Analytiker der politischen Struktur aller Westdemokratien Siegfried, den Philosophen und Kenner der Scholastik Gilson. Dann verbleiben an eigentlichen Schriftstellern in dem Mitteleuropäern geläufigen Sinne sechzehn von achtunddreißig Academiciens, denen wir den schon erwähnten Vicomte de Lacretelle beigesellen dürfen. Zwei davon sind vorwiegend Kritiker, Chevrillon und Henriot, der auch einige beachtliche Romane verfaßt hat. Vaudoyer ist weniger als Erzähler, denn als Leiter der.Staatstheater bekannt. Der Lyriker Gregh, ein Ueber-lebender aus den Tagen des Symbolismus, der nach zahlreichen vergeblichen Kandidaturen endlich, fast achtzigjährig, ans Ziel seiner akademischen Wünsche gelangte, der Romancier Genevoix und der vorwiegend als Organisator hervorgetretene langjährige Präsident der Schriftstellergenassenschaft Lecomte sind außerhalb Frankreichs unbekannt und spielen in der literarischen Bewegung ihres Landes kaum eine Rolle.

Zehn „LInsterbliche“ sind oder waren mit ihren Werken über die französische Sprachgrenzen hinausgedrungen und zu internationaler Notorietät gekommen. Allerdings sind ihrer drei nur als gut schreibende Unterhaltungsautoren anzusehen: Henri Bordeaux, Pierre Benoit und der schon halbvergessene Claude Farrere. Sie Werden kaum bis in spätere Zukunft gelesen werden. Aehnliches gilt für den psychologisch tieferen Andre Maurois. So reduziert sich die Zahl der zur Dauer bestimmten Dichter in der Akademie auf sechs. Keiner von ihnen hat das Maß des kürzlich dahingeschiedenen Paul Claudel oder seiner ihm im Tod vorangegangenen Altersgenossen Paul Valery und Andre Gide. Immerhin beanspruchen der Nobelpreisträger Francois Mauriac, dann der Schöpfer des großartigen „Roman fleuve“, der „Hommes de Bonne Volante“ — der „Menschen, die eines guten Willens sind“, Jules Romains, der Autor der Salavin-Reihe und der „Pasquier“ Georges Duhamel, der vielseitige Dramatiker, Lyriker und Erzähler Jean Cocteau Weltgeltung, die man, in der Beschränkung auf seine Schilderung des ihm wohlvertrauten südfranzösischen Milieus, auch auf den vortrefflichen Bühnendichter Marcel Pagnol ausdehnen wird, den Schöpfer unvergeßlicher, sprichwörtlich gewordenen Typen, wie des erfolgreichen Schiebers Topaze Und der Marseiller Dreiheit Marius, Cesar, 'Fanny, seelenkundlich meisterhafte Filme aus der französischen Kleinwelt.

Im auswärtigen Beobachter, der einigermaßen die zeitgenössische Literatur verfolgt, regt sich nun sofort die Frage nach einer Reihe weltberühmter französischer Schriftsteller, die er vergebens in der Akademie sucht. Wir rühren da an die sogenannte Geschichte des „einundvierzigsten Fauteuils“, das nie besetzt wurde, an die der großen Dichter, die keinen Einlaß in die illustre Gesellschaft fanden (oder ihn nicht begehrten), denen „nichts zu ihrem Ruhme fehlte“, während „ihr Ruhm den Academiciens abging“. Meist lag die Ursache dieser Abwesenheit an der, aus von uns eingangs angegebenen Gründen, nicht vorhandenen Eignung der betreffenden Autoren, im exklusiven Salon unter der Kuppel zu erscheinen. Der Trunkenbold und Vagabund Verlaine war dort ebensowenig am Platz wie, aus politischen Gründen, der Verfasser des „J'accuse“, Emile Zola. Andere, wie etwa Mallarme, starben, ehe der Moment ihrer vollen Anerkennung gekommen war. Von heute lebenden großen Schriftstellern vermissen Wir vor allem den Nobelpreisträger Roger Martin Du Gard, dann Malraux, Montherlant, Sartre, Camus, Anouilh, Salacrdu, Aragon. Montherlant wäre bereits gewählt, hätte er nicht durch hochmütige AeuSerungen sich selbst den Weg, freilich nur für einige Zeit, versperrt. Aragon ist als militanter Kommunist weder gewillt, noch geeignet, zu kandidieren. Malraux dürfte in nicht zu ferner Zukunft in die Akademie gelangen. Camus, Anouilh, Salacrou werden, wie man in Frankreich sagt, „prendre de la bou-teille“, reif werden müssen, ehe sie sich um ein Fauteuil bewerben. Für Martin Du Gards Fernbleiben scheinen Gründe mitzuspielen, die bei Andre Gide dessen Wahl verhindert hatten. Der Fall Sartre endlich liegt ganz besonders und sehr verwickelt. Er dürfte nicht so bald aktuell werden. Und man kann in der Akademie warten. Gut Ding braucht dort Weile. Schon ihr Alter schützt die. ..Unsterblichen“ vor allzu stürmischer Hast. Einer aus ihrer Reihe hat das 90., weitere zehn haben das 80. Jahr überschritten. Dreizehn stehen im achten und zwölf im siebenten Jahrzehnt. Nur einer ist im 20. Jahrhundert geboren (1901), der neugewählte Daniel-Rops, der damit an Stelle der beiden Sechzigjährigen Gaxotte und Pagnol, zum Benjamin der illustren Gesellschaft wird. Nach der Dauer seiner Mitgliedschaft ist Henry Bordeaux Aeltester (36 Jahre), gefolgt von Chevrillon (35), Lecomte (31) und dem Herzog von La Force (30 Jahre). Insgesamt vierzehn Academiciens 6ind noch vor dem zweiten Weltkrieg gewählt worden, die anderen seit 1945.

Man begreift, daß dieser „Rat der Alten“ -nicht nur Salon, sondern auch Senat der französischen Literatur, ja des gesamten französischen Geisteslebens — den Ungeduldigen, den Unzufriedenen von jeher ein Dorn im Auge gewesen ist. Allein, er mag an Anerkennung für kühne Neuerer gezögert, wildem, zuchtlosem Genie die Tore verschlossen und glatter, eleganter Mittelmäßigkeit die Pforten geöffnet haben: mit allen seinen Schwächen ist er dennoch ein Hort gepflegter Wortkunst, kluger Sorge um die Sprache, ein Hüter und Zeuge der bevorzugten Stellung, die der Literatur in Frankreich durch Staat und Gesellschaft eingeräumt wird.

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