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Der Raum des Schweigens

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Ist Freiheit überhaupt möglich? — Einbruch in die Kinderseele. Von Max Picard. Furche-Verlag, Hamburg. 46 Seiten. Preis 1.80 DM.

Probleme der Elitebildung. Von der Bedrohung und Bewährung des einzelnen in der Massenwelt. Von Heinz Zähmt. Furche-Verlag, Hamburg. 46 Seiten. Preis 1.80 DM.

Der Weg zur Askese als Ueberwindung der technischen Welt. Von Joachim B o d a m e r. Furche-Verlag, Hamburg. 42 Seiten. Preis 1.80 DM.

Der „Aufstand der Massen“ hat dem Staate als Wohlfahrtsstaat alle Initiative übergeben. Tyrannen und „Originale“ stehen an der Stelle geistiger Mächte und Persönlichkeiten. Daher die notwendige und längst bedrückend gewordene Frage: Wie soll der einzelne bestehen und wie soll eine geistige Elite sich bilden, um einmal wieder geistig lenkend in die Geschichte eingreifen zu können?

Je in ihrer Art der Blickrichtung geben diese drei kleinen Publikationen eine Antwort: es hängt von der „Askese“ des einzelnen ab. Viele Einsame müssen sich „draushalten“ aus dem Getriebe der technischen Welt und bewußt arm in ihr leben wollen. Dann wird in Kindern und in Erwachsenen wieder der „Raum des Schweigens“ geschaffen werden, in dem Entscheidungen gefällt werden können vom einzelnen. Jede Entscheidung eines solchen modernen Asketen geht in einer geistigen Strömung auf die Gesamtheit der Masse über. Man muß sie nur wirken lassen aus Einsamkeit, Schweigen und Armut. Man wird weder die Freiheit des einzelnen noch die Elite „machen“ können: in zuwartender Weile und im Vertrauen auf den Geist der Armut werden viele einzelne Blumen zum Blühen kommen. Hinter diesen

drei versuchten Antworten scheint das Vertrauen zu liegen, daß die natürliche Mystik des Geistes und die religiösen Betermächte wie Sauerteig wirken werden. Diese Hoffnung wird gestützt durch das anwachsende Interesse für religiöse Erfahrungen.

Kinderlaad. Von Helene Voigt-Diederichs, Eugen-Diederichs-Verlag, Düsseldorf-Köln. 178 Seiten. Preis 5.80 DM.

Die norddeutsche Dichterin Helene Voigt-Diederichs Ist 1875 geboren; sie wuchs also in einer Zeit auf, in der das Familien- und damit auch das Kinderleben nicht so bedroht waren wie heute. Das spürt man in ihren Kindergeschichten, deren kleine Gestalten in ruhiger Geborgenheit leben und Blumen und Tiere, Sonne, Mond und Sterne, alle die Wunder des Himmels und der Erde, zu Spielgefährten haben. Wir freuen uns an diesem Kinder-

land, in dem es weder Autos und elektrische Eisenbahnen, noch Roboterpuppen gibt, mit ein wenig Trauer. Aber hängt es nicht immer auch weitgehend von uns ab, von der Atmosphäre unserer Häuser und dem, was wir unseren Kindern mitgeben, daß das kein verlorenes Paradies zu sein braucht?

fung von Philosophie, Psychologie, Theologie und Kunst bedient, wie man dies vor ihm nicht gekannt hatte.

Eine zweite Frage läßt sich stellen, nämlich: Bezeichnen Kierkegaards lebensphilosophische Werke gegenüber der Lebensphilosophie früherer Zeiten etwas grundsätzlich Neues? Hierauf werden die echten Kierkegaardianer sicherlich mit Ja antworten, und wohl auch mit Recht. Sören Kierkegaard will die Aufgabe der Lebenspjiiloso-phie auf eine besondere, sich von den Versuchen früherer Zeiten unterscheidende Weise angreifen. Kurz gesagt: Sören Kierkegaards Lebensphilosophie ist das, was er selber eine „existentielle“ Lebensphilosophie nannte.

In einem gewissen Sinne verbindet Kierkegaard seinen „Existenzbegriff“ mit derjenigen Bedeutung, die das Wort Existenz im gewöhnlichen Sprachgebrauch hat. Linter einem „existentiellen Denker“, einem Lebensphilosophen in der Kierkegaardschen Bedeutung, versteht man einen Menschen, der sich voll Leidenschaft und Inbrunst um die Lösung der Grundfragen müht, die. mit der „menschlichen Existenz“ zu tun haben oder, anders ausgedrückt, mit „dem Menschsein, der Existenz als Mensch“. Zu den Kierkegaard am stärksten bewegenden Existenzfragen gehörte besonders die einer Existenz nach dem. Tode. Christlich gesprochen: die Frage einer ewigen Seligkeit. Sie ist ein echtes Existenz-Problem in der Kierkegaardschen Bedeutung dieses Wortes. Und zwar erstens, weil es sich dabei darum handelt, ob die menschliche Existenz auf das kurze, zeitliche Leben beschränkt ist, oder ob wir mit der Ewigkeit unserer Existenz rechnen dürfen. Sodann zweitens, weil diese Frage eben ein Problem ist. Der einzelne muß wählen, was er glauben will oder nicht, und das, was er wählt, wird — sofern diese Wahl in leidenschaftlichem Beteiligtsein erfolgt — die gesamte Lebenseinstellung gestalten. Für alle Entscheidungen der großen Existenzprobleme ist dies der Fall.

Was nun Kierkegaards Einfluß auf die internationale Philosophie betrifft, darf das Jahr 1920 als besonders denkwürdig betrachtet werden; es ist das Jahr, in dem Karl Jaspers jetzt

so allgemein bekanntes Werk „Psychologie der Weltanschauungen“ erschien. Damit begann die eigentliche „existentialistische“ Philosophie, die sich in wesentlichen Grundzügen auf Sören Kierkegaard gründet. Nahezu durch Karl Jaspers' gesamtes Werk ist der Einfluß von Kierkegaard spürbar. Dieser Umstand hat sicherlich sehr zur Verbreitung von Kierkegaards Ruf beigetragen. Bei der Erwähnung seiner Inspirationsquellen sagt Karl Jaspers u. a.: „K i e r k e-g a ä r d und Nietzsche haben in originalster Erfahrung die Problematik des Daseins erlebt und in einzigartigen Werken die Möglichkeiten des Menschen so dargestellt, daß sie als die größten Psychologen der Weltanschauungen anerkannt werden müssen.“ Einige Jahre nach Karl Jaspers' Buch erschien Martin Heideggers großes, schwer zugängliches Werk „Sein und Zeit“ (1927), das als das eigentlich grundlegende Werk innerhalb des mehr doktrinären „Existentialismus“ betrachtet werden darf. Auch hier wieder stammen die wesentlichen Anregungen von Kierkegaard, über den sich Heidegger kurz, aber entscheidend äußert: „Im 19. Jahrhundert hat Soren Kierkegaard das Existenzproblem als existentielles ausdrücklich ergriffen und eindringlich durchdacht.“ In zahlreichen wichtigen Punkten übernimmt Heidegger Kierkegaards Gedanken und Motive. Während jedoch Kierkegaards höchstes Streben einem christlichen Existentialismus galt, ist es Heidegger vor allem um einen atheistischen Existentialismus zu tun, wobei Nietzsches Atheismus bestimmenden Einfluß hat. Ferner legt Heidegger Wert auf die-Tatsache, Kierkegaard gegenüber das Problemgebiet des Existentialismus dahin erweitert zu haben, daß dieser sich jetzt auch auf das Onto-logische erstreckt, woran Kierkegaard weniger gelegen war. Schon in der Ueberschrift seines Werkes — „Sein und Zeit“ — kornmt Heideggers lebhaftes ontologisches Bestreben zum Ausdruck.

Sören Kierkegaard gilt der neueren Philosophiegeschichte als ein echt sokratischer Charakter. Kein Zufall ist, daß seine erste wissenschaftliche Arbeit, seine höchst geistvolle Doktorabhandlung, den großen Griechen zum Gegenstand hatte. Gleich diesem war auch Sören Kierkegaard ein ausgesprochener Individualist, , der sich Hegels Worte über des Sokrates Grundeinsicht zu eigen machen konnte; „daß nämlich der Genius der inneren Ueber-zeugung die Basis ist, die dem Menschen als das Erste gelten muß“. Für Kierkegaard war der „Genius der inneren Ueberzeugung“ nicht nur das Erste, sondern er blieb das Erste und Letzte. Hiermit hängt auch zusammen, daß kein anderer in der Geschichte deS Individualismus dein Begriff „der Einzelne“ einen solchen Wertstempel aufgedrückt hat wie Kierkegaard. Auch war Kierkegaard selber der Auffassung, daß seine eigene Bedeutung als Philosoph aufs engste mit der Kategorie „der Einzelne“ zusammenhing. Im übrigen kann der Individualismus viele Gestalten annehmen. Für Kierkegaard selber hatte er, wie erwähnt, diejenige eines christlichen Individualismus, der die Färbung des Urchristentums trug. Das, was er „den einzelnen gegenüber Gott“ nennt. Doch war ihm bewußt, daß seine Betrachtungen über den „einzelnen“ auch für alle anderen i.Existenzsphären“ gelten. Durch seinen starken Appell an die Persönlichkeit des einzelnen, an das Echte in ihm und an seine Verantwortung scheint Kierkegaard innerhalb ' der neueren Philosophie ohne seinesgleichen — Nietzsche ausgenommen.

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