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Der Rebell von Eppan

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Die markanteste Figur unter den 68 Südtiroler Häftlingen im Mailänder Monsterprozeß, der nun in seine fünfte Verhandlungswoche getreten ist, ist der 50jährige Josef Kersch-baumer. „Der Rebell von Eppan“, wie er von einer Südtiroler Zeitung genannt wurde, hat mit der ihm eigenen Wahrheitsliebe, die einige freilich als pure Dummheit bezeichnet habendem volles Geständnis abgelegt und alle ihm zur Last gelegten Taten freimütig zugegeben. Nur eines hat er kategorisch bestritten: Er und seine Freunde, seine „Mitarbeiter“ (wie er säe nennt), haben durch die „demonstrativen“ Sprengungen nicht den Anschluß Südtirols an Österreich, wohl aber eine echte Autonomie erreichen wollen.

Die Haltung Kerschbaumers, sein Wahrheitsfanatismus („Ein echter Tiroler lügt nicht“) und seine aufrichtige Heimatliebe, die freilich nicht frei von Mystizismus ist, haben nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch im italienischen Blätterwald Aufsehen imd Verwunderung erregt. Wohl haben einige rechtsextremistische Zeitungen Kersch-baumer mit sowenig schmeichelhaften Titulierungen wie „Neander-“ taler“, „finsterer Terrorist“ und „Zigeuner“ bedacht, der weitaus größere Teil der Gazetten hat sich jedoch der Meinung des Mailänder „Corriere della Sera“ angeschlossen, der dem „Apostel der Terroristen“ bescheinigt hat, einen „stark entwickelten Sinn für Würde“ zu besitzen. „Er ist ein Mann von wenigen, noch dazu verwirrten Ideen“, fügte das Blatt hinzu, „aber von einem unerschütterlichen Glauben für die Sache Südtirols beseelt.“ Und selbst der Bozener Untersuchungsrichter-hat ihm in der Anklageschrift „persönliches Format, tiefe Überzeugung, (daß er idealistischen Zwecken diene) und im wesentlichen geradliniges Verhalten“ zugebilligt.

Kerschbaumer, an dem die Presse während seiner dreitägigen Einvernehmung täglich neue Nuancen entdeckt hat, ist tatsächlich ein Mensch, der leicht Anlaß zur Legendenbildung werden kann. Als die „Pfun-derer Burschen“ zu ihrer überharten Strafe verdammt wurden, marschierte der „Rebell“ sofort nach Pfunders und trat dort in einen mehrtägigen demonstrativen Hungerstreik. Auch im Gefängnis hat er mehrmals für seine Mithäftlinge, die seiner Ansicht nach zum größten Teil unschuldig sind, gehungert. Der „Ghandi von San Vittose“, wie einer seiner vielen „Pressenamen“ lautet, betet nach Aussage seiner Mithäftlinge jeden Tag in seiner Zelle den Rosenkranz, liest gern im Schott und wird nicht müde, auf das Unrecht, das Südtirol durch all die Jahrzehnte zugefügt worden ist, hinzuweisen.

Dabei hat Kerschbaumer, den sein Anwalt Dr. Wicolussi-Lecfc aus Kaltem als „Tiroler Michael Kohlhaas“ bezeichnet, vor seiner abenteuerlichen „Tätigkeit“, die schließlich zu seiner Verhaftung führte, ein relativ einfaches, um nicht zu sagen kleinbürgerliches Leben geführt. Jeden Tag ist er um vier Uhr mit seinem Fahrrad von Frangart, einem idyllischen Dörfchen bei Eppan, nach Bozen gefahren, um dort Obst und Gemüse für seine kleine Gemischtwarenhandlung einzukaufen. In Bozen ging er zur Messe, dann fuhr er heim und arbeitete auf dem Feld. Der kleine Laden wird heute von seiner Frau und seinen beiden erwachsenen Töchtern geführt. Was hat diesen Mann, der vor dem Untersuchungsrichter sagte, daß er seine Familie genauso- liebe wie jeder andere (insgesamt hat er sechs Kinder), zu solchem Tun getrieben? Es müssen schwerwiegende Gründe gewesen sein, die bewirkt haben, daß er heute in Mailand vor dem Richter steht.

Und es waren auch schwerwiegende Gründe. Kerschbaumer hat sie bei seiner Einvernahme in aller Ausführlichkeit geschildert. „Wir haben lange Geduld gehabt und immer wieder vertraut und vertraut. Aber nichts ist besser geworden“, sagte er in Mailand, und man konnte die Bitterkeit dieses Mannes, der sich als „aufrechter Tiroler“ fühlt, auch heute noch deutlich spüren. „Und eines Tages ist uns dann halt die Geduld ausgegangen...“ Und oftmals wurde der Angeklagte fast zum Ankläger. So, als er etwa den Ausspruch eines höheren Bozener Quästurbeamten zitierte, der zu Kerschbaumer gesagt haben soll? „Für die Südtiroler gibt es nur dreierlei Wege. Entweder sie wandern nach Österreich aus oder sie interessieren sich nicht mehr für ihre Heimat oder sie gehen in den Kerker ...“

Und Kerschbaumers Mithäftlinge, von denen bis heute zirka ein Drittel einvernommen worden ist, haben ebenfalls mit genau fundierten Beispielen von Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, denen viele Süd7 tiroler ausgesetzt waren, aufwarten können. So hat der Schmied Erich Walter aus Neumarkt etwa auf die fehlende oder zumindest sehr mangelhafte Doppelsprachigkeit der Staatlichen Beamten in Südtirol hingewiesen. Als seine Frau eines Tages im Dorfpostamt eine Geldsendung aufgeben wollte, wurde sie vom Beamten mit folgenden schroffen Worten abgefertigt: „Wenn sie deutsch reden wollen, dann wandern Sie nach Deutschland oder Österreich aus. Wir befinden uns in Italien ...“ Die Frau mußte unverrichteterdinge abziehen.

Der Häftling Fontana, der zugegeben hat, den Sprengstoffanschlag auf die Villa des faschistischen Senators und Südtirolhassers Tolomei (Südtirol verdankt ihm unter anderem seine oft so verwunderlich klingenden italienischen Dorfnamen!) und auf einen Rohbau eines Volkswohnbauhauses verübt zu haben, führte die damalige italienische Wohnbaupolitik in Bozen als Grund für seine Erbitterung an.

„Im November 1960“, versuchte er dem Mailänder Gerichtshof, der sich unter seinem Präsidenten, Doktor Gustavo Simonetti, und dem Hauptstaatsanwalt, Dr. Mario Gre-sti, bisher einer bemerkenswerten Objektivität befleißigt hat, zu erklären, „wurden 13 Wohnungen, die für Südtiroler bestimmt waren, vom Regierungskommissär beschlagnahmt und Italienern zur Verfügung gestellt. Und am 1. Juli 1959 verwaltete das autonome Volkswohn-bauinstitut rund 4000 Wohnungen. Von diesen wurden 3950 in Bozen gebaut. Davon erhielten die Südtiroler zirka 210 Wohnungen! Dies entspricht aber keineswegs dem Verhältnis der beiden Volksgruppen ...“

Und der Inhaftierte Petermaier erinnerte das Gericht an die kaum glaubliche Tatsache, die jedoch durch eine parlamentarische Anfrage der beiden Südtiroler Exab-geordneten Ebner und Riz im vergangenen Frühjahr untermauert wurde, daß von den bisher 645 eingereichten Ansuchen der Südtiroler Kriegsopfer in Rom bis heute auch nicht ein einziges positiv erledigt worden sei...

Auffallend ist, daß fast alle bisher einvernommenen Häftlinge, und besonders die Gruppe um Kerschbaumer, die damaligen Vertreter der SVP wegen ihrer „Laxheit“ und „Trägheit“ scharf kritisiert haben. Gleichzeitig aber haben sie mit allem Nachdruck erklärt, daß weder die Partei noch auch die Schützen, die von den Italienern als „Brutstätte des Terrorismus“ bezeichnet werden, mit den Anschlägen auch nur das geringste zu tun gehabt haben. Damit sind viele Spekulationen schon unter den Tisch gefallen. Auch von der „finsteren Verschwörung“, von der die Anklageschrift so gerne spricht, kann nach den bisherigen Vernehmungsergebnissen kaum die Rede sein. Man hat eher den Eindruck, daß der BAS ein recht loser Haufen war, „eine Strömung“ (wie ein Häftling sagte), aber keineswegs eine exakte „Organisation“. Denn die Angeklagten um Kerschbaumer machen öfter den Eindruck, als ob sie kaum wüßten, worum es sich bei den Anschlägen wirklich gehandelt hat. Einig war man nur, daß man etwas „unternehmen“ müsse, da es so nicht mehr weitergehe.

Immer wieder stellt es sich heraus, daß die Anklageschrift in vielen Punkten sachlichen Argumenten kaum standhalten kann. Oft scheint sje mehr einem Wunschdenken als der Wirklichkeit zu entsprechen. Uberhaupt steht die Anklage in vielen Fällen auf sehr schwachen Füßen. Ein größerer Teil der Häftlinge dürfte kaum wesentlich gegen die Gesetze verstoßen haben. Sprengstoffschmuggel und verbotener Waffenbesitz aber wären Delikte, die durch die Untersuchungshaft, die nicht nur die Häftlinge selbst, sondern fast noch mehr deren Angehörige vor schwere seelische Belastungsproben stellt, schon mehr als abgebüßt wären. Freilich schwebt bis zur Stunde noch über allen das Damoklesschwert des Hochverrates und Mordes, zweier Pauschalanklagen, die nach Ansicht der Verteidiger jedoch kaum aufrechterhalten werden dürften.

In mancher Beziehung ist der Mailänder Prozeß eine Neuauflage des Verfahrens in Trient, das mit dem schockierenden Freispruch der sogenannten „Folterkarabinieri“ endete. Ein Großteil der bisher einvernommenen Häftlinge hat nochmals die erschütternden Anklagen über die an ihnen verübten Mißhandlungen wiederholt. Auch das eigenartige Verhalten des damaligen Stellvertretenden Staatsanwaltes von Bozen, Dr. Castellano, ist öfter zur Sprache gekommen. Was man da zu hören bekam, verschlug einem die Sprache. So soll Castellano zum Inhaftierten Zwerger, der „Stundenlang mißhandelt“ worden war, gesagt haben: „Wenn Sie nicht Ihre Aussagen vor den Karabinieri bestätigen, dürfen Sie erstens keine Besuche empfangen, zweitens dürfen Sie nicht mit Ihrem Rechtsanwalt sprechen und drittens — wenn dies alles nichts hilft — kommen Sie wieder zurück in die (wegen ihrer ,Verhörmethoden' berüchtigten, Anmerkung der Red.) Karabinieri-kaserne von Eppan...“

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