Der Reiz des Verfalls

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Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk erinnert sich an seine Heimatstadt.

Jede Aussage über die Merkmale, den Geist, das innere Wesen einer Stadt ist aber indirekt auch eine Aussage über uns selbst und unsere eigene Gemütsverfassung. Die Stadt hat kein anderes Zentrum als uns selbst". Diese Aussage trifft auf alle zu, die eine Stadt beschreiben, seien sie nun Fremde, die eine Stadt als Besucher von außen betrachten und in ihr das Exotische finden (wollen), seien es die Bewohner, die ihre Heimat vor verfremdenden Blicken schützen wollen oder sich an ihr reiben.

Was Istanbul betrifft, so bestätigt sich diese Aussage von Orhan Pamuk bei französischen Schriftstellern wie Gérard de Nerval, Théophile Gautier oder Gustave Flaubert ebenso wie bei türkischen Schriftstellern wie Yahya Kemal oder Ahmet Hamdi Tanpinar. Vor allem aber verdeutlicht sie sich in Orhan Pamuks Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Der Autor, der am 10. Dezember den Literaturnobelpreis erhält, macht darin die Verbindung von Ich und Stadt zum Thema: "Von Istanbul als meinem Schicksal handelt nun dieses Buch."

Einst bunt und reich an Sprachen (ein Traum von einem Goldenen Zeitalter?), verkam Istanbul seit dem Untergang des Osmanischen Reiches, da "die Türkische Republik außer ihrem ,Türkentum', das sie nicht recht zu definieren wußte, kaum mehr etwas anderes wahrnahm und sich somit von der Welt abkapselte", zu einem "vor sich hin alternden, verödenden, schwarzweißen, monotonen und einsprachigen Ort". Die Stadt ist dem Verfall preisgegeben, der aber macht ihren Reiz aus. "Ich begriff langsam, daß ich Istanbul wegen seines traurigen Verfalls liebte, wegen all dem, was die Stadt einst besessen und dann verloren hatte."

"Hüzüm" nennt Pamuk die spezifische Melancholie, die ihn an dieser Stadt fasziniert und die auch auf ihn übergangen scheint - oder ist es doch umgekehrt? Die Häufigkeit, in der "Hüzüm" in diesem Werk immer wiederkehrt, geradezu beschworen wird, lässt auch diese Vermutung zu.

Eigene Erinnerungen

Pamuk erzählt nette Anekdoten wie jene über Ekrem Koçu, den Verfasser der Istanbul-Enzyklopädie, der bei den letzten Bänden "seinen Liebhabereien freien Lauf ließ". Er erinnert sich an die erste Liebe, aber auch an die Mutter, die stundenlang auf den Vater wartete, den sie bei der Geliebten wusste, und dabei Patiencen legte, und an den jungen Orhan, der zunächst Maler werden wollte, dann Architekt werden sollte - schließlich aber Schriftsteller wurde.

Wer nimmt denn wahr? Das Ich, immer schon auch fremdbeschrieben - wie die Stadt. "Wie meine Stadt sich den Generationen vor mir gezeigt hat, steht in einem Tagebuch, das von Fremden geführt wurde." Die Geschichte seiner Familie, Kindheit und Jugend verwebt Pamuk mit der Geschichte seiner Erkundung der Stadt - sei es durch das Flanieren hinaus aus dem eigenen Viertel hinein in die Randbezirke, sei es durch den Gang hinaus aus der Türkei und hinein in die Texte der Istanbulbesucher, um sich auf diese Weise wieder anders und neu der eigenen Heimat anzunähern. Und Heimat ist Istanbul diesem Autor geblieben, der "über die Jahre hinweg auf das gleiche Haus, die gleiche Straße, den gleichen Ausblick, die gleiche Stadt fixiert" war.

Warum, stellt Pamuk mehrfach die Frage, ist der Blick des Westens für die Türkei so bedeutend? Der gebildete verwestlichte Türke wollte sich seinen "Verwestlichungsgrad immer wieder von den angesehensten Autoren und Publikationsorganen des Westens bestätigen lassen". Diese Orientierung führte dazu, dass so manche westliche Publikation sogar Anstoß zu handfesten Veränderungen geben konnte. In Folge von André Gides verächtlicher Schmähung - "Diese Rasse hat genau die gräßliche Kleidung verdient, in der sie herumläuft!" - verbot etwa Atatürk nichtwestliche Kleidung.

Blick der anderen

Pamuks Kunst, die auch aus seinen Romanen vertraut ist: er macht den Blick der anderen (des Westens), und sei er noch so sehr von durchschaubaren Interessen geleitet, gerade nicht schlecht - im Gegenteil, er nützt ihn, um das eigene Gesichtsfeld zu erweitern. Sein Buch wird damit zu einer faszinierenden - und geradezu modellhaften - Liebesgeschichte. Pamuk hält seine Beziehung zur Stadt lebendig, weil er sie aus immer anderen Blickwinkeln betrachtet - und so verhindert, dass sie zu einem einzigen starren Bild wird.

Je nachdem, wie man Istanbul betrachtet, "kommt einem die Stadt einmal zu östlich, dann wieder zu westlich vor und vermittelt einem damit das leicht unbehagliche Gefühl, nicht ganz dazuzugehören." Doch gerade dieses Gefühl - ein Gefühl, das einsam macht - schafft Freiheit für genau diese Blicke, von außen, von innen, die ein so lesenswertes Beschreiben einer Stadt erst möglich machen.

Istanbul

Erinnerungen an eine Stadt

Von Orhan Pamuk

Aus d. Türk. v. Gerhard Meier

Hanser Verlag, München 2006

431 Seiten, geb., Euro 26,70

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