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„Der Riese“ und „die Zwerge“

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Der Kampf um das Elysee hat sich in den letzten Wochen hauptsächlich in den Parteizentralen und in den Zeitungsredaktionen vollzogen. Die breite Öffentlichkeit hat sich an ihm nur sehr wenig beteiligt: Man hat kaum von sichtbaren Manifestationen gehört; die in großen Mengen in den Straßen aufgestellten Plakatgerüste sind in der Regel leer geblieben. Machte ein Präsidentschaftskandidat von dem ihm amtlich gesicherten Recht Gebrauch, seinen Standpunkt im Fernsehen zu erläutern, so pflegte ein beträchtlicher Teil der Staatsbürger ärgerlich auf ein anderes Programm umzuschalten, wo ihm Kabarettsendungen oder Musikprogramme geboten wurden.

Der Durchschnittsfranzose verhielt sich passiv und uninteressiert, und wenn es einer Bestätigung bedurfte, daß der Mann auf der Straße heute ein nur sehr bedingtes Interesse dem Faktor „Politik“ entgegenbringt, so ist sie in diesem Wahlkampf erbracht worden. Der breite Raum, den die Tagespresse und die periodischen Zeitschriften den einzelnen Kandidaten für das Elysee einräumten, reflektiert im Grund nicht die tatsächliche Geistesverfassung der Nation; und auch die Nachrichten von einer verstärkten Nachfrage nach Leihfernsehapparaten für die Dauer der Wahlvorbereitung gibt lediglich den Aufschluß für einen nicht wesentlich ins Gewicht fallenden Prozentsatz der Bevölkerung.

Der große Unangreifbare

Die Maisse ist passiv: Sei es, daß sie gläubig auf die unangreifbare Position des Generals vertraut, sei es, daß sie fatalistisch angesichts der Schwäche der Legislative resigniert: Das Anrennen gegen den die Macht repräsentierenden „Riesen“ erscheint ihr als erlorene Liebesmüh. Von der „faschistischen Krankheit“, die fast alle Länder Europas nach dem Ersten Weltkrieg nacheinander ergriffen hat und die eine durchschnittliche Dauer von 10 bis 15 Jahren hatte — so sagte uns kürzlich ein weltbekannter französischer Diplomat — würden die Völker erst geheilt, wenn ihnen ernste Rückschläge oder vernichtende Katastrophen die Augen über den pathologischen Charakter der Diktatur oder des „Ein-Mann-Regimes“ öffneten.

Freilich erschiene es uns als eine arge Simplifikation, das gegenwärtige Regime Frankreichs als „Faschismus“ oder „Diktatur“ zu bezeichnen, denn der omnipotente Chef hat weder eine militärische oder paramilitärische Hausmacht, noch eine straff organisierte politische Gefolgschaft; aber die Tatsache, daß er sich als Inkarnation des nationalen Willens fühlt und dies ausdrücklich verkündet, macht ihn zu einem Prokonsul, oder sagen wir: zu einem modernen Selbstherrscher spezifisch französischer Prägung. Seine psychologische Macht und Wirkungskraft liegt in der nationa-listisch-sent'-nentalen Gloriole des „Retters“. Der einzelne Bürger mag ihn als Persönlichkeit bewundern oder über ihn -eln oder gar von seinen theatralischen Gesten nicht angesprochen sein — er bleibt für ihn trotzdem die Bestätigung seines elementaren Selbstbewußtseins und seines Patriotismus. Gewiß ist dieser Durchschnittsbürger realistisch und selbstkritisch genug, um in de Gaulle nicht ein Siegessymbol zu sehen, rber die bloße Anwesenheit dieses gegen das Schicksal aufbegehrenden Soldaten nach der Niederlegung der französischen Waffen im alliierten Generalstab wirkt, nach den Worten eines seiner treuesten Gefolgsleute, noch heute auf viele Franzosen wie ein wohltuendes Magensalz, das ihnen hilft, die Niederlage von 1940 leichter zu verdauen. Und da der mystische Nationalismus in diesem Lande der Mathematiker und Rechtgelehrten uneingestandenermaßen stärker ist als alle nüchterne Logik und realistische Überlegungen, wird der General von allen Kandidaten die meisten Stimmen auf sich vereinigen. Diese Tatsache ist auch denen einleuch-1 tend, die ihn lieber im Pantheon als weitere sieben Jahre im Elysee sehen würden. Deshalb stimmen sie für ihn oder führen einen matten Kampf gegen ihn, von dessen Aussichtslosigkeit sie a priori überzeugt sind.

Was können alle noch so sachlich durchgeführten Meinungsbefragungen gegen diese Grundhaltung aussagen? Sie geben nur ein Abbild der privaten Stimmung, der individuellen Haltung des einzelnen Bürgers. Sie zeigen, wie er sich theoretisch entscheiden würde, gäbe es am Wahltage nicht diesen mystischen kollektiven Sog, der ihn — ohne Rücksicht auf seine private Orientierung und oft gegen seinen Willen — zum Treuebekenntnis für de Gaulle mitreißen wird.

Aus der Küche der Meinungsforscher Trotzdem erscheint es dem Chronisten angezeigt, die Meinungsanalysen der Fachleute zu erwähnen, die bei ihren Untersuchungen von den Realitäten der Tagespolitik ausgingen und verborgenen Gefühlen der Befragten weniger Rechnung trugen. So haben die Meinungsforscher 14 Tage vor der Wahl ermittelt, daß die Zahl der Unentschlossenen im Gefolge der Erklärungen der Kandidaten im Fernsehen von 35 Prozent auf 29 Prozent zurückgegangen sei. In diesem Stadium sprachen sich für de Gaulle 43 Prozent aus; für den Kandidaten der Linken, dem theoretisch auch die Stimmen der Kommunisten zufallen sollen, Frangois Mitterrand, traten 17 Prozent ein; für den Volksrepublikaner Jean Leca-nuet, der sich kompromißlos für den Europagedanken und das Erbe Robert Schumans ausspricht, entschieden sich 6 Prozent, und dem Exponenten der Rechten, dem berühmten Straf Verteidiger Tixier- Vignancour wollten 3 Prozent ihre Stimme geben. Diese vom SOFRES-Institut durchgeführte Meinungsbefragung stimmt nicht mit einer Sondierung des Elysee überein, die mit 60 Prozent der für de Gaulle abgegebenen Stimmen rechnet.

Völlig ungewiß erscheint am Vorabend der Wahl die Haltung der französischen Landbevölkerung, die durch die von de Gaulle ausgelöste EWG-Krise stark irritiert wurde und der der französische Bauernverband eindeutig nahegelegt hat, gegen den Kandidaten des gegenwärtigen Regimes — also gegen den General — zu stimmen. Das läßt indessen nicht den Schluß zu, daß die 4 bis 5 Millionen der französischen Landbevölkerung diese Weisung en bloc befolgen würden. Die Meinungsforscher haben nämlich festgestellt, daß nur 47 Prozent der Bauern die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als eine „gute Sache“ ansehen.

Doch es scheint uns müßig, hier die verschiedenen Schwächefaktoren des Staatspräsidenten aufzuzählen, zu denen hauptsächlich die Außenpolitik gehört. Zwar macht die an John Kennedy gemahnende jugendliche Frische des Europäers Jean Lecanuet — politische Gegner der UNR sprechen ironisch von einer bewußten Imitation des verewigten USA-Präsidenten — auf viele Franzosen Eindruck — und die Tatsache, daß sich Pierre Pflimlin mit seinen Thesen voll identifizierte und ihm in Straßburg soeben einen propagandistisch nachhaltigen Empfang bereitete, hat seine Stellung moralisch erheblich gefestigt. Doch es fehlt diesem politischen Logiker die mystische Symbolwirkung des alten Mannes im Elysee. Die Geschäftsleute und „Europäer“, die Verfechter einer gemäßigten, europäischen und demokratisch ausgerichteten Politik haben zwar Gewicht und Einfluß, doch stimmenmäßig scheinen sie dem „Riesen“ nicht gewachsen, dessen politische Durchschlagskraft nicht in seinen Taten, sondern im Legendären liegt, das sich einer sachlichen Analyse entzieht. Er kann es sich offensichtlich leisten, Stolz und Menschenverachtung zu manifestieren und viele seiner Landsleute vor den Kopf zu stoßen. Er hat in den letzten Wochen die Franzosen bewußt herausgefordert, um ihnen zu demonstrieren, daß er nicht bereit ist, um die Gunst der Massen zu betteln — das Hausieren um Wählerstimmen überläßt er den „Zwergen“, die sich erdreisten, ihm seine Stellung streitig zu machen.

Keine Scheu vor der Stichwahl

Noch vor kurzem waren sich die meisten französischen Politiker darüber einig, daß er ein neues siebenjähriges Mandat nur unter der Bedingung annehmen würde, daß er sofort die absolute Mehrheit erhält. Es galt allgemein mit seinen Prestigevorstellungen als unvereinbar, daß er sich im zweiten Wahlgang einer Stichwahl stellen könnte. Heute sind sogar die hundertprozentigen Gaullisten davon überzeugt, daß er nötigenfalls auch einer Stichwahl nich' msweichen würde.

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