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Der Schlaf der frommen Sünder

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In Moskau kann ein ganz gewöhnlicher Kinobesuch von besonderer Bedeutung sein. So erging es wenigstens mir. Es war weniger der gerade laufende Film „Die Ballade vom Soldaten”, der meine Aufmerksamkeit erregte, es war vielmehr das eigenartige Innere des Vorführraumes, ein schmaler, hoher Saal. Bloß die rückwärtigen Sitzreihen waren erhöht. Ich saß oben und fühlte mich wie auf einer Tribüne. Erst auf der Straße merkte ich: Ich hatte mich in einer ehemaligen Kirche befunden, mein Sitzplatz war dort, wo früher der Altar war. Dieses Erlebnis hinterließ in mir das bittere Gefühl, eben ein Sakrileg begangen zu haben.

Ich hatte aber nicht das Gefühl, ein Sakrileg begangen zu haben, als ich das Nowodewitschii- Kloster besuchte, das heute als Museum dient. Hätte Moskau nicht schon seinen Kreml gehabt, so wäre wohl das an eine Festung erinnernde Nowodewitschij-Kloster (auf deutsch: das Neujungfrauenkloster) dazu erhoben worden. Wie im Kreml hat auch hier jeder einzelne Teil dieses herrlichen Gebäudekomplexes eine bewegte Geschichte, zum Beispiel die „Weiße KirchąTr n der ąus .Boč}abG,oiJua w seine Bereitschaft ‘aussprach.f Zer aller: Reußen zu werden, dann die Nönnen- zellen, in denen nicht nur fromme Frauen ihren Gelübden lebten, Zellen, in denen auch rebellische oder ihren Männern überdrüssig gewordene Frauen in Ruhe und Frömmigkeit auf Geheiß ihrer Ehegatten oder ihrer Familien in erzwungener Einsamkeit leben mußten. Ein ausgedehnter Friedhof gehört zu diesem nun zu einem Museum degradierten Kloster. Dort liegt so manche Berühmtheit des alten Moskau begraben: Gogol, der Autor der Toten Seelen, Aksakow, der geistige Vater der Slawophilen, Nemirowitsch-Dan- tschenko, der Begründer des modernen Theaters, dann Schauspieler und Maler, aber auch sowjetische Generäle und Marschälle, Dichter und Künstler. Dort liegt auch der Sohn des Dichters Gorkij, ermordet 1936 von der GPU. Auch Allilujewa, die Frau Stalins, und der Bruder Lenins fanden dort ihre letzte Ruhestätte. Auch Graf I.-W. ruht dort unter einem Ehrfurcht gebietenden Grabstein. Er hatte in der

Sowjetzeit eine erfolgreiche Karriere gemacht. Auf einer grünen Bank daneben sehe ich eine Dame in Schwarz sitzen, von ärmlichem Äußeren wohl, aber in alles um sich vergessender Trauer. Ist sie seine Frau, Schwester oder Tochter? Da drunten ein Toter, der zu leben verstand, hier eine Lebende, die nicht mehr in dieser Zeit lebt, eine Dame der alten Welt in einer Welt ohne Damen.

Zagorsk „arbeitet” noch

Es wäre zu ermüdend, all die Stätten’ vergangener, erhabener russischer Größe zu schildern, die in Moskau zu sehen sind, wie etwa die weltbekannte Waffenkammer, die Tretjakow-Galerie, das Puschkin-Museum, die Kirchen des Kremls, das Puppenmuseum oder das für sowjetische Verhältnisse einmalige Privatmuseum des Dichters Tschukow- skij, das sogenannte Kindermuseum von Peredelkino. Doch soll der Komplex von Zagorsk nicht unerwähnt bleiben, das historisch bedeutsame russische Kloster, welches auch heute noch, wie man in der Sowjetunion sagt, „arbeitet”, das heißt, religiösen Zweęken dient. Für einen Kunst- hMöfiktt jstf1 das Kloster fifefcte noch eine; Fundgrube: Malerei, Fresken, Stik- ker, Afihitektur und Folklore. Eine’ Zerreißprobe für das Gemüt stellt eine Besichtigung von Zagorsk dar: hier tausendjähriger christlicher Glaube in äußerlich würdevoller Gelassenheit und dort die sowjetische Umgebung, unruhig und wild, hier die herrlichen Bauten des Klosters, dort das unglaubliche Durcheinander der profanen „Architektur” der Holzstadt, da die festen Klostermauern, dort die endlose Weite der Landschaft. Im Kloster die Wachsgesichter der bärtigen Mönche, die wie aus Ikonen aussehen, und auf der Straße die nüchternen Gestalten der Sowjetbürger, hier das Kreuz und dort der Stern.

Als ersten traf ich übrigens im Zagorskkloster (richtig: Dreifaltig keitskloster des heiligen Sergius) einen katholischen Pfarrer im schwarzen Anzug mit dem weißen Kollare, der mit dem Hut in der Hand im Vorhof stand und nachdenklich vor sich hinblickte. Nun, zum Nachdenken gab es dort genug hatte nichts gelesen von Dostojewski), was aber keinen Schluß auf die Allgemeinheit zuläßt. Dostojewskijs Bücher werden auch heute in der Sowjetunion mit Begeisterung gelesen. Die letzte Neuauflage seiner Werke war in einer Stunde ausverkauft. Die Leute standen nächtelang Schlange, um in den langersehnten Besitz Dosto- jewskijscher Schriften zu gelangen.

Das Tolstoj-Haus in Moskau, in dem der Dichter von 1881 bis 1901 gelebt hatte, läßt einen glauben, man habe eben einen Besuch bei der Familie Tolstoj abgestattet.

Bezeichnend für das Tolstoj-Haus ist die Diskrepanz zwischen den das behäbige Leben einer reichen und kinderreichen Familie in der Großstadt um die Jahrhundertwende charakterisierenden Plüschsalons und Nippsachen, in einem großen Haus ohne Wasserleitung, aber mit Musiksalon und reicher Büchersammlung, und den in diesem Milieu von Tolstoj verbrachten Jahren. Es waren Jahre der großen Entschlüsse, das heißt, vor allem des Entschlusses, auf irdische Güter zu verzichten: auf Reichtum, auf die Freuden des Familienlebens, auf die Stabilität der politischen Tradition, auf die Vorteile des Adelsstandes. Ein Protest gegen Plüsch, Nippsachen und Wohlergehen. Die vielen vermummten Frauengestalten im Vorzimmer belebten auf groteske Art das Museum zu einer lebenstreuen Echtheit.

Auch aut Jasnaja Foų ana (aut deutsch: Strahlende Lichtung), dem Gute, auf dem Tolstoj fast sein ganzes Leben verbrachte, herrscht Ruhe. Die entsprechenden, überall angebrachten kleinen Täfelchen fordern sie geradezu gebieterisch. In dieser Ruhe lernt man auch die Worte des Dichters verstehen: „Ohne Jasnaja Poljana kann ich mir Rußland und mein Verhältnis zu ihm nur schwer vorstellen. Ohne Jasnaja Poljana hätte ich die allgemeinen Gesetze, die für mein Vaterland gelten, vielleicht klarer erkannt, aber ich würde es dann nicht mit so leidenschaftlicher Voreingenommenheit lieben.”

Räumen, mit seinem prächtigen Park und der herrlichen Aussicht auf den Moskaufluß und auf eine Waldebene dahinter, die sich in der unendlichen Weite am Horizont verliert. Ein Haustheater ist die besondere Attraktion des Schlosses. Ein alter Bauer übergibt einem vertrauensvoll die Schlüssel zur Besichtigung. Er spricht mit Ehrfurcht von der gräflichen Familie. Und dann spricht er von „unseren Zeiten”, „als wir zur Macht kamen”, „von unserer Sowjetmacht”. Beim Verlassen des Theaters hält er mich zurück und sagt: „Warten Sie, wenn die Fräuleins draußen sind, zeig’ ich Ihnen etwas Besonderes, was die Fräuleins nicht sehen dürfen.” Er zeigt mir dann eine Marmorbüste einer schönen Frau und erzählt mir dabei, daß sie am Anfang des 19. Jahrhunderts gelebt habe und „zu aller Schande die Geliebte des alten Grafen war”…

Und hier saß Turgenjew…

Eher bescheiden sieht das Haus einer der reichsten russischen Familien aus, das Landhaus der Familie Mamontow, welches früher der Familie Aksakow gehörte, der Familie, welche einmal eine so entscheidende Rolle im russischen Kulturleben spielte. Russische Maler und Musiker waren hier zu Hause, aber auch Gogol und Turgenjew haben dort viele Tage verbracht. Da ist die Ecke, in der Turgenjew gerne saß, hier die Allee, in der Gogol spazierte usw. Trotz einer ausgezeichneten Verbindung braucht man heute von der Stadtmitte gute zwei Stunden, um hinauszukommen; wie war dies wohl früher, als noch keine Metro, keine elektrische Bahn, keine Taxis da waren! Da war man auf so einem Landsitz vollkommen von der Welt abgeschnitten. Man aß erlesene, schwere, fette Speisen, man saß in bequemen Sesseln, man sah Weiten um sich, die nicht zu bezwingen waren, man wurde von Leibeigenen auf Schritt und Tritt bedient, und wenn man sich nicht gerade dem Wodka, dem Spiel und dem vollkommenen Nichtstun hingab, meditierte man über das Schicksal des grenzenlosen Reiches. Man beschwor Gei steh weldta man dann nicht mehr zäh- nwm k i-mhf p.. .

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