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Der Schrei aus der Tiefe

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Eines der ergreifendsten Referate auf dem Hamburger Evangelischen Kirchentag, war das des Pastors Jänicke aus Berlin über die Gewissensnot der Jugend in Ostdeutschland („Wem gehört die Schule“?), das hier auszugsweise wiedergegeben wird. „Die Oesterreichische Furche“.

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Eines der ergreifendsten Referate auf dem Hamburger Evangelischen Kirchentag, war das des Pastors Jänicke aus Berlin über die Gewissensnot der Jugend in Ostdeutschland („Wem gehört die Schule“?), das hier auszugsweise wiedergegeben wird. „Die Oesterreichische Furche“.

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Alles, was ich von euch möchte, ist dies: daß ihr einmal zehn Minuten lang die Probleme des Westens zurückstellt und auf die Stimmen unserer jungen Brüder und Schwestern jenseits der Zonengrenze hört. Stimmen von Menschen, die von euch nicht bedauert, sondern gehört und verstanden werden wollen.

Es sind Stimmen unserer Brüder — und doch könnte es sein, daß sie uns fremd klingen. Ja, es wäre sogar gut, wenn wir spürten, wie anders die Situation dort drüben ist.

Wem gehört die Schule? Wem gehört die Jugend? Wem gehört der Mensch? Das sind Fragen, über die wir hier nachdenken und reden, so, als wären das noch offene Fragen und als ginge es um einen Platz, der noch frei ist.

Im Osten ist das alles ganz anders. Da sind die Plätze alle schon besetzt. Fragt die Kirche: Wo ist denn für mich noch ein Platz frei?, so lautet die Antwort: Sslbstverständlieh sind wir nicht so unhöflich, dir keinen Platz zu gönnen. Da draußen vor der Tür, da steht der Stuhl für dich. Jeder kann in den Pausen sich dort niederlassen. Ohne Bild: Du darfst ja Christenlehre geben, du hast den Gottesdienst, den Altar, die Bibelstunde und anderes mehr. Von den 7 mal 24 Stunden der Woche habt ihr immer zwei Stunden, vielleicht sogar vier Stunden für euch. Und die übrige Zeit? Ja, die ist eben nicht eine Zeit, in der der Mensch frei wählen, entscheiden, gestalten könnte. Es ist die Zeit, in der der Mensch eindeutig festgelegt ist. Wäre da ein freier Raum, eine freie Zeit, so könnte man sagen: Nun ja, in der übrigen Zeit, da suchen wir zu gestalten, was uns in jenen zwei Stunden gesagt war. Aber eben das gibt es nicht. Ja, in der übrigen Zeit steht der Mensch einem totalen Anspruch, einem unerbittlichen Gesetz gegenüber. Dieses Gesetz heißt: Alles für die Produktion.

Dies ist das Gesetz des Handelns und des Seins oder kurz: das neue Ethos, das seinen totalen Anspruch auf den Menschen erhebt. Und dieses Ethos ist wissenschaftlich begründet. Das Wort „wissenschaftlich“ darf aber nicht im westlichen Sinne mißverstanden werden als objektive, weltanschaulich neutrale Forschung. Es gibt vielmehr, so sagt man, nur eine Wissenschaft, die diesen Namen verdient: die Wissenschaft des historisch-dialektischen Materialismus. Und nun wünschte ich, ihr wendet euch nicht mit Grausen von diesem Namen. Nein, begreift zunächst einmal, wie überwältigend die Verheißungen dieser Wissenschaft auf viele junge Menschen wirken. Die Verheißung lautet: Diese Welt ist erkennbar. Es gibt einen Schlüssel zu all ihren Geheimnissen, richtiger: Es gibt grund-

sätzlich keine „Geheimnisse“, sondern nur „noch nicht Erforschtes“. So forscht, lernt, erkennt die Wirklichkeit, unterwerft euch das Unbekannte, dann wird euch mit der Angst vor dem Unheimlichen auch der religiöse Aberglaube von allein vergehen. Die Kirche hat die Positionen dieser Welt nicht besetzt. So besetzt ihr sie, macht euch die Erde Untertan. Brüder im Westen, dünkt euch nicht zu erhaben über diese Wissenschaft. Ihr müßt sie kennen, wenn ihr dagegen gewappnet sein wollt.

So also lebt der junge Mensch: Ständig in Anspruch genommen, ständig vom Verdacht der Schuld gegenüber dem neuen Ethos be-droht, und dadurch ständig Gewissenskonflikten ausgesetzt, denen er eigentlich noch gar nicht gewachsen ist und somit ständig überfordert, äußerlich wie innerlich.

Was heißt angesichts dieser Situation „christliche Lebensgestaltung“?

Ahnt ihr, wie hier alle Programme zu bloßen Theorien werden? Wie hier das Bild eines unter dem Totalanspruch Jesu Christi gänzlich durchgestalteten Lebens zerschlagen wird?

Hört die Stimme unserer Brüder und Schwestern! Sie rufen einmal mit aller Dringlichkeit: Gebt uns grundsätzliche Weisungen! Sagt uns, wie christliches Leben aussieht, und wie im Einzelfall christliche Entscheidung zu lauten hat. Wir können nicht leben, wenn wir nicht bombenfeste Grundsätze haben.

Und dazu die anderen Stimmen — aber es sind oft genug die Stimmen der' gleichen Menschen: Wir gehen kaputt an den Grundsätzen. Wir können sie nicht verwirklichen. Beispiel: Ihr sagt: Ein Christ lügt nicht. Ich aber muß lügen. Mein Leben ist ein Kompromiß. Ihr sagt: Wer Frieden will, muß Versöhnung meinen. Ich aber habe eine Haßresolution unterschrieben, die gegen mein Gewissen war. Ich allein hätte die Folgen einer Unterschriftsverweigerung auf mich genommen, aber, meine Eltern standen gegen mich. Mein Vater ist Staatsbeamter. Auch er hätte die Folgen meiner Weigerung tragen müssen. Ich brachte es nicht fertig, meinen Eltern, die nicht im Glauben stehen, einen Weg aufzuerlegen, den ich allein im Glauben wohl gegangen wäre.

Gewiß, hell leuchtete das Zeugnis jener Oberschüler, die lieber auf Abitur und Studium verzichten wollten, als etwas gegen ihr Gewissen zu tun. Aber seht die vielen, die sich durch Leistung von Unterschriften gegen ihr Gewissen gebunden haben — auch sie sind getauft, auch sie gehören zur jungen Gemeinde. Denkt an die vielen, die aus Angst Spitzeldienste getan haben. Und

denkt daran, daß auch die tapferen Bekenner nicht Heroen sind, sondern junge Menschen in der Entwicklung. Denkt an die vielen Ratlosen, Verbitterten, Enttäuschten. (Vergegenwärtigt euch auch, was es für den jungen Menschen bedeutet, von einem Tag zum anderen eine Kursänderung von etwa 180 zu erleben. Gestern noch konnte man von der Schule verwiesen werden, wenn man es nur als immerhin' möglich hinstellte, daß die Presse falsch unterrichtet sei. Heute bekennt dieselbe Presse die Irrtümer der Regierung, und die gleiche Presse fordert mit gleichem Anspruch den totalen Einsatz für den neuen Kurs und das Bekenntnis, daß das Vertrauen zur Regierung noch größer geworden sei. Der Kurs hat sich geändert, weil die ökonomischen Verhältnisse es erforderten. Nicht geändert hat sich die Auffassung vom Menschen, nicht geändert hat sich das Ethos. Die Frage bleibt: Wann werden die ökonomischen Verhältnisse eine neue Kursänderung erfordern?)

Was ist in solcher Lage unsere Aufgabe? Sollen wir christliche Lebensideale aufstellen? Sollen wir den jungen Menschen, die von unzähligen Anforderungen bedrängt sind, nun obendrein noch mit dem christlichen Gesetz kommen? Sollen wir die Tür schließen vor allen, die keinen klaren, kompromißlosen Weg gehen? Was heißt es in der Welt, die vom Gesetz der Sollerfüllung beherrscht ist, die Forderungen etwa der täglichen Bibellese aufzustellen oder des sonntäglichen Gottesdienstbesuches — wenn zum Beispiel die Zeugnis- und Prämienverteilungen grundsätzlich am Sonntag erfolgen? Was heißt hier wirklich Lebenshilfe vom Evangelium her?

Wir werden die Antwort nur geben können, indem wir auf unseren Herrn selbst

schauen. Um Christi willen müssen wir die Tür weit aufmachen für alle, auch gerade für die, deren Leben nur Bruchstück ist, für die Geängstigten, Verzagten, auch für die Spitzel, auch für die Gegner, sie mögen kommen oder nicht. In der Jungen Gemeinde soll zu spüren sein, daß die Liebe nicht richtet, nicht die Welt verurteilt. Die Liebe wirbt, wartet, hofft und hat Geduld. Die Liebe ist einfältig. Und allein die Liebe bringt uns in Ordnung.

Wir müssen es bekennen: So reich sind wir nicht, daß wir in jedem Fall wüßten, was christliche Entscheidung ist. Aber wir sind doch so reich, daß wir wissen: Unsere Aufgabe ist, den Angefochtenen eine Gemeinschaft zu geben, die sie trägt. Da sollen sie fühlen: Hier ist eine andere Atmosphäre als sonst in der Welt. Ueberau will man etwas von mir, hier aber trägt man mich und erträgt mich und achtet mich, so wie ich bin. Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!

Christliche Gemeinde ist keine Gemeinde von Vollkommenen, sondern von Sündern, von Gott geliebten Sündern. Junge Gemeinde steht heute im Osten in vorderster Front. Sie ficht es aus, n i c h t in erster Linie die Pastoren. Es könnte sein, daß die Schwierigkeiten der Jungen Gemeinde wirklich auch dem Westen etwas zu sagen haben, mitten hinein in alle komplizierte Problematik. Nämlich schlicht dies, wie einfach die Entscheidungen im Grunde werden, wenn es ernst wird. Oder dies, daß man das Bild des Gekreuzigten vor Augen haben muß, wenn man in der Anfechtung bestehen will.

Fragt ihr: Was können wir für den Osten tun? Laßt es euch von drüben her sagen: Nehmt die Freiheit, die euch gegeben ist, als Gnadenangebot Gottes. Der Osten wurde ausersehen, zu leiden. Ihr seid ausersehen, noch zu gestalten. Benutzt diese Freiheit, daß nicht Gottes Gericht über euch komme. So tut ihr auch dem Osten einen Dienst.

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