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Der sechste Band des Groben Herder

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Der Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Fünfte, neubearbeitete Auflage von Herders Konversationslexikon. Sechster Band. Luksor bis Paderborn. Verlag Herder, Freiburg 1955. Großoktav. 4 Seiten und 1520 Spalten.

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Der Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Fünfte, neubearbeitete Auflage von Herders Konversationslexikon. Sechster Band. Luksor bis Paderborn. Verlag Herder, Freiburg 1955. Großoktav. 4 Seiten und 1520 Spalten.

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In seinem neuesten Band bestätigt das nun rasch dem Abschluß sich nähernde repräsentative Nachschlagewerk des deutschen Katholizismus wiederum die zahlreichen Vorzüge, die ihm eignen. Die Bebilderung bietet hohen Genuß. Sie ist mit erlesenem Geschmack ausgewählt, ergänzt musterhaft den Text und entzückt durch die Vortrefflichkeit der Reproduktionen. Davon liefern etwa die Tafeln zur Niederländischen Kunst, zur Miniatur und zum Mosaik oder die Wiedergabe je eines Gemäldes von Marees, Matisse, Memling, Murillo, aber auch die Illustrationen zu den Schlagworten Lurche, Mineralien, Muscheln und Schnecken Zeugnis. Das beträchtliche Niveau der Landkarten möge man an den Beispielen Mittel- und Nordamerika, Ostasien und Oesterreich ermessen. Viel Freude bereiten, wie stets, die Rahmenartikel mit ihrer Stütze am Bild; sie sind diesmal der Musik, der Mutter, dem Opfer gewidmet.

Es wäre jedoch Unrecht, den Akzent auf die formalen Werte und auf die an sich gar anerkennenswerten organisatorischen Eigenschaften des dadurch so sehr benutzbaren Lexikons zu legen. Sein Hauptverdienst beruht auf der Weite des Blicks, auf der dennoch unerschütterlichen Wahrung des weltanschaulichen Standorts, auf der meisterhaften ge- drängten Konzision, mit der die wesentlichen Artikel alles Wesentliche zu bringen wissen, auf der zumeist sprachlich gefeilten Darstellung und auf einer Zeitverbundenheit, die trotzdem sich vor Zugeständnissen an vorbeihastende Konjunkturen hütet.

Im Mittelpunkt dieses Bandes beharren, und an ihnen dürfen wir das eben Gerühmte erproben, die biographischen Würdigungen Martin Luthers, Karl Marx', Michelangelos, Mohammeds, Mozarts, Napoleons und Nietzsches, die Länderartikel Mexiko, Niederlande und Oesterreich, die großartige Gesamtschau auf das 19. lahrhundert und auf das System der Naturwissenschaften, die eindringlichen und übersichtlichen Erörterungen über Magnetismus, Mikroskop und Molekül, dann, aus dem Spezialgebiet des Großen Herder, die schönen und taktvollen, von Ueberschwang freien, doch herzlichen Ausführungen über Maria, die Messe, Missionen, Mönchtum und Mystik. Wie gründlich unterscheiden sich die ihre katholische Sicht nicht verleugnenden, verständigen und ehrerbietigen Porträts Luthers oder Mohammeds, die einsichtigen und der Größe des Dargestellten, aber auch der seiner Irrungen gleichermaßen gerechten Schilderungen Marx' und Nietzsches von dem, was einst im überwundenen katholischen Getto zu diesem Themen zu lesen war! Man wünschte, daß im Umkreis der Jünger und Erben dieser beiden Geistesriesen ähnliche Fühlsamkeit für die Vorkämpfer christlichen Gedankenguts zu Hause wäre. Doch die „Bolsaja Enciklopedija“ dürfte kaum einem Thomas von Aquino mit soviel Unbefangenheit gegenübertreten, wie der Große Herder dem Schöpfer des modernen dialektischen Materialismus.

Aus der Menge der kürzeren wohlgelungenen Artikel seien herausgehoben: die Biographien von Lullus, Maria Theresia, Mauriac, Metternich (besonders gut), Mickiewicz (leider mit ganz unzulänglichen Literaturangaben), Milton, Mussolini (gerecht, ausgezeichnet), Napoleon III. (kein Hinweis auf seine umstrittene legitime Abkunft, auf seine ursprüngliche

cllle QtmtxjthtJnimQtjt su Dezlehen durch die Buchhandlung „HEROLD“, Wien Vin, Strozzigasse 8 Verbindung mit revolutionären Geheimbünden, noch auf seine Anglophilie, noch auf die Korruption seiner Umgebung), Newman (tief und glänzend). Sodann die Städteartikel Madrid, Mailand, München, New York, Nürnberg. Ins Gebiet der Geschichte und der Geographie gehören die vortrefflichen Zusammenfassungen über Mayakultur, das Mittelalter (Literatur ungenügend, sogar Heer fehlt), die Mongolen (Literaturauswahl unbefriedigend: es mangelt das russische Hauptwerk von Jakubovskij), die Normannen (hier wiederum fast nichts von der maßgebenden skandinavischen Literatur — Arne, Stehder-Petersen —, geschweige von der russischen — Grekov, Presnjakov, Vernadskij — oder von der angelsächsischen, mit Cross an der Spitze), über Orientalistik, das Meer und die Ostsee. Zur Religionswissenschaft erwähnen wir noch die Schlagworte Manichäismus (vorzüglich), Metaphysik, Moraltheologie, Mormonen, Mythologie, Offenbarung, Oekumenische Bewegung, Ontologie, Orden. Literatur und Kunst betreffen, des Lobes würdig, die Betrachtungen über Lyrik, Märchen, Minnesang, Novelle, über Malerei, Manierismus (hervorragend), Moderne Kunst (geistreich, profund und gehältig), Musik, Neue Musik (vorzüglich), Oper, Orgel und Ornament. Politische Stoffe sind unter den Schlagworten Macht, Masse, Mehrheit, Menschenrechte. Militarismus, Monarchie (allzu apodiktisch im Urteil über die angebliche Erledigung dieser Regierungsform), Nation, Neutralität, Oeffentliche Meinung enthalten. Der ausführliche Beitrag 7um NationalSozialismus befriedigt nicht ganz. Er hat einen .Unterton, der uns nicht gefallen will und den der Schlußsatz andeuten mag: „Die Versuche, den Nationalsozialismus durch Entnazifizierung zu überwinden, erwiesen sich als wenig glücklich; doch ist eine Wiederbelebung des Nationalsozialismus in seiner alten Form nicht zu erwarten, solange die lebendige Erinnerung an ihn besteht.“ Das Mißbehagen über diesen Artikel wird durch die, dem Kundigen befremdende, Auswahl der Literatur zum Thema verstärkt.

Es würde zu weit führen, noch auf die wichtigsten Artikel aus mir fernerliegenden Wissensgebieten auch nur in dem Umfange hinzuweisen, wie das in dieser Anzeige in bezug auf einige mir vertrautere Disziplinen geschehen ist. Nur ein Artikel sei noch wegen des besonderen Interesses näher geprüft, das er in Oesterreich wecken muß: der unserem Lande gewidmete. Wir dürfen ihn, zu unserer Freude, durchaus bejahen. Die kleinen Schönheitsfehler — zum Beispiel bezweifelbare Angaben über die Auflagenhöhe der österreichischen Zeitungen; „Bildtelegraf“, „Weltpresse“ und „Abend“ fehlen unter der Tagespresse, die Wochenausgabe der „Presse“ unter den Wochenblättern, das „Forum“ unter den Zeitschriften — sind unbeträchtlich. Die Geschichte Oesterreichs wird gut zusammengefaßt. Wir hätten höchstens bei den Anfängen verzeichnet gewünscht, daß sie keineswegs mit der germanischen Besiedlung anhob und die „im Zusammenhang“ mit Schuschniggs Volksabstimmung angeblich „ausbrechenden Unruhen“ im März 193 8 waren reine Erfindung der Goebbels-Propaganda. Glücklicherweise hat sich auch der prophetische Schlußsatz nicht bewahrheitet, „bis jetzt (195 5) sei ein Ende der Besetzung und die Unterzeichnung eines österreichischen Staatsvertrags nicht abzusehen“. Uneingeschränkten Beifall zollen wir der knappen und inhaltsprallen Uebersicht der österreichischen Literaturgeschichte, die alle wesentlichen Namen, fast nur sie, aufruft und die höchstens bei Nestroy danebengreift. Prächtig die Abschnitte über Kunst und Musik. Die Literaturangaben sind, bedauerlicherweise, auch bei den so vortrefflichen Oesterreich -Artikeln starker Korrektur bedürftig. So bringen die Hilfswerke zur Geschichte Ueberflüssiges, während Grundlegendes fehlt.

Zuletzt sei das unvermeidliche Kapitel der wünschbaren Ergänzungen bzw. der zu schließenden Lücken gestreift. Wieder beschränke ich mich da. unter Anerkennung der Schwierigkeiten, die sich der verdienten Lexikonredaktion beim Konflikt zwischen vorhandenem Raum und zu behandelndem Stoff darbieten, auf ein mir geläufigeres Fachgebiet. Untersuchen wir also flüchtig die, meiner Ansicht nach, in den Großen Herder hineingehörenden und dort nicht zu findenden Biographien. (Selbstverständlich, ohne daß „Vollständigkeit der auszufüllenden Lücken“ erstrebt würde.) Hier ein kleiner Katalog: der polnische Philosoph Lutoslawski, der französische Staatsmann Luynes, der Historiker der Revolution und des Empire Madelin, der spanische Dichter Ramiro de Maeztu, der bedeutende katholische Dichter und Denker Italiens Manacorda, General Mangin, der Venezianer Doge Manin, Marschall Manoury, der berühmte mittelalterliche Pariser Revolutionsführer Etienne Marcel, der Finanzmann und Minister Enguerrand de Marigny, der zeitgenössische französische Politiker Louis Marin, der Revolutionsgeneral Marceau, der spanische Staatslenker Martinez Campos, der Aegyptologe Maspero, der französische Kanzler Maupeou, der belgische Nationalheld und Brüsseler Bürgermeister Adolphe Max, der belgische katholische Poet Camille Melloy und sein ebenfalls geistlicher ungarischer Bruder in Apoll Läszlö Mecs, das führende Konventmitglied Merlin (de Douai), der gefeierte Flieger Mermoz, der österreichische Diplomat Mercy d'Argenteau, der Operettenkomponist Messager, der österreichische Außenminister Graf Mensdorff, des Staatskanzlers Sohn Fürst Richard Metternich und seine so berühmte Gattin Pauline, der sowjetische Theatermann Meyerhold, der Historiker Mignet, der italienische Dichter und Philosoph Mignosi (einer der Wegbereiter der katholischen Erneuerung seines Landes), Octave Mirbeau, Charles Moeller — einer der wichtigsten katholischen Kritiker des französischen Sprachraums —, der Staatsmann des französischen Vormärz Mole, der heldenhafte Verteidiger Kanadas Montcalm, das durch die Dichtung allbekannte Opfer der Eifersucht Christinens von Schweden Monaldeschi, die Familie Mont-morency samt einigen ihrer denkwürdigsten Angehörigen, der lange maßgebende Mann am Hof Franz losephs Fürst Montenuovo, die Venezianer Morosini, der große polnische Barockdichter Morsztyn, der armenische Historiker Moses von Chorene. der „Henker“ Mürav'ev, die beiden ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc und Imre Nagy, der spanische Staatsmann Narvaez, der polnische Historiker und Dichter Bischof Naruszewicz, der scharmante Rokokomaler Nattier, der falsche Dauphin Uhrmacher Naundorff. der „König von Korsika“ Neuhof, der Vater des Tabaks Nicot, der überragende Slawist Niederle, Marschall Niel, mehrere Noailles (außer der Dichterin), die französische katholische Lyrikerin Marie Noel, der Chirurg Nothnagel, der ausgezeichnete belgische Romancier Pierre Nothomb, der tschechis-he Literaturhistoriker und Kritiker Arne Noväk, Georges Ohnet, der türkische Feldherr Omer-Pascha, der spanisch-katalonische Dichter und Philosoph Eugenio d'Ors, der sowjetische Erzähler Nikolaj Ostrovskij.

Manche der Fehlenden werden vielleicht in einem Ergänzungsband Aufnahme erhalten, den wir dem wohlgeratenen, zuverlässigen und anregenden Lexikon aus aufrichtiger Ueberzeugung wünschen. Schon deshalb, weil ein derartiger Band nicht nur Bereicherung für uns alle brächte, sondern auch die verdiente Anerkennung durch buchhändlerischen Erfolg, die einem so groß angelegten und so glücklich durchgeführten Unternehmen gebührt.

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