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Der Seil u Im eister

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Es war zu der Zeit, als die fremden Soldaten einmarschierten. Das ging damals sehr rasch vor sich. Widerstand wurde leider nicht einmal symbolisch geleistet. Das sollte sich später sehr nachteilig auswirken. Daß die fremden Soldaten und ihre Befehlshaber wieder einmal das Land verlassen würden und daß man für diesen Zeitpunkt Beweise für eine mutige und sinnvolle Resistance zur Hand haben mußte, um vor sich selbst und vor der Welt bestehen zu können, daran dachte niemand. Der Tag X stand so außerhalb aller Erwartungen, daß der Einzug der fremden Streitmacht mancherorts sogar durch eilig errichtete Triumphpforten aus Tannenreiser führen mußte. Wie weit dies nur deshalb geschah, um die Einmarschierenden milder zu stimmen und ihnen keine Gelegenheit zu bieten, sich so zu benehmen, wie sich Einmarschierende zuweilen zu benehmen pflegen, ließ sich nicht ergründen. In drei Tagen waren das Land und seine schöne, weltberühmte Hauptstadt besetzt.

Diesen Umstand nützten die Propagandisten der Eroberer sehr flott zu der Erklärung, daß es sich keineswegs um eine unblutige Eroberung, sondern um eine Befreiung gehandelt habe. Dies war dann auch der Beginn einer Welle von Befreiungen, gegen die sich eigentümlicherweise kein betroffenes Land sehr wirkungsvoll zur Wehr setzen konnte. Die Zeit schien solchen Unternehmungen günstig gesinnt zu sein.

Seit dem Einmarsch, das war seit zwei Tagen, wurde in der Realschule des Vorortebezirks kein Unterricht gehalten. Dennoch schlenderte Alfred Falotti die kurze Strecke Weges von seinem Wohnhaus, einem modernen Bienenstock, zur Schule hin. Etwas später als sonst, aber immerhin. Er schlenderte. Und er kam sich ganz eigenartig, dabei vor..„ Rj^nggw^te^jrs machte ihm zu schaffen. An einem .Wochentag außerhalb der. Ferien ersfc.um-.neiHi Uhr c.v.i Sem Weg zur Schule zu sein, das produzierte ein seltenes Hochgefühl. Auf dem Schlendcrweg hatte er das „Junge, Junge, schon wieder einmal zu spät“ und „Junge, benimm dich wie ein Realschüler“ des Direktors im Ohr. Der- stand sonst jeden Morgen die letzte Viertelstunde vor acht vor dem Schultor und wachte mit beispielloser Strenge über die anrückenden Zöglinge. Nichts anderes waren sie in seinen Augen. Direktor Lachner war gefürchtet. Fraglich, ob er geachtet war. Keinesfalls war er beliebt.

Alfred Falotti trabte also die Seitenfront der Schule entlang. Im Erdgeschoß, vor dem Hoftor, lag die Wohnung des Oberschulwarts. Seine Tochter Olly steckte ihr langes Gesicht auf die Straße hinaus. Sie war kein unhübsches Mädchen, aber sie wäre noch hübscher gewesen, würden nicht so viele Pickel ihr langes Gesicht bevölkert haben.

„Hallo, Olly, jetzt ist aus dem Bau doch noch eine Kaserne geworden. Große Zeiten brechen an.“

„Aber nicht für mich. Ich ziehe aus. Ich mag nicht mit Soldaten unter einem Dach wohnen. — Gib acht. Vor dem Tor steht der Alte.“

Damit war der Direktor gemeint.

„Ach, der. Wird sich jetzt auch umstellen müssen.“

„Du wirst dich wundern. Der hat sich schon umgestellt. Wiedersehen. Ich muß ietzt kochen “

Olly war Halbwaise, und sehr darauf bedacht ihren Vater nicht Hungers sterben zu lr, ;sen.

Der Junge kam an der Ecke an. Schräg gegenüber lag der Marktplatz. Vor der Hauptfront der Schule breitete sich eine freie Fläche aus. Eine sogenannte Gstätten. Sie war sonst zu nichts nütze. Nun standen darauf die Fahrzeuge der Befreier. Auch einige Befreier selbst standen herum oder exerzierten.

Alfred Falotti blickte nach links, in Richtung Schultor. Dort stand Direktor Lachner. Er trug wie immer den schwarzen Rock, die gestreifte Hose und den grauen Hut. Er war ein stattlicher Mann und hatte auf der Nase einen Kneifer sitzen. Kein anderes Mitglied des Lehrkörpers hatte auf der Nase einen Kneifer sitzen. Jene Professoren, deren Sehschärfe im Dienste an der Jugend gelitten hatte, trugen eine Brille mit zwei Bügeln. Die konnten auch* als Beweis dafür angesehen werden, daß die Ohren nicht allein zum Hören da waren. Direktor Lachner trug seinen Kneifer so, als wäre er das Zeichen seiner Macht, über das lebende und tote Inventar der Schule gebieten zu können.

An diesem Morgen trug er aber noch etwas, was Alfred Falotti, da er seinen Direktor vorerst nur im Profil bewundern durfte und außerdem nur langsam näher kam, noch nicht wahrnehmen konnte. Die Beine gegrätscht, die Hände auf dem Rücken, stand Direktor Lachner da wie ein Wachtposten. Vorsichtig kam Alfred näher. Und plötzlich stockte ihm der Atem. Der Direktor hatte einen Orden angesteckt. Auf der linken Brustseite. An einem schwarzweiß gestreiften Band hing ein schwarzes Kreuz mit Silberrand. Während des letzten Krieges wurde es von einem verbündeten Staat verliehen. Den Krieg selbst kannte Alfred nur aus Erzählungen und Büchern. Das Kreuz hatte er

eigenen.Landes; neben vielen anderen Dekorationen, Aber immer als-deren letzte. Und nun hing dieses Kreuz ganz allein auf der Brust des Direktors. Da es eine Dekoration jenes Staates war, dessen Nachfolge die Befreierarmee ausgeschickt hatte, war das eine recht plumpe Anbiederung.

Anscheinend aber hatte es der geschätzte Herr Direktor sehr nötig, den Spieß so rasch umzudrehen. Und wie auf Wunsch stiegen aus Alfreds Erinnerung einige Ereignisse auf, die vor seinem inneren Auge im Zeitraffertempo abrollten.

Zwei Jahre lag das schon zurück. Der Außenminister der nunmehr aggressiven Macht kam in die Hauptstadt des nunmehr besetzten Landes. Der Außenminister des Nachbarstaates mochte gewiß ein honoriger Mann sein. Offensichtlich bediente sich das Regime seiner als Aushängeschild. .Der Außenminister war doch ein Diplomat der alten Schule. Nun war er im Lande, um zu unterhandeln. Beide Seiten erhofften sich viel davon. Die Hoffnungen waren entgegengesetzt und sie erfüllten sich nicht. Im Lande gab es aber Leute, die unverhohlen mit der Partei des fremden Außenministers hofften und dessen Anwesenheit zum Anlaß nahmen, ihre politischen und gleicherweise hochverräterischen Neigungen offen zu zeigen. Beiderseits der Straßen, durch die der Außenminister vom Bahnhof zur Botschaft seines Landes fuhr, standen diese Grenzzaungucker und entboten dem Diplomaten des vermeintlichen Paradieses jenen Gruß, der im Lande selbst verständlicherweise verboten war. Die Polizei verhaftete da und dort, aber das machte die Sache nicht besser.

Was aber hatte dieser Besuch mit *dem Schuldirektor zu tun? Wie sich gleich zeigen wird, eine ganze Menge. An diesem Tage fehlten nämlich einige Schüler beim Unterricht. Vier waren krank und einer hatte beim Begräbnis seines Großvaters anwesend zu sein. Wenn sonst die Angabe dieser Gründe vollends ausreichte, den Direktor zu beruhigen, war dies für diesen Tag nicht möglich. Alle Fehlenden wurden vom Direktor in ein fast inquisitorisch zu nennendes Verhör gezogen, als dessen Ergebnis der Direktor gern gehört hätte, daß dieser oder jener ja gar nicht krank gewesen war, sondern dem Außenminister des Nachbarstaates den verbotenen Willkommgruß entboten habe.

Alfred Falotti wußte von diesem Verhör aus erster Quelle. Sein Freund Willy war eben an diesem Tag mit Fieber zu Bett gelegen. Er hatte beim besten Willen nicht in die Schule kommen können. Aber der Direktor glaubte ihm nicht. Das bißchen Fieber, so meinte er, würde ihn doch nicht gehindert haben ... Den Rest ließ er offen. Und er bohrte weiter und weiter, wie es ein gewissenhafter Schulmann nie hätte tun dürfen.

Die Sache mit den Verhören sprach sich trotz Drohungen und Schweigegebot rasch herum. Seither war der Direktor noch weniger beliebt.

Und nun stand er da und mißbrauchte auch noch seine Kriegsauszeichnung.

Wie aus einer Nebelwand tauchte das Bild des Gefürchteten wieder vor Alfred auf. Unverwandt blickte ihn der Direktor an. Offensichtlich dauerte es ihm schon zu lange, daß der Schüler Falotti mit seinem Gruß warten ließ.

„Guten Morgen, Herr Direktor“, sagte Alfred schließlich.

„Das heißt jetzt anders, Junge“, sagte der Direktor und hob den rechten Arm. Dazu sagte er zwei Worte: den neuen Gruß. Alfred nickte nur. Er kannte sich aber trotzdem nicht mehr aus. Was war noch wahr an diesem Direktor? Das Verhör vor zwei Jahren oder die Ermahnung, nicht mehr mit „Guten Morgen“ zu grüßen? Konnte ein Mann von den Qualitäten des Direktors irren? Oder andere so täuschen? Alfred Falotti rührte sich nicht von seinem Platz. Er starrte den Direktor nur an, lange und unverhohlen, so daß es dem schon unangenehm zu werden begann.

Soldaten gingen in der Schule ein und aus. Auch Offiziere. Einer sogar mit einer silbernen Fangschnur an der rechten Seite.

„Geh weiter, Junge, du stehst hier im Wege.“ Dazu eine Handbewegung, die die Anordnung mehr als deutlich unterstrich.

Ein älterer Soldat mit zwei Winkeln am linken Oberarm kam vom Platz herüber und schob sich am Direktor vorbei in die Schule.

„Na, schon wieder Ärger mit der Jugend, Schulmeester?“

Der Direktor fühlte sich gewürgt, aber er ließ sich nichts anmerken. Der Soldat sollte seine Freude haben. Alfred hatte sie auch. Daß er das hatte hören können!

„Schulmeester“. rief er so laut, daß einige Soldaten zu ihm herüberäugten. Dann ging er in den nahen Park.

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