6617068-1955_38_07.jpg
Digital In Arbeit

Der Sommerfrischler

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Stunde vor Abgang des Zuges kommt der Familienvater, dessen Familie in der Sommerfrische ist, zu seinem guten Bekannten. In der einen Hand trägt er eine Lampenkugel aus Glas, in der anderen Hand ein Kinderfahrrad, unter den Arm hat'er einen winzigen Kindersarg geklemmt. Erschöpft läßt er sich auf das Sofa fallen. „Mein Lieber, mein Guter“ — murmelt er, nach Luft ringend, während seine Augen verstört um sich blicken — „ich habe eine Bitte: bitte, bitte, um Gottes Willen, borge mir bis morgen deinen Revolver, erweise mir diesen Freundschaftsdienst.“

„Wozu brauchst du einen Revolver?“

„Ach, ich brauche ihn einfach! Oh, mein Gott! Gib mir mal einen Schluck Wasser; schnell, Wasser! — Also, ich brauche ihn, nachts muß ich durch einen Wald gehen, man weiß nie — auf alle Fälle, hab ich mir gedacht; borg ihn mir, tu mir den Gefallen!“

Der gute Bekannte blickt in das blasse Gesicht des Familienvaters, sieht die nasse Stirn, die gehetzten Augen und hebt bedauernd die Schultern: „Du schwindelst ja, Iwan Iwano-witsch! Der Teufel hole deinen dunklen Wald, sicher hast du etwas ganz anderes im Sinn. Ich sehe es dir doch an, daß du dir nichts Gutes vorgenommen hast. Was ist los, was hast du? Was soll der Kindersarg unter deinem Arm?“

„Wasser! Oh, mein Gott! Warte, laß mich verschnaufen! Bin abgehetzt wie ein Hund! In meinem Kopf und im ganzen Körper habe ich ein Gefühl, als hätte man mir alle Adern und Sehnen herausgezogen und über einem Feuer geröstet. Ich kann nicht mehr. Sei mein Freund, frage mich nicht nach Einzelheiten, gib mir den Revolver, ich flehe dich an!“

„Aber, aber, Iwan Iwanowitsch! Du mußt diesen Kleinmut abschütteln, bist Regierungsrat, Familienvater! Schämen solltest du dich!“

„Du hast es leicht, andere zu belehren; lebst in der Stadt und kennst nicht diese verdammten Sommerfrischen. Gib mir noch Wasser! Wärst du an meiner Stelle, würdest du noch ganz andere Töne von dir geben. Ich bin ein Märtyrer! Ein Lasttier, ein Sklave, ein feiger Schuft, der immer 'noch auf etwas wartet, statt sich aus dieser Welt davonzumachen. Ich bin ein Waschlappen, ein Idiot, wozu lebe ich, wozu?“ Der Familien-| vater springt auf, wirft die Arme hoch und ' beginnt ruhelos hin und her zu laufen. „Sage mir, wozu ich lebe!“ schreit er. Er bleibt vor seinem Bekannten stehen und hält ihn an einem seiner Jackenknöpfe fest: „Sag mir, wozu diese ununterbrochene Kette moralischer und physischer Leiden? Wenn ich wenigstens der Märtyrer einer Idee wäre, dann würde ich es noch begreifen, aber wegen Damenblusen und Kindersärgen? Nein, nein und nochmals nein! Danke ergebenst! Ich habe genug, genug!“

„Schrei, bitte, nicht so laut, die Nachbarn hören zu.“

„Sollen es die Nachbarn nur hören, mir ist alles egal! Gibst du mir den Revolver nicht, gibt ihn ein anderer; am Leben bleibe ich auf keinen Fall, das steht fest!“

„Halt, halt, siehst du, nun hast du mir den Knopf abgerissen. Also sprich sachlich, ich verstehe nicht: wieso ist dein Leben denn so schrecklich? Ich bitte dich!“

„Wieso? Du fragst, wieso? Bitte schön, ich werde dir gleich alles erzählen; bitte, ich werde mich aussprechen, vielleicht wird es mir dann nicht mehr so abscheulich ums Herz sein. Setzen wir uns! Ich will mich kurz fassen, denn ich muß in einer Stunde auf dem Bahnhof sein, vorher aber muß ich noch in einem Fischladen zwei Dosen Gabelbissen kaufen und in einem andern Laden zwei Pfund Marmelade für Maria Osipowna besorgen, der Teufel möge ihr die Zunge abbeißen! — Also nehmen wir beispielsweise den heutigen Tag: Unsere Büros sind dunkel und stickig, außerdem herrscht dort zur Zeit ein vorweltliches Chaos, mein Sekretär ist im Urlaub, Karzpow feiert Hochzeit, die Vor-zimmedamen haben ihre Sommeramouren und ihre Gesangvereine. Alle sind unausgeschlafen, schlecht gelaunt, kein Akt kommt rechtzeitig; da hilft kein gutes Zureden und kein Gebrüll ...

Das Amt des Sekretärs versieht einstweilen ein Subjekt, taub auf einem Ohr und verliebt bis an den Halskragen, der hat Mühe, die Ein- und Ausgänge zu unterscheiden; ein richtiger Holzkopf, der nichts kapiert, ich muß seine Arbeit mit erledigen. Ohne den Sekretär und Karzpow weiß niemand, wo etwas liegt und wohin ein Akt zu schicken ist. Das Publikum ist auch ganz aus dem Häuschen, alle haben es eilig, ärgern sich, drohen. Es herrscht solch ein Durcheinander, daß man laut schreien möchte. Die Akten häufen sich zu Gebirgen .. und immer ein und dasselbe: Beschwerden. Ermittlungen, Beschwerden, Ermittlungen. Eine Monotonie, zum Eingehen! Also, mit einem Wort, die Augen treten einem aus dem Kopf. Um dem Irrsinn das I-Tüpfelchen aufzusetzen, läßt sich unser Chef gerade scheiden und hat Ischias, er stöhnt und jammert dermaßen, daß man aus der Haut fahren möchte, es ist unerträglich!“

Der Familienvater springt auf und setzt sich sofort wieder: „Na, das sind alles Kleinigkeiten, hör weiter zu. — Zerschlagen und ausgepumpt verläßt man das Amt; man müßte eine ordentliche Mahlzeit nehmen und sich schlafen legen, aber das kommt gar nicht in Frage, man ist ein Sommerfrischler. Das heißt, ein Sklave, ein Fuß-abstreifer! In unserer Sommerfrische ist nämlich eine reizende Unsitte ausgebrochen: sobald ein

Sommerfrischler in die Stadt fährt, wird er mit Aufträgen überhäuft. Ueber die liebe Ehegattin will ich kein Wort verlieren; aber jeder andere Sommerfrischler, jede beliebige Null nimmt sich das Recht heraus, ihre Besorgungen aufzutragen. Die werte Gattin verlangt, ich solle die Schneiderin aufsuchen und sie auszanken, weil die Bluse zu eng geraten ist; dem Töchterchen muß ich die Schuhe umtauschen; der Schwägerin soll ich zwei Meter rote Seide kaufen, nach einem mitgegebenen Muster, dazu drei Meter passende Litze. Wart mal, ich lese dir den Waschzettel gleich vor.“

Der Familienvater angelt ein zerknittertes Papier aus der Westentasche und liest wutschnaubend: „Eine Glaskugel für die Lampe. — Ein Pfund Schinkenwurst. — Für 30 Kopeken Nelken und Zimmt. — Rizinusöl für Mischa. — Zehn Pfund Einkochzucker. — Von zu Hause großen Einkochtopf und Mörser mitbringen. — Karbolsäure und etwas gegen Mückenstiche. — Zwanzig Flaschen Bier. — Eine Flasche Essigsprit. — Das Korsett für Frau Schanzo in der Gartenstraße Nr. 83 abholen. — Für Mischa Regenmantel und Gummistiefel mitbringen ...

... Dies sind Besorgungen für die Familie. Jetzt kommen die Besorgungen für die lieben Bekannten. Der Teufel soll sie fressen!... Die Wlasiks haben morgen ein Geburtstagskind, Wolodja; ich soll für ihn ein Kinderfahrrad mitbringen; bei Kukrichs ist der Säugling gestorben, ich soll einen Kindersarg kaufen; bei Maria Michailowna wird eingekocht, der muß ich täglich einen halben Zentner Zucker herbeischleppen; die Wischrina erwartet täglich ihr Baby, ich soll die Hebamme benachrichtigen. Von solchen Dingen, wie Briefe, Wurst, Telegramme, Zahnpasta, rede ich schon gar nicht.

Fünf solcher Zettel habe ich in meinen Taschen! Der Teufel hol sie! Einem Menschen einen halben Zentner Zucker und eine Hebamme aufzubinden, das bedeutet gar nichts; aber sich weigern, das wäre die größte Gemeinheit! Versuch einmal irgendwelchen Kukrins etwas abzuschlagen, deine eigne Frau würde sich die Haare ausraufen, denn was würden die X und die Y dazu sagen! Die Migränen würden überhaupt nicht mehr aufhören. Und so, mein Lieber, rennst du zwischen Büroschluß und Abgang des Zuges wie ein Hund durch die Stadt, und die Zunge hängt dir zum Halse heraus. Man rennt umher und verflucht das ganze Leben Aus dem Lebensmittelladen in die Apotheke, aus der Apotheke zum Schlächter und dann wieder in die Apotheke. Hier stolperst du, da verlierst du Geld, woanders hast du zu bezahlen vergessen, und man rennt hinter dir her, dann hast du irgendeiner Madame auf den Fuß getreten, pfui!

Von dieser Hetze kriegst du eine satanische Wut im Bauch und wirst ganz schlapp. Die ganze Nacht tun dir die Knochen weh, und du hast Wadenkrämpfe. Aber, na schön, die Aufträge sind erledigt, du hast alles beisammen. Wie aber verpackst du diese ganze Musik? Wie bringst du zum Beispiel den schweren Mörser und die Lampenkugel unter einen Hut? Oder die Karbolsäure und den Tee? Da brauchst du Köpfchen, mein Lieber, Köpfchen! Wie kombinierst du die Bierflaschen mit diesem Fahrrad? Das, mein Gutester, ist Kopfarbeit, ein Rebus, ägyptischer Frondienst! Wie du es auch immer packen und verschnüren wirst, etwas geht kaputt oder rinnt aus. Auf dem Bahntteie und im Abteil stehst du, bepackt wie ein Kamel, Hände und alle Taschen voll Kartons und Tüten, mit dem Kinn versuchst du noch ein Bündel festzuhalten. Setzt sich der Zug endlich in Bewegung, fangen die Fahrgäste an, dein Gepäck herumzuwerfen, denn du hast ihre Plätze belegt. Sie beklagen sich beim Schaffner, was aber kann ich dafür! Schließlich kann ich den Kram doch nicht aus dem Fenster werfen!“

„Hörst du noch zu? Also. Besorgungen aufzutragen ist eine liebe Gewohnheit geworden — aber auf dein Geld kannst du lange warten. Ich werde sicher nur die Hälfte von dem bekommen, was ich ausgegeben habe. Den Kindersarg werde ich zu den Kukrins hinüberschicken. Die haben jetzt Kummer, da wäre es taktlos, an das Geld zu erinnern. Das Geld kann ich in den Schornstein schreiben. An Schulden erinnern, und dazu noch Damen! Schlag mich tot, das bringe ich einfach nicht fertig. Die Rubel gehen noch an, die bekomme ich mit der Zeit herein, aber die Kopeken — die kann ich von vornherein abschreiben ... Na, da bist du dann endlich in deinem Sommerhäuschen angelangt; du hast nur das Verlangen, etwas Kaltes zu trinken, einen Happen zu essen und schnell ins Bett! Aber Kuchen! Deine Frau hat schon auf dich gewartet. Kaum hast du die Suppe geschluckt, schon heißt es: Mach schnell, wir sind doch verabredet, du weißt doch, das Gartenfest! — Du gehst also mit, starrst die Lampions an und fühlst, jetzt, im nächsten Augenblick bekommst du einen Herzschlag! — Um Mitternacht kommt man nach Hause und ist schon kein Mensch mehr, sondern Gott weiß was. Endlich hast du dein Ziel erreicht und liegst im Bett. Mach die Augen zu und schlaf, ausgezeichnet! Alles ist so still, die Kinder schlafen im Nebenzimmer, deine Frau ist noch nicht da, dein Gewissen ist rein, besser kann es gar nicht sein, du schlummerst ein, und plötzlich — dss, dss! Mücken! Seien sie dreimal verflucht! Mücken, Mücken!“

Der Familienvater springt auf und schüttelt die Fäuste: „Das ist eine von den sieben ägyptischen Plagen. Erst summen sie so kläglich und dann stechen sie, und du kannst dich stundenlang kratzen. Du rauchst, schlägst um dich, steckst den Kopf unter die Decke, alles umsonst! Schließlich spuckst du auf alles und gibst dich auf. Kaum hast du dich an die Mücken gewöhnt, da beginnt im Sälchen nebenan der Gesangverein zu üben, deine liebe Gattin macht natürlich mit. Sie üben für das Schlußsommerfest; tags wird geschlafen, nachts wird gesungen. Oh, mein Gott, Tenöre sind eine Landplage!“ Der Familienvater macht ein weinerliches Gesicht und singt: „Sag nicht, die Jugend ist vorbei / ich iteh vor dir, wie einst, verzaubert... Oh, diese Niederträchtigen! Meine ganze Seele haben sie mir aus dem Leibe gesungen!“

„Du tust mir aufrichtig leid!“

„Na ja, aber was will das schon heißen I Also, leb wohl. Ich muß ja noch die Gabelbissen kaufen!“

„Wo hast du denn das Sommerhäuschen gemietet?“

„Am faulen Flüßchen.“

„Ah, die Gegend kenne ich. Wart mal, kennst du vielleicht eine Sommerfrischlerin dort, eine Frau Finberg?“

„Aber ja, es ist sogar eine recht gute Bekannte von uns,“

„Was!“ — wundert sich der Freund; sein Gesicht bekommt einen freudig überraschten Ausdruck: „Ich hatte keine Ahnung! Aber wenn das so ist, dann könntest du mir eine sehr bescheidene Bitte erfüllen. Sei lieb, Iwan Iwano-witsch, schlag sie mir nicht ab ..

„Um was handelt sich's denn?“

„Ich flehe dich an, Lieber! Erstens, bestelle einen schönen Gruß; und zweitens, bitte, nimm eine Kleinigkeit für Frau Finberg mit. Sie bat mich, eine Handnähmaschine zu besorgen; ich selbst bin verhindert, sie ihr zu bringen, da du aber sowieso... nimm sie ihr mit, mein Lieber, Lieber, Lieber...“

Der Familienvater starrt seinen Freund geistesabwesend an, so, als hätte er nichts begriffen, dann läuft er rot an und beginnt zu brüllen und mit den Füßen zu stampfen: „Da, freßt, freßt einen Menschen! Reißt ihn in Stücke! — Wasser, Wasser! Wozu lebe ich, wozu? Wasser!!!“

Uebertragen von Mascha Schillskaja

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung