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Der sowjetrussische Film

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Anläßlich der Festwoche des Sowjetfilms wurden Spitzenfilme aus Rußland gezeigt, die nun nadi und nach den Weg ins Volk gehen werden. Unleugbar bietet der Sowjetfilm die bildhafte Möglichkeit, sich mit dem Leben und der Mentalität der Sowjetvölker vertraut zu machen. Daß man h-erzulande nur schwache Begriffe davon hat, müßte gar nicht erst gesagt werden.

Noch in der Stummfilmzeit wurden in einer Reihe künstlerisch sehr beachtlicher Produkte die Vorgänge der Revolution in Rußland ausgeschöpft. Seither hat sich das Programm erweitert. Mit der monumentalen Darstellung des Lebens Peters des Großen, der als der erste Schöpfer der modernen Großmacht im Osten gilt, hat der Sowjetfilm die Reihe jener historischen Filme eröffnet, die bewußt auch die schöpferischen Kräfte der vorrevolutionären Zeit dem eigenen Volke nahebringen will. Der Sowjetfilm, der nach einer Äußerung des stellvertretenden Ministers für Filmwesen Budajew — er weilte vor kurzem in Wien — eine geschlossene Einheit des politischen wie des künstlerischen und erziehenden Films sein will, bringt Geschichte als die Wiederholung der ewig gleichen Lebensfragen des Volkes. Aus der Äußerung Budajews wird es begreiflich, daß russische Drehbuchautoren und Regisseure keinen Film hervorbringen werden, der nicht die in Rußland geltende Gesellschaftsauffassung vertreten wird. So ist auch dieser historische Film wie alle anderen ebensosehr Spiegel der öffentlichen Meinung wie irgendein anderes Kunstprodukt Rußlands der Gegenwart. Budajew meint, es gäbe überhaupt keinen Film, der nicht politisch wäre. Ein Film, der etwa im Kreise der oberen Zehntausend spielt, erfülle eine politische Aufgabe, indem er von der Not der Massen ablenke und für zwei Stunden das Elend vergessen lassen wolle.

Ier politische Ideengehalt wird noch plastischer in filmen aus der jüngsten Vergangenheit. „Der Schwur“, den Stalin zur Erfüllung von Lenins Vermächtnis geleistet hat und in seinen Auswirkungen bis zum sagenhaften Kampf um Stalingrad verfolgt wird, zeigt die technische Aufrüstung dieses Volkes, das 1917 seine industriellen Möglichkeiten auch nicht annähernd ausgeschöpft hatte, während die westlichen Völker und Amerika bereits einen technischen Hochstand erreicht hatten, der ihnen eine zeitweise Überlegenheit gegeben hat, die nunmehr ausgeglichen wird und die Sowjetvölker in die erste Reihe der Industrievölker führen soll. Es ist dabei von besonderem Interesse, zu bemerken, wie fanatisdi alle Kräfte an der Herstellung der ökonomischen Machtposition arbeiten.

Der Sowjetfilm, der in erster Linie den russischen Völkern etwas zu sagen hat, ist selbstverständlich auf deren Bedürfnisse zugeschnitten. Budajews Bemerkung, daß man in seinem Land keinen Wert auf Barszenen und nackte Frauen lege, verdient in diesem Zusammenhang verzeichnet zu werden. Diese Völker im Osten begnügen sich mit einem einfachen Witz, über den im besten Fall noch unsere Großväter gelacht hätten. Um das zu verstehen, muß man nur einmal einen Band „Fliegender Blätter“ oder „Die Muskete“ oder sonst irgendeines der älteren Witzblätter zur Hand nehmen. Vielfach weiß man heute nidit mehr, worüber diese alte Generation eigentlich gelacht hat. Im Kino macht man oft bei SowjetFilmen die Beobachtung, daß bei offensichtlich heiter gemeinten Szenen das Publikum nicht lacht: Der Grund liegt darin, daß eben der einfachere -ind natürlichere Geschmack derer, für die diese Filme bestimmt sind, das Reizvolle dieser Szenen mit Lachen quittieren kann.

Noch ein anderer Faktor spielt eine wichtige Rolle. Die ailte Generation hatte viel mehr Zeit, als heute der gehetzte Städter. Sie konnte sich liebevoll in breite Schilderungen vertiefen. Wer liest heute noch einen Roman von Goethe oder gar Jean Paul? Amerikanische Verleger haben es sich längst zur Gewohnheit gemacht, die erfolgreichen Romane noch einmal als Kurz-gesdiichte herauszubringen und die alten Klassiker im Umfang von 20 oder 30 Druckseiten anzubieten! Die Sensationsbedürfnisse des durch Nerventrubel und Nervengifte aufgepeitschten Großstädters finden keine Ruhe mehr, verlangen im Film die Ereignisse in schlagartiger Folge! Der Sowjetfilm rechnet aber mit einem ruhigen Publikum.

Es stimmt nachdenklich, daß die russischen Filme audi im ganzen und großen kindlicher wirken. Man findet jedenfalls unter ihnen e'nen weit größeren Prozentsatz an Filmen, denen m an die Zulässigkeit zur Vorführung vor Jugendlichen zuerkennen muß, als in den Filmen anderer nationaler Herkunft. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß nach einer Äußerung Budajews in Rußland Kinder und Jugendliche Theater und Film nur am Sonntag besuchen dürfen, und zwar nur Vorführungen, die auch für sie bestimmt sind; die Auffassung darüber sei sehr streng. Wir können ruhig annehmen, daß man dort so manchen Film, den man bei uns ohne weiteres zeigen würde, mir mit Zögern für die Jugend bestimmen würde. Über diese Züge, die auf einen noch ursprünglicheren und gesünderen Stand der Sowjetvölker schließen lassen, geht man bei uns gern mit dem Argument eines künstlerischen Zurückseins hinweg und sieht nicht, daß hier eine Hauptstärke der russischen Filme liegt.

„Die steinerne Blume“ ist ein Film, der diese Stärke zeigt. Die Legende eines Steinschleifers, den die Liebe eines Mädchens aus der Gewalt einer Bergfee befreit, wird Kindern schon durch ihr farbiges Bild einen unvergeßlichen Eindruck bereiten. Hervorragende Schauspieler bieten eine bedeutsame künstlerische Leistung, die Gegenüberstellung eines prassenden Herrenvolkes und der Nöte der armen Arbeiter wird, sich gleichzeitig durch seine soziale Note tief in das kindliche Gemüt einprägen; die Lehre, die der alte Erzähler dieser Legende am Schluß den zuhörenden Kindern mitteilt, auch sie möchten solche große Meister ihres Handwerks werden, wie jener Malachitschleifer, von dem die Legende handelt, ist die Krönung des Erziehungswertes, die diesen Film neben seinen sonstigen Qualitäten in die erste Reihe der Weltproduktion gestellt hat. Daß mancher Großstädter nach der Vorführung dieses Films sagt, er ist zu ang, besagt nichts anderes, als daß hier Voraussetzung zum Verständnis eines soldien Filmwerkes fehlen.

Es besagt gar nichts, wenn das Publikum der zentral gelegenen Kinos Wiens „Ohne Schuld schuldig“ abgelehnt hat oder vielleicht das „Mädchen ohne Mitgift“ wenig zahlreich besuchen wird. Auch diese Filme werden ihr Publikum finden, das den Bauern und Arbeitern Rußlands nähersteht.

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