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Der Spiegel

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Ein alter Schauspieler wohnte im obersten Stock des Miethauses, in dem ich selbst zwei Zimmer bei einer verwitweten alten Dame gemietet hatte, und er war in dieser Nacht oder am frühen Mor-' gen gestorben. Ich erfuhr es von meiner Witwe, als ich gegen Mittag meine Wohnung verlassen wollte, und da. wir uns mitunter über diesen absonderlichen Gesellen unterhalten hatten, so machte sie mir die Mitteilung von seinem plötzlichen Abscheiden und fragte mich, ob ich nicht auch hinaufgehen wolle, um seine Aufbahrung zu sehen, zu der die ganze Nachbarschaft im Herbeiströmen war.

Dieser Schauspieler, dessen Namen ich auf keine Weise in meinem Gedächtnis auffinden kann, war in seiner Jugend, als er eben Glanz und Ruhm auszustrahlen begann, mitten im schönsten Aufstieg gebrochen worden, tatsächlich, durch den Bruch eines Beins, der ihn zum hinkenden Krüppel machte. Noch hatte er sich dann einige Jahre auf der Bühne erhalten, indem er solche Personen darstellte, die am Stock gehen, Kranke oder Greise, wie der Vater des Räubers Moor oder Molieres „Malade imaginaire“. Doch nach einiger Zeit hatte er auf diese Almosenbrocken verzichtet und seine Begabung nur noch als Lehrer verwendet; und in drei, vier Dezennien waren viele Generationen von jungen Adepten der mimischen Kunst durch seine alchimische Küche gewandert, um darin zu jugendlichen Helden und Liebhabern, zu Komikern und Charakterköpfen, zu Jagos, Othellos, Wallensteinen und Räubern Moor verwandelt zu werden. Und er selber machte diese Verwandlung beständig mit.

Er hatte nämlich von Jugend auf die Gewohnheit angenommen, wenn er eine neue Rolle bekommen und durchstudiert hatte, zuerst deren Maske vollständig herzustellen, sie von nun an jeden Morgen anzulegen und während des ganzen Studiums der Rolle so zu behalten, ausgenommen bei Nacht. Auf diese Weise lebte er sich mit Haut und Haar in den Charakter ein, der er sein wollte, er bewegte sich nur so, sprach, lachte, grimas-sierte nur so, war nichts als dieser Charakter — auch im Gespräch mit Freunden kleidete er, was er sagte, in Tonfall und Miene und Geste dieses Charakters ein. Er hatte natürlich, so wie ein jeder Mime, einen großen Spiegel im Zimmer, und er lebte vor diesem Spiegel, dem anderen Ich gegenüber, in das er sich selbst hineintäuschte.

Diese Art, in fremden Gestalten zu leben, gab er nicht auf, als er die Macht verlor, sie auf der Bühne wirklich zu personifizieren, sondern von nun an füllte er sein eigenes Leben mit ihnen an, er verwandelte sich täglich in eine oder zwei Phantasiegestalten, er schaffte sich einen Fundus von ausrangierten oder beim Trödler erhandelten Kostümen, von Baretts und Hüten, von Barten und Perücken an: und es heißt — denn auch das lag zu meiner Zeit schon um ein Jahrzehnt zurück —, daß er an jedem Tag nur zwei Schüler gehabt habe, einen am Vormittag, einen am Nachmittag, die sich ganz so wie er für die Rolle, die sie sich einübten, fix und fertig machten, während er selber einen anderen Charakter aus demselben Stück übernahm.

Dreißig Jahre, vierzig Jahre hatte er so gelebt, als seine Kräfte nachzulassen begannen; seine Zähne fielen aus, seine Sprache wurde undeutlich, die Stimme heiser und dünn, der Körper unlenksam, seine Kunst veraltete, so blieben die Schüler aus. Er aber blieb, was er war“; er nahm — wie die letzten Besucher, alte Freunde, anhängliche Schüler, die hin und wieder noch kamen, es weitererzählten — er nahm an jedem Morgen eine sorgfältige Maskierung vom Kopf zu den Füßen vor und empfing die Besucher in ihr, vor seinem Spiegel sitzend, und es mag sie oft ein wenig gegraust haben. Denn er beschränkte sich keineswegs auf solche Figuren, die seinem Alter entsprachen, sondern er zog im Gegenteil die jugendlichen vor, und so war da ein Wesen zu sehen, mit rosigen Wangen und Scharlachlippen, in blondem Gelock, das unter einem verwegenen Federbarett hervorquoll, im gepufften Ärmelwams mit schlanken seidenen Beinen, aus dem eine schwach und heiser pfeifende zahnlose Stimme ertönte. Und diese Maskerade brachte er immer noch fertig, obwohl er sonst am Ende geistesabwesend wurde und seine Tage der Einsamkeit in seinem Sessel verbrachte, mit nichts beschäftigt, nur vor sich hinmummelnd und murmelnd, die alten Verse voll Feuer, die versonnenen Monologe, was einmal von seinen Lippen gejubelt oder gedonnert hatte — er lebte noch immer nur davon. Seine letzten Jahre hatte er, unbeweglich geworden, im Bett verbracht, eine alte Bedienerin machte für den Uralten, dessen Jahre niemand und vielleicht er selbst nicht mehr zählte, die geringen Einkäufe und kochte das Essen; aber er hat niemals aufgehört, seine entkräfteten Finger zu zwingen,' daß sie ihm ein jungendholdes Antlitz herstellten, und nicht eher durfte die Magd sein Sdilafzimmer betreten, als bis er fertig war und seine Hand zum Gruß an das schief aufgestülpte Barett legen konnte, nachdem seine Klingel sie zu sich gerufen hatte.

Eines Morgens hatte ihn dann der Tod noch vor dem Beginn seiner Morgenverwandlung überrascht, und die Magd, die sich endlich zu ihm hineingetraute, war die erste, ihn so zu sehn, wie er jetzt wirklich war und wie seit vielen Dezennien kein anderes Auge ihn erblickt hatte. Und ich glaube, dies zu sehn — was hinter den hundert Masken gewesen war — kamen die Menschen herbei, denn ich fand beim Verlassen meiner Wohnung das Treppenhaus voll von ihnen, die im Empor- und Hinabsteigen waren, übrigens still und ohne zu sprechen, und ich schloß mich den Hinaufsteigenden an. Ein winziger Flur oben hatte drei jetzt offene Türen, von denen eine in eine Küche führte, die zweite in ein Zimmer, in dem nur Schränke waren und ein heftiger Kampfergeruch, der herausströmte — ich dachte, das war seine Lebensluft —, die dritte in das Sterbezimmer. Da lag er denn aufgebahrt in der Mitte, im dämmerigen Schein von vier Kandelabern, in seinem Sarg mit schimmernder weißer Seide — die vielleicht nur billiger Satin war — und einigen Kränzen und Blumensträußen. Bevor ich aber näher herantreten konnte — denn der Raum war nicht groß und mit Menschen gefüllt, so daß ich zu warten hatte —, fiel mir ein Ungetüm von einem Spiegel in die Augen, der zu Füßen des Sarges stand oder schwebte. Denn sein mächtiges aufrechtes Oval wurde von zwei polierten Säulen gehalten, die aus der blanken Platte einer breiten Mahagonistufe aufstiegen; und sie hielten es so, daß es drehbar um seine Achse war, und es stand jetzt vornüber, so daß der im Sarg Liegende sich selbst sehen konnte, wenn er noch hätte sehen können. Ich hörte später, daß er dies so.bestimmt und oftmals gegen seine Bedienerin wiederholt habe, dies für ihn zu tun — wer kann sagen aus welchem Verlangen? Endlich einmal ganz und gar er selber zu sein und zu scheinen, an sich selbst und im Spiegel? Oder war es, damit sein einziger, lebenslanger Freund, der Spiegel, auch den letzten Anblick haben sollte, den des Überbleibsels, des nicht verwandelbaren, des nackten, des wahren Menschen?

Nun, was bekam ich zu sehen? Was ich sah, das war fast kein Gesicht mehr, gamentene, kleine kugelkahle Kopf zeigte zwar noch ein spitz emporstehendes Kinn und auch seltsam zwei kleine Bäckchen; doch von diesen abgesehen, bestand er nur noch aus Knochen mit. Haut bespannt, und nicht ganz schließende Lippen, ein wenig schiefgezogen, bildeten zusammen mit etwas wie einem verschmitzten Blick aus den nicht ganz schließenden Lidern ein Lächeln, das ich nur als fidel bezeichnen kann, toten-köpfisch heiter, aber so, als wollte er sagen: Seht her, es ist nicht viel dahinter.

Aus dem Buch „Rudolf Erxium oder des Lebens Einfachheit“, Neuer Verlag, Stockholm.

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