Der Sprung ins Hasenjahr

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DER EUROPÄISCHE FELDHASE IST DAS TIER DES JAHRES 2015. DAS IST EIN SCHÖNER ZUFALL, DENN DER HASE IST UNS VIEL ÄHNLICHER, ALS UNS DAS VIELLEICHT LIEB IST. EINE ANNÄHERUNG.

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DER EUROPÄISCHE FELDHASE IST DAS TIER DES JAHRES 2015. DAS IST EIN SCHÖNER ZUFALL, DENN DER HASE IST UNS VIEL ÄHNLICHER, ALS UNS DAS VIELLEICHT LIEB IST. EINE ANNÄHERUNG.

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Es gibt kaum etwas, das den modernen Dienstleistungs-Menschen so sehr plagt wie seine Naturvergessenheit. Ständig ist er mit Dingen beschäftigt, die in künstlicher Atmosphäre stattfinden und ihn mehr oder weniger kurzfristig an Körper und Geist beschädigen. Gerade der Winter bietet davon eine reiche Auswahl: Punschgestank atmen, in überheizten Räumen arbeiten, sich in der Straßenbahn anhusten lassen, Firmenfeiern ohne Zahl und manchmal ohne Ende feiern - diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. So kommt dem Menschen unter Arbeit und dem, was er so Freizeit nennt, der Rest der Welt abhanden.

Um die Naturferne etwas einzudämmen, haben uns Organisationen wie die UNO-übertragen gesprochen - Erinnerungs-Knoten ins Schnäuztuch geflochten: etwa die Tiere und Pflanzen "des Jahres", die man sonst nicht beachten würde, es sei denn sie werden gebraten, gesotten oder im Fall der Pflanzen als Tee - jedenfalls aber tot - serviert.

2015 ist nun das Jahr des Hasen. Bei dieser Auswahl haben die Experten gar nicht wissen können, wie gut das Tier zu 2015 passt. Wirtschaftlich zumindest. Der europäische Feldhase beispielsweise verhält sich ähnlich einem Investor oder einem Politiker angesichts einer Krise von Wachstum und Schulden: Zuerst sehen sie regungs- und tatenlos die Gefahr auf sich zukommen und bleiben fröhlich in ihrer "Sasse" hocken. Dann aber, wenn es gar nicht mehr anders geht, beginnen sie eine wilde Flucht, bei der kurzfristiges und planloses Hakenschlagen das einzige taktische Rezept ist. Auf späteren Vorhalt, warum man denn nicht schon früher reagiert habe, hört man dann Erklärungen in der Tonart: "Mein Name ist Hase " Wir sehen schon, der Hase ist ein Tier mit schlechtem Ruf - dumm, einfältig und leicht zu übertölpeln. Der Befund wird von den jährlichen Abschusszahlen bestätigt. Allein in Deutschland und Österreich werden pro Jahr mehr als 500.000 Hasen erschossen und verspeist.

FROSCH-HASE-PERSPEKTIVEN

Der römische Fabeldichter Äsop hat die traditionelle Opferrolle des Hasen in die Geschichte von den Hasen und den Fröschen eingebaut: Einer der Hasen hat bemerkt, dass der Lepus an sich eigentlich bloß zur Beute taugt. Er hält nun eine erstaunliche Rede an die versammelte Hasenschaft, die in folgendem Satz gipfelt: "Wenn uns alle anderen töten und niemand uns fürchtet, können wir uns gleich umbringen." Man beschließt also, sich gemeinsam in einem nahen Tümpel den Garaus zu machen. Die dort lebenden Frösche sind über das Gezeter der herannahenden Hasen derart verstört, dass sie ins Wasser springen und abtauchen. Da meint der Hasenführer: "Na seht ihr, nun gibt es doch jemanden, der vor uns davonläuft". Und man beschließt also am Leben zu bleiben. Die Moral von der Geschicht passt nicht nur perfekt zum Ruf des Hasen, sondern auch zu menschlichen Opfern des autoritären Erziehungsmodells: Der Machtlose fühlt sich besser, wenn es einen noch Machtloseren gibt als ihn.

Der Ruf, nicht der Hellste zu sein, ist dem Hasen über die Jahrhunderte erhalten geblieben. Noch heute amüsiert man Kinder mit der Geschichte vom Hasen und dem Igel, in dem zwei Igel einen eitlen Hasen übertölpeln und der Hase dämlich vor sich herrennt wie der Mensch im Hamsterrad, während die Igel bloß hin und wieder "bin schon da!" schreien.

Aber einmal ehrlich: Was wären Geschichten ohne die Rolle des Dummen oder Einfältigen? Der "Matte Has" in Reineke Fuchs will zum Beispiel für sein Leben gern tanzen und wittert bloß Romantik, als Reineke Fuchs sich selbst als Tanzpartnerin anträgt. Der Hase wagt also den Reigen. Und der wird kurz: "Matten geev Poot, de Voss beet em dood."

Dass der Hase viel mehr kann, als bloß das Opfer zu sein, ist bloß Astronomen vertraut. Die alten Chinesen haben in ihren Himmelsbeobachtungen einen Hasen im Mond - den Pinjin - erkannt und ihn der Mondgöttin Cang'e zugeordnet. Gemeinsam mit einer himmlischen Kröte ist der Hase für Fruchtbarkeit zuständig, und dafür, aus speziellen Kräutern Unsterblichkeit zu stampfen. Auf verschlungenen Wegen dürfte sich diese Geschichte bis in unsere Breiten fortgepflanzt haben, denn wie sonst gesellt sich der Hase in volkstümlicher Tradition zum Osterlamm und zur Auferstehung? In Wald und Aue freilich zählt Mythenbildung und Bildung überhaupt nicht viel, und so haben sich im Jägerlatein bloß die sexuellen und kulinarischen Eigenschaften des Hasen erhalten: Der "Rammler" und die "Löffel".

EIN KRAUT FÜR ALLE LAGEN

Aber egal. Wir haben vorhin von den kleinen Parallelen des Hasen-und des Krisenverhaltens einiger Politiker gesprochen. Da kann auch die Heilpflanze des Jahres 2015 etwas beitragen, auf die wir nun einen Blick werfen wollen: Das Johanniskraut. Der botanische Name, hypericum perforatum, aus der Familie der Hartheugewächse, sagt auch hier weniger über den Gegenstand der Betrachtung aus als die Legenden, welche der Volksmund gewoben hat. Denn das Johanniskraut ist eines der ältesten Heilkräuter, und aus historischer Tradition gegen das Böse gerichtet.

In einem Kräuterbuch aus dem 16. Jahrhundert heißt es: "Dost, Hartheu und Wegwarte tun dem Teufel viel Leid an". Das passt eigentlich perfekt zur psychologischen Wirkung des Krauts und seines roten Ölauszugs: Johanniskraut wirkt demnach nicht nur gegen Schmerzen, Brandwunden und Koliken, sondern ist vor allem stimmungsaufhellend.

Wäre also die Naturheilkunde ein nicht ebenso vager Zweig der Wissenschaft wie etwa die Ökonomie, wer weiß, ob nicht Johanniskrautsaft (auch Johannisblut genannt) als vorbeugende Arznei verschrieben würde. Und zwar gegen Depressionserscheinungen von Börsen- und Bankmanagern. In der Folge würde es zu gar keinem Crash mehr kommen, weil die Droge in Zeiten der Depression den Börsencrash durch chemisch induzierte Heiterkeit verhindert.

So jedenfalls kann das Böse bekämpft werden, selbst wenn es schon zugegriffen hat. Und zu diesem Behufe gibt es 2015 gleich noch die Blume des Jahres: Man findet sie auf sumpfigen Wiesen stehen, mit wunderschönen kugelförmigen Blüten. Das ist der "Teufelsabbiss". Von dieser Pflanze heißt es, sie sei derartig gesund, dass selbst der Teufel, wenn er krank wird, an ihrer Wurzel nagt. Da haben wir's: Der Hase nagt, der Teufel nagt und wenn nun an dem einen oder anderen unter uns noch der Zweifel nagen sollte: Manche Wahrheit ist ganz ohne Zweifel etwas Gemachtes. Warum also nicht auch im Jahr des Hasen?

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