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Der Sputnik über Cambridge

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London, Ende November

„Die Hölle“, schrieb Shelley einmal, „ist eine Stadt, ganz so wie London.“ Es ist ein Gefühl, das jeder Londoner bisweilen mit ihm teilt. Nicht, daß er dieses unübersehbare, rauchgebeizte, ziegelfarbene, häßliche, schöne Häusermeer darum weniger liebte! Es ist nur, daß ihn anfällt, was ein alter amerikanischer Schlager die „big city blues “ nannte — die Verzweiflung des Städters in der Großstadt, jene plötzliche Angst eines Sandkorns am Strand, es könnte vor jedermann, ja vielleicht sogar vor Gott, als mit dem benachbarten Sandkorn verwechselbar und auswechselbar gelten. Vor diesem horror pleni rettet nichts als eine Flucht in die Provinz. Hier scheint dem Einzelwesen noch etwas mehr Raum gegeben als bloß der, welchen er verdrängt. Auch die Zeit spult langsamer ab. Und Werte, die in der rascher lebigen Stadt bereits ihren Sinn verloren haben, bewahren sich noch eine prekäre Existenz.

Inbegriff solcher Heilstätten des geplagten Geistes sind Oxford und Cambridge — dieses mehr als jenes, weil Oxford durch die Nähe der Morris-Werke und anderer Industrien viel von seiner seligen Selbstzufriedenheit eingebüßt hat. In Cambridge, diesem lieblichen, nebligfeuchten Ort, fallen die Niedrigkeiten und Widrigkeiten des modernen Lebens wie hinter Schleiern zurück. Die kleine Stadt mit ihren efeuumrankten Häusern, ihren edlen Kollegien, ihren Rasen, ihren Brücken, ihrem Gemüse-, Bücher- und Antiquitätenmarkt, steht ganz im

Zeichen der Universität. Auf ihren Rädern — die schwarzen, ärmellosen Umhänge flatternd im Novemberwind — schwirren die „undergraduates" durch die Gassen und verbreiten eine fast sakrale Atmosphäre der Gläubigkeit: eines Glaubens an die Anwendbarkeit logischer Schlüsse, an die Belegbarkeit dichterischer Einflüsse, an die Bedeutung antiker Weltvorstellungen für das Begriffsbild der Gegenwart. Gäbe es in Cambridge nicht die unvermeidlichen Ränke und Eifersüchteleien jedes akademischen Betriebes, man möchte wähnen, in einem — obschon von Rheumatismus nicht verschonten — Paradies zu sein.

Doch das Idyll auch dieses letzten Reservates altmodischer Lebenszuversicht wird nun erschüttert. Aus London erschallen Rufe; auf den Titelseiten der Zeitungen werden sie ausposaunt und sogar in Regierungskreisen sind sie hörbar geworden. Revolutioniert die Universitäten! Räumt auf mit dem alten Tand! Werft den Sallust und die Gnostiker zum alten Eisen! Legt die toten Sprachen endlich zu jenen, die sich ihrer bedienten, in die Gruft! England braucht Physiker, Ballistiker, Elektroingenieure! Das Zeitalter des Sputniks schreit nach Raketenfachleuten. Rußland besitzt einen Naturgeschichtslehrer pro 800 Mann: in Großbritannien müssen sich 2500 Staatsbürger mit einem Physikprofessor behelfen. Von drei englischen Studenten will nur einer Techniker werden. Die Regierung hat 100 Millionen Pfund für neue technische Lehrstätten ausgesetzt und hofft, im Jahre 1970

doppelt soviel Ingenieursdiplome auszuteilen als gegenwärtig. Doch wir haben nicht mehr 13 Jahre Zeit! Wir müssen zum Mond! Und womöglich noch heute.

So hängt denn auch über den noch so unbeschwert dahinradelnden Cambridger Humanisten das Schwert. Mögen sie ihre letzten Jahre nutzloser Versenkung in die Geisteswissenschaft in Frieden verbringen! Ihre rauheren Altersgenossen an den sogenannten „Rotziegeluniversitäten" stehen dagegen schon im Kampf. In Reading und Leeds, in Durham und Swansea rüsten sie sich mit Hilfe von Staatsstipendien für den geistigen Widerstreit aus. Dann erstürmen sie London und dringen in jenes öffentliche Leben ein, das bis vor kurzem noch von den Erziehungsprodukten der alten Schulen Eton und Harrow beherrscht war. Aus ihren Reihen rekrutieren sich die Rebellen, deren ernsten Eifer die populäre Presse mit dem Spitznamen „zornige junge Männer“ lächerlich zu machen versucht. Einige von ihnen haben kürzlich zu einem „Bekenntnisbuch“ beigetragen, das die derzeitige Stimmung der Jugend er-, hellen will. „Declaration", im Verlag MacGib- bon & Kee erschienen, enthält acht Aussagen mehr oder weniger typischer Vertreter ihrer Generation über politische, soziale und künstlerische Mißstände ihres Standes. Einige von ihnen sehen die Rettung in einer religiösen Renaissance, die anderen in einer Umgestaltung der englischen Gesellschaft. So unausgegoren auch manches darin klingt, es ist kein Zweifel, daß dieses Buch die meisten ihrer legitimen Beschwerden an den Tag bringt.

Eine Diskussion, die das „Institut für Zeitgenössische Kunst“ anläßlich dieser Neuerscheinung abhielt, machte die Kämpferlaune des jungen Englands noch ausführlicher klar. Ein paar Zwanzig- bis Dreißigjährige auf dem Podium, darunter ein besonders kluger Jamaikaner und viele Gleichaltrige aus dem Publikum, äußerten sich unverblümt über die soziale Struktur, die Monarchie, die Außenpolitik ihres Landes. Als größtes internes Uebel wurde die Klassenhierarchie bezeichnet und jenes neuerliche Anwachsen des Standesdünkels, der Provinzlern und Kleinbürgersöhnen allerorten den Weg versperrt. Das wahre Malaise der Jugend aber sei die lähmende Einsicht, daß angesichts ,der unerschütterlichen Haltung beider englischer Parteien eine Alternative zur Atomwaffenpolitik nicht einmal denkbar sei. Dem Zynismus, dem Einzelgänger- und Außenseitertum der heran- wachsenden Generation liege die Ueberzeugung zugrunde, daß .in absehbarer Zgfc Knall-" allen Aspirationen ohnehin .ein .-Ende bereiten wirde.

Soweit die Klagen der Jugend. Aber auch gewichtigere Stimmen werden neuerdings laut, die vor dem sinnlosen Wettrennen um die Atomvorherrschaft warnen. Vor einigen Wochen beschwor J. B. Priestley die englische Oeffentlich- keit, die Regierung zu einem freiwilligen Verzicht auf die Wasserstoffbombe aufzufordern. „Der Druck, den wir ausüben können, ist gering; die Macht unseres Vorbildes könnte groß sein. Wir könnten beginnen, die Welt wieder zur Vernunft zu bringen und unsere Nation aus ihrer jüngst vergangenen Schmach emporzureißen.“ Und nun berührt auch Englands weisester alter Mann, der große Bertrand Russell, in einem „Offenen Brief an Eisenhower und Chruschtschow“ unser aller Problem. Es müsse die größte Sorge aller wie immer denkenden Menschen sein, so sagt er darin, den Weiterbestand der Menschheit zu sichern. Dieser sei bereits durch die Feindschaft zwischen Osten und Westen bedroht und werde es noch mehr sein, wenn weitere Nationen über Kernwaffen verfügten und gedankenlosen Fanatikern die Möglichkeit zu unverantwortlichem Handeln gegeben sei. Noch nie sei die Jugend von einem solchen Gefühl der Nutzlosigkeit ergriffen gewesen. Auch werde ihre Erziehung durch das Bestreben, die Vernichtungswaffen zu vervollkommnen, immer mehr verzerrt und eingeschränkt. Rußland wie Amerika könnten sich neun Zehntel ihrer derzeitigen Ausgaben sparen, wenn sie sich zur Erhaltung des Friedens zusammenschlössen. In Kriegsfall aber wäre der allgemeine Kataklysmus unausbleiblich. Russell endet mit einem Aufruf an die beiden Staatsoberhäupter, sich zu einer freimütigen Diskussion über die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens einzufinden.

Nun ist kaum anzunehmen, daß Eisenhower und Chruschtschow sich, einem alten englischen Philosophen zuliebe, die Hand zum Friedensbunde reichen werden. Trotzdem scheint Russells „Offener Brief“ erwähnenswert. Denn gleich Priestleys ebenso privatem und daher aussichtslosem Mahnruf wirft er eine der beiden Fragen auf, die zur Zeit die Gemüter der jungen Engländer bewegen — wie nämlich jenseits aller parteipolitischen und nationalen Gegensätze ein Appell an das Weltgewissen zu richten sei.

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