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Der steinerne Gast

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Seit Kriegsende habe man nie mehr so viel von de Gaulle gesprochen wie heute, ist gesagt worden. Nun, zum mindesten seit dem jähen Aufstieg des Gaullismus vor zehn Jahren, der dann so rasch wieder als Strohfeuer in sich zusammensank, hat der Befreiergeneral nicht mehr so im Mittelpunkt der politischen Diskussion gestanden wie heute. Seine Anhänger reden seit Wochen mit Lautsprecherstärke, daß der General von dem ständigen Weiterabrutschen Frankreichs,-genug habe, daß er seinen Wiedereintritt in die politische Arena für seine patriotische Pflicht halte — „kein anderer außer ihm kann mehr Frankreich retten“ — und daß man stündlich eine diesbezügliche Proklamation zu erwarten habe. Aber auf die Proklamation wartet man schon seit Wochen, der Einsiedler von Colombey-les-deux-Eglises schweigt weiter. Das einzige, was sich verändert hat, ist, daß de Gaulle seinen gewohnten 24stündigen Pariser Aufenthalt pro Woche auf 48 Stunden ausgedehnt hat, um die doppelte Zahl von prominenten Besuchern — von den Botschaftern der Großmächte bis zu lokalen Heißspornen sowohl kolonialistischer wie anti-kolonialistischer Färbung — verarzten zu können. Das spielt sich stets nach dem gleichen Rituell ab: der General, der sehr charmant sein kann, lächelt seine Gäste freundlich an und die breiten ihre Meinungen vor ihm aus, bis die Visite um ist. So ist zwar de Gaulle über alle Welt informiert, niemand jedoch darüber, welche Politik denn nun eigentlich er selbst im Falle des Falles durchführen würde. Bloß eines weiß man dank dieser Besuche: sein Augenleiden (er wurde vor einiger Zeit operiert) kann sich nicht bis zur völligen Erblindung gesteigert haben, wie behauptet wird. Doch auch das verwirrt die Lage nur noch mehr: damit sind diejenigen Propheten dementiert, die felsenfest behaupten, daß de Gaulle schon wegen seiner Blindheit nicht an die Macht zurückkehren könne. Bleiben diejenigen, welche sagen, daß er das schon seiner Frau zuliebe nicht tun werde, die ihn zurückhalte, weil sie nicht ein zweites Mal ihr Familienleben auf dem Altar des Vaterlandes opfern wolle. Aber kann man sich darauf verlassen? Ein Mann wie de Gaulle dürfte eine gute Patriotin geheiratet haben, und die würde sicher alle privaten Wünsche zurückstellen, wenn sie überzeugt wäre, daß nur ihr Mann Frankreich noch retten könne. Kurzum: je mehr geredet wird, desto unklarer wird die ganze Gesckichte.

Wenn wir jedoch meinen, daß es de Gaulles Pflicht wäre, endlich sein Schweigen zu brechen, so entspringt diese Meinung keineswegs bloß dem Wunsch, unsere Neugier befriedigt zu finden. Dieses Schweigen ist vielmehr zu einem der verwirrendsten Elemente der französischen Politik geworden — und die ist ja schließlich sonst schon verwirrt genug. Wenn ein Mann wie Sou-stelle als Champion der „harten Politik“ in Nordafrika eine Regierung des „nationalen Heils“ unter de Gaulle fordert und Todfeinde Soustelles im Lager der Antikolonialisten im selben Atemzuge dasselbe tun, so ist es wirklich schwer, sich noch zurechtzufinden. In all diesem Hoffen auf de Gaulle steckt nämlich ein Kurzschlußmoment: in dem französischen Volk, das nach Meinung ausländischer Kenner das Volk maßhaltender Vernünftigkeit sein soll, steckt ein mächtiges Stück „Wunderglauben“.

Im Volk war dieser Glaube schon immer verbreitet. Wir erinnern uns gut jener Arbeiterfrau, die uns Mitte letzten Jahres ausführlich aufzählte, was sie von einer Rückkehr de Gaulles an die Macht alles erwartet: ihr Sohn werde aus Algerien zurückkehren, ihr Mann werde einen höheren Lohn erhalten, die Lebensmittelpreise würden wieder sinken und die Algerier würden wieder zu friedlichen Leuten werden. Es sieht so aus, als ob sich nun auch ein Teil der Parlamentarier zu diesem Wunderglauben bekehrt habe, seit die französische Politik sich nach Sakiet noch schlimmer als früher in eine Sackgasse verrannt hat.

, Woher dieser Wunderglaube kommt, hat uns einmal der klügste jüngere Monarchistenführer Frankreichs auseinandergesetzt (der notabene ■während des letzten Krieges in Algier und nicht •in Vichy war). An den Taten de Gaulles als • erster Regierungschef der Vierten Republik könne das nicht liegen: als solcher habe er nur Mißerfolge aufzuweisen, und das „System“, das de-Gaulle heute für alle Uebel verantwortlich mache, habe er im Grunde selbst geschaffen. Einem von ihm getragenen ernsthaften Reformwillen während der ausschlaggebenden ersten •Monate nach Kriegsende würde sich niemand entgegenzustellen gewagt haben. Nein, der .Grund liege ganz woanders: „In jedem Volk, auch im scheinbar republikanischesten, steckt ein monarchistischer Trieb verborgen. Dieser Trieb nach klar sichtbarem hierarchischem Aufbau, nach einer personalen Verkörperung der Gemeinschaft sucht sich an einen Mann zu heften. Was die Aufgabe von uns Monarchisten so erschwert, ist, daß sich in Frankreich dieser Trieb seit Kriegsende auf de Gaulle fixiert hat. Und diese Fixierung ist kaum zu „durchbrechen.“

Eine Vatergestalt zu sein, unter deren Schutz man sich in Krisenzeiten flüchtet, hat allerdings auch seine bedenklichen Seiten. De Gaulle kennt sie wohl genau, und das erklärt wohl mit sein Zögern. In der so plötzlich wiedererwachten Begeisterung für den General, die man bei so vielen Abgeordneten feststellen kann, steckt eine gehörige Angst vor der Verantwortung. Nun, da (ich die Möglichkeit einer Katastrophe in Nordafrika am Horizont abzeichnet — wäre es da nicht das Ei des Kolumbus, die Macht in Form einer „temporären Magistratur“ (sprich: befristeten Diktatur) in die Hände eines „starken Mannes“ zu legen? Wenn er die Katastrophe dann auch nicht aufhalten kann, so schiebt man einfach alle Schuld an dem Verhängnis auf ihn. Vom verehrten Retter des Vaterlandes zum Sündenbock, mit dem niemand etwas zu tun gehabt haben will, ist in Frankreich nur ein kleiner Schritt: Marschall Petain ist nicht das einzige Beispiel. Hat de Gaulle nicht einmal verächtlich über seine Apostel gesagt: „Die wollen wohl einen Petain für Friedenszeiten ...“?

Immerhin, es gibt auch eine stattliche Anzahl von Abgeordneten — und sie dürften vorerst noch die Mehrheit ausmachen —, die sagen: „Das Problem ist nicht, wie wir de Gaulle an die Macht bringen — das Problem ist vielmehr, wie wir ihn wieder los würden.“ De Gaulle wird nämlich — und das ist einer der wenigen Punkte, über die sich jedermann einig ist — den Parteien niemals den Gefallen tun, sie zu einer solchen „Diktatur de Gaulle auf Zeit“ zu nötigen. Er wird die Macht nur übernehmen, wenn sie ihm vom Parlament und vom Präsidenten der Republik auf dem Präsentierteller, „legal“ also, angeboten wird.

Das aber erlaubt eine Voraussage: in allernächster Zeit dürfte es zur legalen Diktatur de Gaulles noch nicht kommen. Erst angesichts einer Katastrophe dürfte es zu ihr kommen — so, wie Dien-Bien-Phu Mendes-France ans Ruder gebracht hat. Vorläufig ist der vor den Toren stehende de Gaulle eine praktische Lebensversicherung für Ministerpräsident Gaillard. Den hätte das Parlament bestimmt längst gestürzt, wenn nicht die Verwirrung einer Regierungskrise die Gefahr mit sich brächte, daß dann der steinerne Gast auf die Bühne tritt.

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