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Der Strom

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Lange wartete 3er Strom auf uns. Du gingst nicht zu ihm, weil du ihm allein nicht begegnen wolltest. Du fürchtest ihn, schriebst du, nicht weil er dich erinnert, daß die Jahre deiner Jugend hingehen und nichts von Liebe und Wärme wissen, sondern weil er wie ein Mensch erzählt, der um die Wege des Lebens weiß und sie nicht ändern kann. Und ich ging nicht zu ihm, weil ich weit war, an Strömen, die anderen Heimat sind, deren Namen ich als Kind das erstemal hörte, als mein Vater vom großen Kriege sprach und meine Mutter so still war. Heute, nach dreißig und mehr Jahren, ist sie noch stiller, denn an den Ufern der Ströme, die sie nicht kennt, sucht sie ihre drei Söhne, die nicht mehr wiederkommen.

Lange wartete unser Strom auf uns. Viele Wasser gingen, die wir nicht sahen, und vieles erzählten sie, was wir nicht hörten. Ob wir viel versäumt haben? Wir schritten an einem Septembertag, der wie das letzte Lächeln des Sommers war, das letztemal hier entlang. Ich wußte damals noch nicht, daß ein Krieg vor der Welt und die Stunde des Abschieds hinter uns stand. Ich sagte: „Fühlst du nicht auch, daß heute die Wasser so anders singen? Ich will dieses Lied nicht zu Ende hören."

Da lachtest du. Ein Frühling war in deinem Lachen, während ich mich bückte und den Herbst in einer Kastanie aufhob. Wie rein sie war und wie überirdisch schön! Beinahe schmerzte es mich, mit ihr einen Wurf zu tun wie als Knabe, doch bald schon holte ich aus, und sie huschte aus meiner Hand und gluckste in den Strom. Es war geschehen. Ich hatte augeholt, um mich gegen ein Dunkles zu wehren, aber nur ein Glucksen war die Antwort. Die Wasser sangen weiter. Sie sangen das Lied vom Leben, und ich, von einem seltsamen Gefühl überfallen, hatte sie nicht verstanden.

Lange wartete der Strom auf uns. Niemand weiß, wie sehr ich mich nach ihm gesehnt habe in den Nächten, die da waren, als komme nie mehr ein Morgen. Mein Strom, sagte ich dann, und das klang, als sagte wer: mein Lied. Ich weiß, daß viele es gehört und in ihrer Seele bewahrt haben.

Jetzt fürchtest du dich nicht mehr. Du weinst auch’ nicht. Du gehst wieder einen

Schritt vor mir. Es ist, als sei ich nie fort gewesen. Wie du drängst, an den Strom zu kommen. Ich kann dir fast nicht folgen. Vielleicht finde ich dort eine Kastanie wieder, denke ich, aber dein Drängen ist stärker als mein Denken.

Es ist nicht mehr weit bis zur Brücke. Von dort springt ein Weg allein fort: der Weg der Einsamen und Suchenden. Ich liebe die Menschen, nicht nur die alten, die diesen Weg gehen. Ich habe sie noch nie gefragt, warum sie ihn gehen. Warum soll ich enttäuscht werden? Ich liebe die Menschen, die alten und die jungen, wie sie da hingehen, und bin froh dabei.

Schon höre ich den Strom rauschen. Auch’ das Boot sehe ich in der Bucht. Wir saßen einmal darin und vergaßen, daß der Abend über uns hinwegging. Liebende und Träumer waren wir. Und so reich waren wir, wie wir es vielleicht nie mehr sein werden.

Jetzt wird dein Schritt langsamer. Macht das, weil der Strom so eilt? Oder denkst du an das Boot in der Bucht? Mit dem bin ich schon weit fort. Ich fahre mit meinen drei Brüdern darin, und ich sehe, wie meine Mutter dep Finger hebt, weil wir wie unsere Jugend sind.

Da sagst du: „Wir sollten heute den Weg nicht allein gehen."‘

Ich bleibe zurück. Das kann doch nicht sein, daß du augenblicks dachtest wie ich. Ich’ habe doeb nichts von meiner Mutter und meinen drei Brüdern gesagt. „Wollen wir sie nicht holen?" sprichst du, als hätten wir den ganzen Weg nur von den vier Menschen gesprochen. Und ohne auf meine Antwort zu warten, faßt du mich bei der Hand und gehst mit mir den Weg zurück. Still ist der Weg und noch stiller ein Haus, das nicht viel Platz auf der Welt einnimmt, in dem aber Raum genug ist für das größte Mutterherz.

Wir treten ein. Dein Schritt Ist leise, andächtig wie ein Wort fast, das ein Guter wählt und das nie laut ist. Die Mutter sitzt am Fenster. S:e hat einem Kinde nachgesehen, das draußen seiner Jugend vorausläuft, und nun, Ha sie sich umdreht, ist der Schatten über ihren Augen fort. Sie sagt: „‘s recht, daß ihr kommt, ich dadit’s mir, daß ihr kommt.“ Und sie steht auf und streicht langsam über dein Haar. Wie die Liebe selbst ist ihre Hand, die harte, vom Leid der Jahre gebildete Hand. So könnten kein Meißel und kein Meister sie bilden.

Ich vergaß fast, warum wir hierhergekommen sind. Ich sage: „Willst du nicht mit uns kommen, Mutter? Ich denk, wir könnten hinuntergehen, zum Strom.“ Noch mehr will ich sagen, alle Sprüche vom Leben, die ich mir unterwegs ausgedacht habe, aber da führt sie uns an das Fenster, zeigt auf das Kind draußen und spricht: „Drei nahm mir der Strom, Gott weiß es. Nun soll eure

Liebe der Strom sein.“

Du sagst nichts, und ich sage nichts, wir sehen uns auch nicht an, wir sehen nur das Kind draußen, als ob es aus unserer Wiege hinausgelaufen wäre, und wir fühlen, wie eine Mutter mit einem schlichten Wort an eines der Geheimnisse des Lebens rührt.

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