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Der Strom und die Leidenschaft

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Vor sechzig Jahren, am 25. September 1S97, wurde William Faulkner in New Albany, Mississippi, geboren. Beinahe alle seine Bücher spielen in der begrenzten, in sich abgeschlossenen Welt seiner Heimat und handeln von ein paar Dutzend Familien, die immer wiederkehren, Die Namen der Ortschaften des Staates Mississippi hat er in den meisten Fällen in die Geographie seiner County Yoknapatawpha transponiert, deren Hauptstadt er Jefferson nennt Er hat seinen Heimatstaat, wo er jetzt auf einei Farm lebt, immer nur auf kurze Zeit verlassen; in ersten Weltkrieg diente er bei der kanadischen RAI als Flieger und war in Frankreich stationiert (wc „A Fable” — „Eine Legende” spielt). In vielen seinei Romane ist der dunkle, alte Mississippi anwesend der Strom, der im Volksmund „Old Man”, alte; Mann, heißt, und den die Neger „Oie Man” aus sprechen. Seine Melodie spüren wir in der Sprach; Faulkners bis in die Nebensätze der Nebensätze - in dieser weit ausholenden, unruhig und doch gleich mäßig dahinströmenden Sprache, die den Leser vor der ersten Seite an in Bann zieht, ihn mit sich fort reißt, sich zuweilen über ihm überschlägt (daß e sich im Gewirr des oft über viele Seiten sich er streckenden Satzgefüges nicht mehr zurechtfindet und ihn erst dann freigibt, wenn der Dichter es will lieber diesem Landstrich vor dem Hintergrund de immer gegenwärtigen Stroms liegt ein Fluch, der in Schicksal aller Gestalten, die Faulkner erschaffe; hat, hineinwirkt. Es ist der Fluch, den Faulkner ar den Südstaaten lasten fühlt, die im Gegensatz ir puritanisch-klaren Norden stehen und durch die ererbte, unüberwindliche Kluft zwischen Weißen und Schwarzen zerrissen werden. Kein anderer Autor der Weltliteratur schreibt aus einem so tiefen Schuldgefühl, solcher Verzweiflung und solchem Trotz wie Faulkner. Jede seiner Gestalten ist zutiefst sündig, ehe sie noch persönlich schuldig wird: zur Erbsünde im christlichen Begriff tritt immer noch der besondere Fluch der Südstaaten. In Ergebenheit und Auflehnung verzehren diese Menschen ihr Leben, das im Grunde ein verzweifelter Rechtfertigungsversuch ihres Daseins ist.

Der Gegensatz zwischen Negern und Weißen, der in dumpfe, vorbewußte Bereiche des Empfindens zurückreicht und dessen Lieberwindung außerhalb menschlichen Vermögens liegt, und die Verstrickung des Menschen in Liebe und Haß, die ihn untrennbar an den Nächsten fesseln, sind die Themen seiner Bücher, die er in wilder Leidenschaft mehr aus sich herausschleudert als bewußt gestaltet. In ihrer gedanklichen Konzeption reichen sie nicht an die größten Werke der Weltliteratur — wie etwa die Flauberts oder Dostojewskis — heran, in ihrer vehementen, grausamen, rauschhaft-klarsichtigen Wirk- lichkeitsschilderung haben sie in unserem Jahrhundert aber kaum ihresgleichen. Faulkner, der 195C ; mit dem Nooelpreis für Literatur ausgezeichnei ; wurde, ist heute der größte Moralist und Mythen- i bildner unter den Romanpiers, vielleicht der bedeu- f tendste lebende Romanpier überhaupt.

Wilde Palmen und Der Strom. Roman. Deutsc) ‘ von Helmut M. Braern und Eli abeth Kaiser Verlag Frctz & & ;muth, Zürich. 324 Seiten. Prei; J 17.85 sfrs.

Dieses Buch, eines der Frühwerke Faulkners, heißt im Original „The Wild Palms and Old Man”: da aber Old Man bei uns ein für allemal Old Hemingway („The Old Man and the Sea”) ist, und nicht der zwei Jahre ältere Faulkner und auch nicht der noch viel ältere Mississippi (den wir aus Songs freilich als „Oie Man River” kennen), hat die Ueber- setzung den Titel richtig mit „Wilde Palmen und Der Strom” wiedergegeben. Die Anordnung des Buches ist so, daß auf ein Kapitel der Erzählung „Wilde Palmen” immer eines vom „Strom” folgt. Der Stoff ist in je fünf Kapiteln eingeteilt: erreicht ein Kapitel einen Höhepunkt, bricht Faulkner es ab und nimmt den Faden der anderen Erzählung wieder auf. Beide Geschichten sind völlig in sich abgeschlossen und haben außer der Landschaft, in der sie spielen, nicht viele Berührungspunkte: „Der Strom” spielt zeitlich zehn Jahre vor den „Wilden Palmen”.

Und doch gehören die beiden Erzählungen zusammen und bilden nach der Aussage Faulkners eine Einheit. Sie bilden gleichsam These und Antithese im ersten seiner Themen: in Liebe, Leid und Leidenschaft, die miteinander verknüpft sind: niemand erfährt die Liebe, ohne Leidenschaft und Leid zu erfahren.

Die eine Möglichkeit, der Liebe zu begegnen, ist die von Charlotte Rittenmeyer und Harry Wilbourne, „die für die Liebe alles opferten und dann auch sie verloren”. Schon am Anfang des Buches steht die Entscheidung Charlottes für die Liebe und ihre Einsicht:

„Ich begriff, was ich oft in Buckem gelesen, aber nie hatte glauben wollen: daß Liebe und Leid dasselbe sind und daß der Wert der Liebe die Summe dessen ist, was du dafür bezahlt hast, und jedesmal, wenn du sie billig bekommst, hast du dich selbst betrogen.”

Charlotte und Harry wollen ein Leben frei von jeder Bindung und Verantwortung leben, nur für ihre Liebe, als Protest gegen die bürgerliche Welt, die ihnen seelenlos erscheint und noch mehr, weil ihnen die Liebe als das Tiefste erscheint, was sie je erfahren, das einzige, an das sie sich auf dieser Welt klammern können. Sie wollen sich nicht zwingen lassen, „daß wir uns der Schablone des menschlichen Lebens anpassen, einer Schablone, die sich herausgebildet hat, ohne Liebe auszukommen — uns anpassen oder sterben”.

Aus diesem Versuch erwächst ihre Schuld, die sie schließlich erdrückt, daß sie die furchtbare Qual verschuldeten Leids und verlorener Liebe verspüren — „wenn es überhaupt so etwas wie Leiden gibt, wenn einer von uns je gelitten hat, wenn einer von uns von Natur aus je stark genug und gut genug war, um der Liebe und des Leides wert zu sein”.

Auch Harry fällt dieselbe Entscheidung. Nachträglich, nach dem Tode Charlottes, rechtfertigt er seinen Entschluß vor sich selbst: „Ja, dachte er, vor die Wahl gestellt zwischen dem Leid und dem Nichts, wähle ich das Leid.”

„Der Strom” entwirft die andere Möglichkeit. Die große Mississippi-Ueberschwemmung des Jahres 1927 läßt einen Sträfling aus der Gefangenschaft entkommen. Er will nicht fliehen, er ist nur in ein Boot gesetzt worden, Menschenleben zu retten — aber der Strom reißt ihn gegen seinen Willen fort. Nachdem er eine hochschwangere Frau gerettet hat, treibt er den Fluß hinunter, in einer Wasserwüste und tollen Strömung, die keine Orientierung ermöglicht. Wochenlang treibt er so dahin und bringt die Frau und das neugeborene Kind schließlich durch alle Gefahren. Er zieht dann mit seinem kleinen Boot eine ungeheure Strecke stromaufwärts, nur um sich wieder den Behörden zu stellen, um heimzukehren in die gesicherte kleine Welt seiner Zuchthausfarm, die ihn abschirmt gegen das Leben. Vor die Wahl gestellt zwischen Leben, Liebe, Leid und dem Nichts, entscheidet er sich für das Nichts.

Dieser Sträfling, der freiwillig unter größten Mühen in die Gefangenschaft zurückkehrt, ist wahrhaft eine archetypische Figur; dennoch scheint die Antithese nicht restlos geglückt: dem Sträfling wird zwar die Freiheit (mit der er nichts anzufangen weiß) geschenkt und eine Frau (die er nicht berührt) anvertraut, nicht aber die Liebe — so daß seine Entscheidung aus einem dumpfen und zugleich sicheren Instinkt, nicht aber aus freiem, wissendem Willen erfolgt.

Aber dies ist typisch für Faulkner: alle Konflikte sind ins Fleisch des Menschen verlegt, in das „vergängliche. ausrottbare, ewige Fleisch”. Aus der unwissenden. hilflosen Fleischlichkeit des Menschen kommen seine Entscheidungen.

Die großartigsten Partien des Buches schildern die Ueberschwemmung. Die Wirklichkeitsdarstellung wächst aus einer beklemmenden, atemlos sich überstürzenden Phantasie, die präziser ist als jede Wirklichkeit (und darum wirklicher), einer begnadeten Phantasie die verwandelte und vervielfältigte Erfahrung ist.

Requiem für eine Nonne. Deutsch von Robert Schnorr. Verlag Fretz k Wasmuth, Zürich. 317 Seiten.

„Requiem für eine Nonne” schließt an den Roman „Die Freistatt” an, den Faulkner zwanzig Jahre früher schrieb. Es ist eine Mischform von Roman und Drama. Die drei Akte beginnen romanhaft und gehen dann in dramatische Szenen über. Die geistige Problematik von „Requiem für eine Nonne” wurde von der „Furche” anläßlich der Aufführung des Stückes im Wiener Volkstheater ausführlich behandelt.

Schall und Wahn. Roman. Deutsch von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser. Verlag Fretz k Wasmuth, Zürich. 337 Seiten.

Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Idiot, der die Welt tiefer beobachtet und weniger von ihr begreift als die andern um ihn, der passiv alles an sich herankommen läßt und mit starkem Beharrungsvermögen er selbst bleibt, in sich verschlossen, ganz gleich, was geschieht. Dieser Idiot wird zum Gewissen der anderen — ähnlich wie Fürst Myschkin, der „Idiot” Dostojewskis; was aber bei Dostojewski die abnorme, fast außermenschliche Geistigkeit Myschkins leistete, vollbringt hier die dumpfe Fleischlichkeit des Burschen Ben. Der Roman, der einen Zeitraum zweier Generationen (18 Jahre) im Ablauf von drei Tagen umfaßt, bohrt sich tief in die Vergangenheit der Figuren ein: Zeit, Geschichte entsteht erst durch den Sündenfall; in der Gestalt Bens, der fleischgewordene Schuld ist, kehrt sie in sich selbst zurück.

Die Unbesiegten. Roman. Deutsch von Erich F r a n z e n. Verlag Fretz k Wasmuth, Zürich. Ungekürzte Lizenzausgabe in der Fischer-Bücherei (Nr. 159), Frankfurt a. M. und Hamburg. 275 Seiten. Preis 1.90 DM.

Dieser Roman, 1939 veröffentlicht, spielt nach dem verlorenen Bürgerkrieg in den Südstaaten; stilistisch gehört er (neben „Wilde Palmen und Der Strom” und „Griff in den Staub”) zu den leichter zugänglichen Werken Faulkners. Die Ausgabe in einer Taschenbücherei macht ihn jetzt jedermann erschwinglich.

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