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Der Teufel sitzt im Glase

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KEIN MENSCH läßt sich auf der abendlichen Dorfstraße blicken. Das Fräulein von der Caritas duckt sich in den dichten Schatten der Toreinfahrt. Ihr Herz klopft heftig. Bald muß er kommen, und sie muß ihn ansprechen. Es ist das hier die einzige Möglichkeit, ihn anzusprechen, ohne daß er mit dem nächstbesten Sessel nach ihr werfen kann. Dem Fräulein wäre es aber lieber, wenn sich auf der Dorfstraße irgend jemand zeigte. Gerade in diesem Augenblick aber bleibt die Straße dämmrig und menschenleer. Nur am untersten Rande taucht eine Gestalt auf: hochgewachsen, breitschultrig und mit dicken Armen, die fast bis an die Knie hinabbaumeln. Für das Fräulein von der Caritas, das nach der Gestalt späht und auf deren schwere Schritte hört, gibt es keinen Zweifel: das muß er sein. Wahrscheinlich kommt er gerade wieder aus dem Wirtshaus.

Gendarmen hatten diesen Burschen zu zweit nicht zu bändigen vermocht. Seine Frau war weinend und um Hilfe flehend in die Trinkerfürsorge der Caritas nach Linz gekommen, aber sie hatte gesagt: „Ich bitt’ Sie, reden Sie ihn ja nicht, an. Er ist in seiner Wildheit zu allem fähig." Daran mußte das Fräulein im Schatten jetzt denken. Dann schritt es aus diesem Schatten auf die Straße hinaus, geradewegs auf die baumlange Gestalt zu. Der Mann kümmerte sich um nichts. Er hielt den Kopf gesenkt und ging seines Weges. Da stand aber plötzlich das Fräulein neben ihm und sagte: „Einen schönen guten Abend! Nett, daß ich Sie hier schon treffe.“ Etwas entgeistert starrte der Bär auf die zierliche Gestalt, dann brummte er: „Kenn’ Sie nicht, hab’ keine Zeit, muß nach Haus’.“

Das Fräulein aber ging mit ihm. „Wir haben alle wenig Zeit“, meinte es, „aber für uns selbst sollten wir wenigstens einmal Zeit haben. Auch Sie für sich. Ich will Sie heute nicht mehr länger aufhalten. Hier, da haben Sie meine Anschrift, kommen Sie mich besuchen.“ Dann war sie fort, und er war mit sich und seiner Verwunderung allein. Aber er kam. Schon wenige Tage später stand er an der Pforte des Caritas- hausps,,..;- ~ įiniš rfiaH „wviot

DAS HAUS DER SCHICKSALE hält immer seine Pforten offen. Menschen aller Standes- gruppen und Altersklassen steigen über seine Treppen und gehen wie Schatten durch seine Gänge. In diesen Gängen ist es nicht dunkel und nicht hell. Sie sind von einem grauen Licht erfüllt. Links und rechts sind an den Wänden .dieser Gänge aber Türen eingebaut. Oft kommt es vor, daß eine dieser Türen aufgestoßen wird, dann fällt Licht in das Grau der Gänge, und menschliche Schatten treten aus diesem Grau in dieses Licht. Viele solche Türen gibt es. Für viele Menschen ist es dahinter schon licht geworden.

Das Haus der Schicksale, wie wir es nennen, liegt in Linz. Es ist das Haus der Caritaszentrale, das Haus der Nächstenliebe, in dem Menschen Zuflucht und Hilfe finden, denen der Wind die Spuren verweht hat. Solche Menschen tasten sich Tag für Tag scheu und fremd über die Treppen und durch die Gänge dieses Hauses. Sie stehen dann in kleinen Gruppen vor den verschiedenen Türen, die ins Licht führen. Eine dieser Türen trägt die Aufschrift „Trinkerfürsorge“, und die Menschen in ihrer Umgebung lehnen, wie unter einer schweren Last gebeugt, an der Wand und verbreiten einen Geruch von Alkohol. Bis diese Menschen an ihre Türe finden, vergehen Jahre. Es fließen in dieser Zeit Unmengen von Rum und Bier durch ihre Kehlen, es weinen in dieser Zeit Frauen und Kinder in verarmten Stuben ein Meer von Tränen.

Und wenn diese Gestalten endlich schemenhaft und müde an den Wänden des Ganges lehnen und auf das warten, worauf sie hoffen, von dem sie aber nicht wissen, ob es auch für sie möglich sein wird, dann geht durch den Gang ein Hüsteln, Rülpsen, ein Wanken und Zittern, dann pulsen Blut und Alkohol durch die brüchigen Adern dieser Gestalten und bleiche Gesichter hängen wie Flecke in dem trüben Ganglicht.

HINTER DER TÜR SITZT EINE FRAU an ihrem Schreibtisch. Man ist versucht zu sagen, „nur eine Frau“. Diese Frau kennt keine Furcht. Sie kennt nur eine Aufgabe und ein Ziel: alle Menschen, die durch die Türe ihres Büros ins Licht treten, dem Lichte zu erhalten. Dabei muß diese Frau täglich die Willenskraft von zehn Männern entwickeln und beinahe den Mut eines Löwen, wenn sie den vielfach verwilderten, robusten und rauflustigen Alkoholikern den Teufel aus dem Glase vertreiben will.,.Und das will sie immer wieder kompromißlos. Sie ist von fast zierlicher Gestalt. Aus ihren großen braunen Augen sprechen nicht nur Güte und Mut. sondern auch eine gewisse Unerbittlichkeit, die jeden noch so wilden Kerl auf den Sessel vor dem Schreibtisch zwingt.

Und es sind schon viele vor dieser jungen Frau gesessen, die erst seit 15 Monaten die Trinkerfürsorge der Caritas leitet. Schon in dieser kurzen Zeit sind 180 Menschen vor dem Dämon Alkohol gerettet worden, hat es diese tapfere Frau zuwege gebracht, immer wieder das Gespenst des vollen Glases zu vertreiben. Damit hat sie 180 Familien Glück und Frieden zurückgegeben, denn bei fast allen Trinkern handelte es sich um Familienväter. Die Caritas hat für diese Menschen 37.000 Schilling ausgegeben, ein kleiner Aufwand, wenn man bedenkt, wie vielen Menschen damit aus Not und Verzweiflung, aus einer finsteren Ausweglosigkeit wieder zu echter Lebensfreude verhelfen werden konnte.

WIE DER BÄRENLACKEL zu dem Fräulein in die Trinkerfürsorge gefunden hatte, gab er nie genau an. Jedenfalls hatte ihm diese kleine zarte Gestalt damals auf der Dorfstraße den Weg gezeigt, und er ist diesen Weg gegangen, obwohl sein ganzes Dorf hundert gegen eins gewettet hätte, daß er von seinem Suff nie lassen werde. So aber geht es den meisten. Sie wissen nicht, wieso sie eines Tages vor dem Schreibtisch in der Trinkerfürsorge sitzen und sich all das „gefallen lassen“, was ihnen dort gesagt wird. Auch der 24jährige Legionär war sprachlos. Seine Mutter hatte sich oftmals vor ihn hingekniet und mit erhobenen Händen gebeten, er möge das Trinken sein lassen. Er hatte nur gegrölt und die Mutter zur Seite gestoßen. Er hatte wieder nach der Schnapsflasche gegriffen und weiter getrunken. Das verdankte er der Legion, er wußte es, aber konnte es nicht lassen. Als dieser Legionär dann vor dem Fräulein saß und sich sagen lassen mußte, daß er ein Trinker sei, da brauste er auf. ,;Geht Sie das was an? Waren Sie jemals in Indonesien oder in Algerien? Hat neben Ihnen schon der Freund den Kopf so verloren, daß Ihnen dieser blutig vor die Füße rollte? Haben Sie schon gespürt, was es heißt, mit dem Buschmesser eins über den Schädel zu kriegen?“ Da schrie er schon, beugte sich vor, griff mit seinen Fingern in sein schwarzes Haar, zog es auseinander, und da klaffte eine zehn Zentimeter lange Narbe, über die eine feine zittrige Haut gespannt war. Die Fürsorgerin war ergriffen, aber das wollte sie nicht merken lassen.

„Ich kann mir denken“, meinte sie nach einer Pause, „daß es fürchterlich sein muß, all diese Kämpfe durchzustehen. Sie aber haben sich als Kämpfer bewährt. Einen Kampf müssen Sie noch auf sich nehmen. Sie werden sich wieder bewähren. Ihr jetziger Feind ist der Alkohol. Sie werden nicht allein kämpfen, wir werden Ihnen helfen.“

Der Mann willigte ein. Er sagte noch, es sei ihm ja alles recht, nur soll ihm keiner kommen und sagen, er sei ein Schwächling, weil er trinke. Dort, wo er das Trinken gelernt habe, hätte es keine Schwächlinge gegeben. Helfen wolle er sich gerne lassen, er habe indes wenig Zuversicht. Sechs Wochen später saß er daheim bei seiner Mutter, und es gab im ganzen Hause keinen Tropfen Schnaps mehr. Hin und wieder kam die Fürsorgerin der Caritas auf Besuch. Der Legionär und seine Mutter freuten sich dann, denn sie wußten, was sie dieser bescheidenen Helferin eigentlich verdankten.

DAS GEHT ALLES aber nicht immer ganz so einfach vor sich, wie man versucht sein könnte, anzunehmen. Wer gibt schon zu, ein Trinker zu sein? Wer will sich schon die Flasche aus der Hand nehmen lassen, wenn sie ihm seit Jahren zum zuverlässigen „Freund“ geworden ist? Die Caritas hat aber einen Weg gefunden, auf dem Trinker das mit sich geschehen lassen. Diese Leute erkennen plötzlich, daß sie der Alkoholteufel schon an den Rand der Verzweiflung getrieben hat, an den Abgrund des Irreseins. Vor diesem Abgrund verhalten sie noch einmal, stieren mit ihren rotumränderten Augen in seine Tiefe, und es packt sie das dumpfe Grauen. In solchen Augenblicken der plötzlichen Erkenntnis tasten diese Menschen wie suchend um sich, und wenn sie dabei eine hilfreich ausgestreckte Hand fühlen können, greifen sie darnach und lassen fast willenlos mit sich geschehen, was geschehen kann, um sie von diesem Abgrund wegzuführen.

EINER KAM HEREIN in das Zimmer, und wir hatten Gelegenheit, ihn zu sehen und seine Worte zu hören. Er kam an einem kalten Apriltag, aber er trug nur Hose und Rock. Wirr hing ihm das Haar in die Stirn, sein Gesicht war faltig, narbig und grau wie Zigarettenasche. Seine Augen glänzten, als stünden sie in Alkohol. Aus dem Munde roch er wie ein Rumfaß aus dem Spundloch. Er wankte. Das war am Vormittag. Es war, ein Arbeitstag, und er hätte eigentlich an seinem Arbeitsplatz stehen sollen. Das aber tat er nicht. Er scherte sich auch nicht drum. Etwas unsicher trat er auf den Schreibtisch zu, hinter dem die Frau saß, bei der er sich melden sollte. Sie bot ihm den Sessel an. Er setzte sich, ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust und förderte eine Wolke Rumaroma in den Raum. Wieso er hierherkomme, fragte ihn die Frau. Er starrte sie eine Weile etwas unverständig an. strich mit seinen ungepflegten Fingern die Haare aus der Stirn, und dann sagte er — das Sprechen fiel ihm nicht ganz leicht: „Da bin ich unlängst an der Kirche vorbeigekommen, ’s war der alte Dom. Hin und wieder lese ich Zettel, die angeschlagen sind. Auf der Kirchentür war so ein Zettel, den ich las. Und darauf stand von der Caritas und von der Tür 16a. Na, und jetzt bin ich halt da.”

Er sei verheiratet, erzählte er, die Frau wohne aber in Rumänien, er sei allein in Linz als Mechaniker. Er bewohne ein Massenquartier, und er sei ohne jeden Anhang. „Also sind Sie ganz allein in Linz?“ fragte die Frau hinter dem Schreibtisch. Und er, dem der Kopf so schwer geworden war, daß er ihn von der einen Schulter immer wieder auf die andere neigte, gab an: „Tja, ich bin so ziemlich das, was man allein nennt. Bin die meiste Zeit allein. Wissen Sie überhaupt, wie ich allein bin?“

Die Frau blickte ruhig und fest auf diesen Mann, der sie aus gläsernen Augen anstarrte und von ihr die Antwort auf seine Frage forderte. Dann sagte sie, und es kam ihm das, was sie sagte unverhofft: „Wir sind alle irgendwo allein, aber es gibt Einen, der. wenn man zu Ihm findet, keinen allein sein läßt.“

Er hatte seinen Kopf gesenkt und starrte auf den Boden. Dann hob er sein Gesicht und blickte an der ’Frau vorbei in ein Nichts. Schließlich sagte er tonlos: „Es waren immer ein paar Glaseri.“

„Wieviel waren es?“

„Es waren vielleicht zwei Liter pro Tag.” „Was?“

„Na, das hab’ ich doch schon gesagt!“ „Rum?“

„Ja, Rum."

Es war nicht mehr notwendig, ihn weiter zu befragen. Sein Gesicht, seine feuchten Augen, seine entkräftete Gestalt gaben all das an, was er nicht hätte sagen wollen. Er war ein langjähriger Trinker. Sein „Freund“, der Rum, hatte ihm fast schon das letzte Mark aus den Knochen gebrannt. Es gab für das Fräulein der Caritas keine andere Möglichkeit, als hier unverzüglich mit der Hilfe einzusetzen. Er ließ es auch willig mit sich geschehen, als sie ihm die Einweisung gab und sagte:

„Am nächsten Montag beginnen wir mit der Entwöhnungskur. Zehn Tage verbringen Sie im Krankenhaus. Dann wird alles gut sein. Aber auch nachher werden Sie nicht mehr allein sein. Wir werden uns um Sie kümmern. So wie um all die anderen, die unsere Freunde geworden sind.“

„Aber was Sie da aufgeschrieben haben, das bleibt doch unter uns? Es erfährt doch niemand, daß ich das war, der bei Ihnen gewesen ist?”

„Nein, das erfährt niemand. Hier haben Sie etwas Tee, den trinken Sie bis Montag, er wird Ihnen jetzt schon helfen. Am Montag kommen Sie wieder.“

Der Mann stand auf, ging zur Türe, drehte sich noch einmal um und wollte der Fürsorgerin die Hand zum Abschied reichen. Die Frau aber legte ihm ein kleines, hell glänzendes Metallplättchen auf die zerfurchte Handfläche. Er sah auf diese Plättchen und erkannte, daß es' ein Amulett war. Von diesem - Amulett blickte ihn däs 'Bild Mariens an. Er-starrte darauf, dann starrte er auf die Fürsorgerin. Er nahm den winzigen Anhänger zwischen die Finger, besah ihn aus der Nähe und blickte wieder auf die Frau, die ihm gesagt hat, daß sie ihm helfen wolle. Dann ließ er ihn von den Spitzen seines Zeigefingers und Daumens zurück in die Handfläche fallen und schloß seine Finger darüber zu einer Faust. Er sagte nicht danke und nicht auf Wiedersehen, Seine rotumränderten Augen stierten hilflos in ein Nichts.

Er schluckte nur und drehte sich langsam um. Er wankte leicht det Türe zu und ging hinaus. Draußen sah er die müden Gestalten an den Wänden nicht. Er roch sie nicht und hörte sie nicht hüsteln. Er ging den Gang entlang und dachte an nichts als an die beiden Frauen, die ihm eben begegnet waren — die eine am Schreibtisch und die andere auf dem Amulett in seiner Hand.

WOCHEN SPÄTER saßen ehemalige Trinker im Gemeinschaftsraum der Caritas in Linz. Sie waren meist aus Geselligkeit Trinker geworden, von Freunden animiert und im Kummer zu Alkoholikern entartet. Monatlich pflegen diese gesundeten Menschen einen Abend gemeinsam mit ihren Helfern der Caritas zu verbringen. Es wird an diesem Abend musiziert, gesungen und gelacht, gegessen und getrunken — aber Apfelsaft. Da werden Erlebnisse und Witze erzählt. Es gibt nur glückliche Menschen an so einem Abend. An jenem einen Abend saß Wochen später auch der Mann unter den Glücklichen, der täglich zwei Liter Rum getrunken hatte. Er war geheilt worden und hatte Sucht und Einsamkeit verloren. Als der Abend seinem Ende zuging, und das geschieht immer so, löschte die Fürsorgereferentin Schwaiger das Licht aus. Sie entzündete eine Kerze, in deren flackerndem Schein die Gesichter der Männer im Schattenspiel zurücktraten. Dann begann die Frau mit dem Vaterunser. Viele hatten es seit Jahrzehnten nicht mehr über die Lippen gebracht, über Lippen, die immer feucht waren von Alkohol und verdorben von Flüchen, die eine mit Verzweiflung erfüllte Brust ausstieß. Alle beteten, und es gab keinen Unterschied zwischen diesen Männern, denn sie hatten die große Gemeinschaft erlebt, die ihnen fremd gewesen war, der sie aber jetzt alle angehörten. J .

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