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DER THEATERBETRIEB

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Ein Theater, bestehend aus Bühne, Saal und einem Unternehmen, das schon dadurch, daß es Geld einbringen muß, zum Geschäftsunternehmen wird, und einem geistigen oder gesellschaftlichen Unternehmen, umfaßt vier wohlunterschiedene Abteilungen: den technischen Dienst, die „Technik“ {Bühne); den Kontrolldienst (Saal); die Geschäftsleitung (im engeren Sinne); den dramaturgischen Dienst.

Die „Technik“ ordnet alle Berufsgruppen, die im Dienste der dramatischen Kunst stehen, um sich: Schreinerei, Beleuchtung, Tapeziererei, Färberei, die verschiedenen Schmiedeberufe, Tongeräte (Grammophon, Lautsprecher, Tonbandgeräte), Malerei (Oel-, Anilin-, Leimfarben), Antiquariat, Basar, Flohmarkt, Nippsachenladen, Getränke, Konditorei, Schneider, Waffenladen, Friseur, Feuerwerker usw. Kurz alles, was die Menschen im Leben für sich brauchen, ist hier in einem ganz entsprechenden Auszug vorhanden.

Der Dramaturg besorgt die Beziehung zur Außenwelt, Zeitungen, Kritiken, Autoren und Publikum; er versieht den Dienst des moralischen, geistigen und gesellschaftlichen Teils.

Der Hauptkontrollor befaßt sich mit dem Theatergebäude und dem Saal: Heizung, Röhren, Stuhlreparaturen, Teppichreinigung, Kasse, Vorverkauf, Reklamevorhang, Programme, Garderobe, Bar, Schaukästen usw., und am Abend: Empfang des Publikums. Er muß so handeln, daß jeder Zuschauer glaubt, er: werde vom Theater persönlich empfangen Die Atmosphäre, die am Abend bei der Kontrolle herrscht, bestimmt — im günstigen oder ungünstigen Sinne — das ganze Publikum.

Endlich ist da noch die eigentliche Geschäftsleitung, Sekretärinnen, Rechnungsführer und Buchhalter, die vom Geschäftsleiter behütet werden. Diese Dienstabteilung befaßt sich mit der Bezahlung der Rechnungen, der Gagen der Künstler und der ganzen Belegschaft, mit den Sozialabgaben und bezahlten Ferien, sie befaßt sich mit der eigentlichen Buchführung (um den Besuchen von Steuerbeamten gewachsen zu sein) und mit der Bilanz der Gesellschaft; zudem mit Geschäfts- und anderer Korrespondenz; schließlich legt der Geschäftsleiter, wie jeder weiß, nur annähernd das-Budget fest.

Die Schreibmaschine ruht und die Stenodaktylo nimmt Briefe ins Stenogramm. Der Geschäftsleiter sitzt hinter seinem Schreibtisch. Der Theatermensch hat einen Stuhl genommen und sitzt wie ein „Kunde“ da. Dieser Geschäftsbetrieb wickelt sich in einem „familiären“ Rahmen ab. Die Daktylo gibt ihre Ansicht zum besten, der Geschäftsleiter erfindet neue Projekte, der Theatermensch leitet das Geschäft mit einem Lächeln. Der ganze Laden amüsiert sich. Er denkt an seine Kindheit zurück, als er „Verkaufen“ spielte. Er weiß, daß er im Grunde eine Vagabundenseele hat, und das einzige, das ihn ernsthaft werden läßt, ist das Bewußtsein, daß er für die ungefähr hundert Personen, die von diesem Unternehmen leben, verantwortlich ist.

Oeffnen wir jetzt die Post: junge Leute, die zum Theater wollen, Manuskripte, weitere Rechnungen. „Aha, ein Brief unseres Impresarios für die Tournee in sechs Monaten; es ist höchste Zeit! Sobald er da ist, sofort den Vertrag besprechen! In drei Tagen ist er in Paris!“ Er diktiert das Telegramm: „Sofort ein Rendezvous vereinbaren.“

Du lieber Gott! Es ist sieben Uhr. Ich muß zur Verständigungsprobe für die Umbesetzung. „Hat die X. Y. noch immer nicht angerufen?“ — „Nein.“ — „Ich gehe jetzt auf die Bühne, rufen wir an, damit wir wissen, was los ist, oder rufen Sie besser den Arzt an.“

Während er durch die Gänge eilt, denkt der Theatermensch an die berühmte Mutter Bou-glione, (die seinerzeit in ihrem alten Wohnwagen über die Landstraßen zog. Ein großes Waschbecken balancierte zwischen den Rädern im Rhythmus des Pferdeschrittes. Das war, sagt man, die ganze Administration der Familie Bou-glione. Man schüttete die Einnahmen hinein. Hatte man etwas zu bezahlen, schöpfte man heraus. Erschien der Boden, schnallte man den Gürtel enger. Wenn die Oberfläche den Rand erreichte, durften die Pferde eine doppelte Haferration bekommen. Das war richtige Theaterbuchhaltung; denn im Grunde genommen ist alles gleichgeblieben.

Am Kopf unserer Buchhaltung sollte man schreiben: Die ewige Notwendigkeit, Steuern zahlen zu müssen, verursachte Kosten. Für den

Rest würde das Waschbecken der Mutter Bou-glione genügen.

Das ist offensichtlich der Standpunkt eines „Künstlers“ ... Nun, morgen werden wir die Abrechnungen ansehen.

Er ist wegen der Verständigungsprobe schon wieder auf der Bühne. Die Stellvertreterin ist im Kostüm der anderen. Es steht ihr beinahe. „Ist Paulette da? (Die Oberg;arderobiere.) Sie soll kommen.“ — „Hast du ein Korsett an?“ — „Nein.“ — „Du wirst ohne Korsett keine Haltung in einem Stilkostüm haben.“ — „Ich habe eins zu Hause. — „Man soll es holen.“ — „Es ist niemand dort.“ — „Dann nimmst du ein Taxi, ich will dich im Korsett haben.“ Paulette kommt. Vorn muß man den Rock heben, den Saum auftrennen und herunterlassen, denn der Rock ist ein wenig kurz. „Uebrigens hat es für die Kleine zuviel Unterzeug, nehmen Sie eine Lage weg!“ „Zuerst einmal den Text“, sagen die Kollegen, „sonst haben wir keine Zeit mehr, vor der Vorstellung etwas zu uns zu nehmen.“ Solche Um-besetzungsproben machen die Schauspieler und das Theater nervös. Im Theater kann man mit wirklicher Freude nur vor dem Publikum spielen oder ein neues Stück einstudieren. Der Theater-mensch ist traurig und der arme Schauspieler, der sich dafür opfert, die Situation zu retten, ist das unglücklichste menschliche Wesen. Er merkt, daß alle Kollegen wütend sind, daß sie einen Text, den sie jeden Abend sagen, nun so trocken hersprechen müssen. Er hat Angst, sie in ihren Bewegungen zu stören, denn gezwungenermaßen hat er nicht dieselben Bewegungen wie der Kollege, den er vertritt. Er weiß, daß der Theatermensch seine Inszenierung auf einmal auseinanderfallen sieht. Und er weiß auch, daß er selber keine Freude haben wird zu spielen, denn das Lampenfieber wird ihn bald lähmen. Und wenn er trotzdem weiterarbeiten will, dann nur aus Liebe zur Sache selbst, aus Liebe für den Kollegen und für das Theater.

Um diese ganze Last ertragen zu helfen, muß der Theatermensch, auch wenn es ihm nicht selbstverständlich ist, zu Aenderungen in der Inszenierung Zuflucht nehmen. Statt die Stellvertreterin in die Inszenierung einzubauen, baut er die Inszenierung um sie herum. Das bringt die Gewohnheiten der anderen durcheinander und versetzt das Blut in Bewegung. Und nach einer halben Stunde hat nicht nur.jeder seine Routine völlig vergessen, sondern er findet neues Interesse, und der Theatermensch ist sicher, daß alle Kollegen, die nicht mitspielen, in den Kulissen stehen, um ihre Kollegin zu unterstützen und um zu sehen, was aus der in neuer Art gespielten Szene werden wird. Denn der Todfeind des Theaters ist die Routine. So hat der Theatermensch seine Truppe wieder aufgeweckt, und während die Garderobiere der Neuen bei den Kostümänderungen hilft, denken die anderen nicht mehr ans Essen, sondern sie diskutieren angeregt. Die Sekretärin hat sich leise genähert: „Die Kranke ist immer noch im Bett, sie hat am Telephon geheult.“ — „Wenn Sie heimgehen kaufen Sie, bitte, zwei Veilchen-sträußchen, eines für die da und das zweite bringen Sie der anderen.“

Der Beleuchter löscht das Bühnenlicht; das ist seine Art mitzuteilen, „es wird geschlossen“. Alle verschwinden.

„Wie spät ist es?“

„Sieben Uhr fünfunddreißig.“

Der Theatermensch geht in seine Garderobe zurück. Sein Kopf dreht sich. Er hängt vor seine Türe ein Schild: „Ruhe!“

Er schreit durch den Gang: „Ich schlafe zwanzig Minuten, Anais! (Seine Garderobiere, das heißt seine Mutter, seine Pflegerin.) Bringe mir meinen Tee um zwanzig Uhr fünf.“

Er schließt sich ein, löscht das Licht und legt sich, auf das Sofa, das in einem Stück mitgespielt hat. Ein zwanzig Minuten langes Untertauchen. Die Bühnenarbeiter reinigen die Bühne, bauen das Bühnenbild, und die Beleuchter stellen die Scheinwerfer auf. Die Schließerinnen kommen in den Saal und warten schwatzend, bis es Zeit ist.

Vor dem Theater bilden die „Getreuen“ eine

Schlange, um billige Plätze zu bekommen. Die Türlampen werden hell.

In den Garderoben legen die Garderobieren die letzte Hand an Kostüme, Schuhe, Schwerter usw. Die Coiffeuse dreht Löckchen, bringt die Perücken zum Glänzen und legt die Schminksachen zurecht. „Die Götter der Illusion machen sich bexejt, ja scheinen.“ ;

r ..-.fön verschwommenes Geräusch von einer Teekanne, einem Löffel, kochendem Wasser, einer Blechbüchse mit ein paar Biskuit meldet dem Theatermenschen, daß der Moment des Erwachens gekommen ist.

Ja, im Laufe dieser zwanzig Minuten soll der Theatermensch verschwunden und der Schauspieler wieder zum Vorschein gekommen sein. In der Theorie stimmt das, aber in Wirklichkeit verschwindet der Theatermensch nie völlig, und das ist für den Schauspieler ein großes Hindernis. Er kann nicht umhin, während des Spiels die Aufführung zu überwachen. Er beobachtet seine Kollegen, ihre Fehler, ihre Improvisationen. Den kleinsten Lichtfleck, der nicht die gewünschte Stärke hat, spürt er. Es muß nur ein Möbel an einem falschen Ort stehen, und schon ist er verwirrt. Er muß also seine Willenskraft verdoppeln, um seine Figur aus dieser Verschwörung von Ablenkungen zu retten.

Der Inspizient läßt durch die Lautsprecher in den Garderoben folgende Meldung ertönen: „In 25 Minuten fangen wir an “ Erstes, noch nicht alarmierendes Signal. Jeder Schauspieler, der im ersten Akt zu tun hat, sollte in dem Moment da sein, sonst muß die Garderobiere seine Abwesenheit melden.

Die Truppe ist geschminkt.

„In einer Viertelstunde fangen wir an.“ Jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren. Die Spannung steigt. In der Regel sollten die Masken fertig sein; man zieht das Kostüm an.

„Auf die Bühne für den ersten Akt.“ Das will heißen: in fünf Minuten fangen wir an. Der Schauspieler sollte sich nur noch ein letztes Mal im Spiegel ansehen müssen.

Der Theatermensch ist schon seit dem zweiten Signal auf der Bühne. Wie ein Pilot vor dem Start alle Hebel kontrolliert, prüft er das Funktionieren der Dekorationsstücke, die „mitspielen“, die Requisiten und vor allem das Licht. Erst wenn er alle „Gradmesser seines Apparates“ geprüft hat, verläßt er sich auf die „Gnade Gottes“ und übergibt dem Oberinspizienten das Kommando.

Und während drei Stunden löst sich der Theatermensch auf. Man sieht ihn nicht mehr oder fast nicht mehr. Aber nach der Vorstellung, kaum ist der Vorhang gefallen, kommt er wieder zum Vorschein.

Die Truppe steigt wieder in die Garderoben hinauf und kommentiert die „Partie“. Uebrigens fühlt man sich nach einer Vorstellung so wohl, leicht und erschöpft. Ein paar Freunde kommen zu Besuch und man spricht vom Stück, das man noch ein wenig mehr lieben gelernt hat. Man befreit sich von den Schuhen und dem ganzen Brimborium, man ist — und das mit Recht — schmutzig und schweißgebadet, man hat Hunger und Durst, das Blut eilt durch die Adern. Jetzt .hat.manZ'rtHdie.Miihefl'deTäges aHjsauJkostei.

„Sie haben rhir versprochen, den Spielplan zu geben. Der Drucker kommt morgen früh.“

„Ach, das ist ja wahr. Wie lästig Sie sein können.“

Der Theatermensch hat ebensowenig Lust; sich mit der Geschäftsleitung zu befassen, wie — sich ins Wasser zu stürzen. Aber er steht bereits unter der Dusche.

„Anais!“ — „Ja?“ Die Garderobiere gibt ihm den Bademantel. „Nach der letzten Vorstellung, das heißt in vier Monaten, gibst du mir eine ,Gauloise bleue'.“ — „Jawohl, jawohl! Aber vorher nichti“

Gerade jetzt würde eine Zigarette so gut schmecken!

Wie lästig ist das alles, wiederholt er, ohne daran zu denken, während er seinen Geschäftsleiter aufsucht, um den Spielplan festzulegen.

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