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Der Tod gehört zum menschlichen Dasein

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Gedanken über die Bedeutung des Todes und ihre historische Veränderung.

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Gedanken über die Bedeutung des Todes und ihre historische Veränderung.

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„Der Mensch kennt seine Zeit nicht”, steht im Alten Testament bei Kohelet. Der moderne Mensch wird meist nur medial mit dem Tod konfrontiert. Die Zeit ist kein Buch, in dem wir beliebig blättern können, sie ist eine lineare Größe, eine Bewegung, der sich alles unterordnet. „Die Zeit vergewaltigt; sie ist die einzige Gewalt (..); die Zeit führt einen, wohin man nicht will”, schreibt die Philosophin Simone Weil einmal und drückt damit unsere Hilflosigkeit angesichts dieser Dimension aus. Die Zeit führt uns zielsicher nur zu einem Punkt: zum Tod.

In dem kürzlich im ORF ausgestrahlten Dokumentationsfilm „Das wirkliche Leben” von Herbert Link kamen Menschen zu Wort, die mit der Realität ihres eigenen Todes hautnah konfrontiert worden waren, Drogenabhängige, Krebskranke, HIV-Positive. Allen gemeinsam war die Erfahrung, daß das Leben ein anderes wird, wenn der Tod miteinbezogen ist. „Dieser Krebs hat mich rauskatapultiert aus der einen Schiene und hat mich in eine andere hineingeworfen. Und das hat mein ganzes Leben verändert”, berichtete die Grafikerin Luise Buismann.

Ebenso entdeckte der Student Gerhard Schnejder erst im Kampf gegen den Krebs seinen Lebenswillen wieder. Für ihn war die Angst das maßgebliche Problem im Leben. „Die Angst ist das, was uns von den Dingen und auch vom Leben abhält. Und das wirkliche Leben beginnt wahrscheinlich dann, wenn man diese Angst überwindet oder bekämpft.”

Nikolaus Gerdes, von Beruf Soziologe, brachte schließlich das Moment der Ahnung des kommenden Todes zur Sprache. „Und dann kam ein Moment unsäglicher Todesangst. Die hat vielleicht nur wenige Sekunden gedauert. Weil ich dann gemerkt habe, wie unter dieser total realen Nähe des Todes ein Etwas in mir übernimmt, das weiß, wie das geht mit dem Sterben. Jedes Tier weiß es.”

Dieses Ahnen des herannahenden Todes, das Gerdes im Film beschrieb, zählte seit Menschengedenken zu unserer „condition humaine”. Die Menschen wußten, wann ihre Stunde gekommen war, wie Philippe Aries in seiner „Geschichte des Todes” anhand vieler Beispiele zeigt. Sie waren sensibilisiert und empfänglich für die Zeichen, unter denen der Tod sich ankündigte. „Liebe Nichte, ich fühle mich dem Tode nahe”, kam selbst Don Quichote, der lebenslange Phantast am Ende seiner Tage zur Ernüchterung. Ebenso antwortet der in einer Herbergsküche untergebrachte, sterbenskranke Postkutscher aus Tolstois „Drei Tode” auf die Frage einer gutherzigen Frau, wie es um ihn stehe, mit der bescheidenen Auskunft: „Der Tod ist da, das ist es”.

Das zweite Merkmal, welches Sterben über viele Jahrhunderte hinweg kennzeichnete, war jenes der Öffentlichkeit. Wenn jemand starb, war er von Menschen umgeben und von Ritualen begleitet. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts kam es vor, daß Fremde, sahen sie einen Priester mit der Letzten Ölung zu einem Sterbenden eilen, sich diesem anschlössen und ins Sterbezimmer mitgingen. Die vielen Menschen, die sich häufig um Sterbende herum drängten, führten sogar zu Klagen von Ärzten und Hygienikern, allerdings ohne großen Erfolg.

Daß das Sterben ein Prozeß ist, der nach einem würdigen Ort verlangt, zählt längst nicht mehr zu unserem gesellschaftlichen Wertekanon. In einer Gesellschaft, zu deren obersten Attributen „jung”, „dynamisch” oder „leistungsfähig” zählen, hat der Tod keinen Platz. Er wird tabuisiert, verdrängt und in Bereiche abgeschoben, wo er rational faßbar ist, so etwa in Krankenhäuser. Der mit Krankheit assoziierte Tod scheint uns erträglicher als das ganz normale Sterben eines normalen Menschen. Der Wunsch vieler Menschen, zuhause und unter vertrauten Gesichtern zu sterben, trifft somit auf ein Vakuum.

Weitgehende Verdrängung des Todes

Die heutige Tabuisierung des Todes hat viele Ursachen, deren größte sicherlich die menschliche Selbstüberschätzung ist. Wenn die Kirche Jahr für Jahr am Aschermittwoch daran erinnert, daß wir Staub sind und zu Staub zurückkehren, so mahnt sie, jener kollektiven Lebenslüge, gemäß derer das Leben nur als solches wirklich zu genießen ist, wenn man den Tod möglichst an den Band drängt, nicht Folge zu leisten und Gott als Ausgangspunkt und Endpunkt unseres Lebens zu begreifen.

Eine andere, sehr zeitgenössische Ursache für die weitgehende Verdrängung des Todes aus unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit besteht darin, daß unser Bild vom Tod immer weniger durch reale Erfahrungen geprägt wird als vielmehr durch eine Unzahl von Toden, die uns via Fernsehen übermittelt werden. Der Tod erhält so eine neue Öffentlichkeit, freilich eine sehr fragwürdige, nimmt der Zuschauer doch nicht aus Anteilnahme am Sterben eines Menschen teil, sondern aus Neugier, Betroffenheit, Sensationslust oder schlichtem Interesse, was nicht weniger zynisch ist.

Der Fernseh-Live-Tod entfremdet vom alltäglichen, realen Tod insofern auch, weil er nahezu ausschließlich Bilder von Menschen zeigt, die plötzlich und unerwartet meist einen gewaltsamen Tod erleiden. Heute wie damals ist jedoch dieser plötzliche Tod eher die Ausnahme als die Regel. Philippe Aries schreibt, daß in früheren Zeiten, als man mit dem Tod vertraut war, der plötzliche Tod als häßlich und gemein empfunden wurde. Er flößte Angst ein - ein fremdes und schreckliches Phänomen, über das man nicht zu sprechen wagte. Ebenso abstoßend wurde etwa im Mittelalter auch der heimliche Tod ohne Zeugen oder Zeremonien empfunden, etwa der Tod eines Reisenden unterwegs oder jener eines im Flusse Ertrunkenen. Für uns Heutige ist es umgekehrt: der dramatische Tod läßt uns erschauern, das banale Sterben wird als unangenehm empfunden.

Wir verlernen das Sterben

Werden wir via TV ausschließlich mit „plötzlichen Toden” konfrontiert, wird unser Rild vom Tod verfälscht, und wir verlernen das Sterben. Der Tod der Fernen ist ähnlich problematisch wie die Fernstenliebe. Beides mag unter die Haut gehen und emotional berühren. Die Frage ist nur: Cui bono? Wem nützt es? Eine TV-Öffentlichkeit des Todes nützt keinem. Sie ist eine Pseudo-Öffentlichkeit, die unklare Gefühle erzeugt und zur perfekten Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft beiträgt.

Will man den Tod als Bestandteil des menschlichen Daseins begreifen, so ist die eine Sache, die eigene Sterblichkeit anzunehmen, die andere die Frage nach dem „danach”. „Wer trüge Lasten, um unter einem mühevollen Leben zu ächzen und zu schwitzen, wenn nicht die Furcht vor etwas nach dem Tod - das unentdeckte Land, über dessen Grenze kein Reisender zurückkehrt - die Willenskraft verwirrte und uns dazu bringt, lieber jene Übel zu ertragen, die wir haben, als zu anderen zu fliehn, von denen wir nichts wissen”, seufzte Hamlet voller Ungewißheit über das Jenseits.

Christen verheißt der Glaube, daß mit der letzten irdischen Stunde das Leben nicht ausgelöscht, sondern verwandelt wird. Die Ewigkeit Gottes ist auch für den Menschen bestimmt. Mit dieser Hoffnung ist die schwere Bürde, daß der Mensch seine Zeit nicht kennt, zu ertragen.

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