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Der Tod geht um im Kongo-Urwald

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Kokonyange, 1. November 1949

Afrikanacht! Der Mond wirft nur ein verhaltenes Licht auf die Urwaldlandschaft. Ich sitze auf der Veranda meiner Hütte und träume in die Nadit hinein.

Das große Dorf vor mir ist totenstill, Schon drei Wochen lang erlebe ich diese Totenstille. Nie ein Trommelwirbel, nie ein Tanz — ungewöhnlich für Afrika. Augenscheinlich ist etwas nicht in Ordnung. Am Abend fragte ich Selia, einen intelligenten Neger, und er zuckte die Achseln, ein verbitterter Zug lag um seine Mundwinkeln. „Jawohl, das Dorf ist tot“, meinte er bitter. „Früher gab es keinen Hunger bei uns. Essen in Überfluß. Heute, die Straße entlang, nur Hunger! Wenn die Menschen hungrig sind, werden sie krank und ster- . ben. Darum sterben jetzt so viele bei uns.“

„Warum der Hunger?“ frage ich. „Wie soll ich’s wissen?" erwidert er erregt. „Vielleicht Verhexung. Früher hätten wir es so gedeutet!" Und dann kam es plötzlich heraus; „Immer nur herumgestoßen, immer nur zur Arbeit angetrieben. Früher war es anders, da hatten wir unsere Pflanzungen, und wir hatten genug zu essen. Wir hatten Bananen und es herrschte Freude. Heute ist alles tot..."

Ich hörte zwar wiederholt aus Negermund, daß die Verhältnisse ehedem alles andere als sicher waren. Überall war Unsicherheit und Krieg. Ein Dorf bekämpfte das andere. Die Weißen haben dem Land den Frieden gebracht. Auch die Pygmäen gaben die zu. Man verkannte also den großen Vorteil, den die Weißen diesen Urwaldmenschen gebracht hatten, nicht. Aber das Ganze hatte doch auch eine Kehrseite. Das sprach heute Selia mit Ingrimm aus.

Am Raphaelstag brachte man mir einen todkranken Knaben. Ich konnte ihm zwar einige Medizin verabreichen, aber der Fall schien hoffnungslos. Also taufte ich ihn und gab ihm den Namen Raphael. Es handelte sich zweifellos um eine Lungenentzündung. Am selben Tag starb der Onkel dieses Knaben, angeblich an einem Leistenbruch. Als ich mich aufmachte, dem Begräbnis beizuwohnen, wurde ich zu einem dritten Kranken geführt. In der gleichen Hütte lag beim Feuer ein Mann mittleren Alters mit röchelndem Atem und geschwollenen Beinen. Mein Boy Muschenzi, der als Heilgehilfe in Missionsspitälern ausgeholfen hatte, bezeichnete ihn als hoffnungslosen Fall von Tuberkulose. Der Mann Fege schon Monate lang da und sieche langsam dahin.

Am folgenden Morgen kam Tedo, ein alter schwarzer Mubira, eiligen Schrittes zu mir mit der Meldung, daß Mahoubou, einer meiner Gewährsleute hier, in aller Frühe zum Begräbnis seines Pygmäenblutsbruders aufgebrochen sei. Es war sein „Kare", Genosse der Beschneidungsschule, dessen Begräbnis beizuwohnen er nach der Sitte streng verpflichtet war. Er kam gerade zurecht, um ein Blutvergießen unter den Pygmäen zu verhüten, die einander im Übermaß des Schmerzes töten.

Am Abend hörte ich von einem weiteren Todesfall. Ein anscheinend völlig gesundes Mädchen, das noch am Tage vorher mit ihren fieberkranken Eltern bei uns vorübergezogen war, starb noch am selben Abend.

Gestern kam ein Pygmäe zu mir, brachte zwei Eier, plauderte, rauchte meinen Tabak und gab Antwort auf viele Fragen über das Bambutileben. Dann aber mußte er eiligst aufbrechen, um zum Begräbnis eines Verwandten zurechtzukommen. Es geht ein Sterben durch das Land!

Als ich heute mit meinem zweiten Gewährsmann, Kaweyaweyu, diese Situation besprach, schüttelte er den Kopf. Er könne sich keinen Vers darauf machen. Was mag das sein? Er trägt die weiße Kappe der Mohammedaner, ist aber Stockheide und weiß vom Islam so gut wie nichts. Daher glaubt er auch fest an Flexen. Freilich darf er dies heute nicht mehr laut sagen... Seit die Weißen das Land beherrschen, dürfen Hexen nicht mehr verfolgt werden. Noch um die Jahrhundertwende und sogar noch später hätte in solchen Fällen „ein Kundiger, der die Macht hat, in der Nacht die Hexen zu erkennen“, eine beliebige Person als Hexe ausgegeben. Man machte dann kurzen Prozeß. Leugnete sie, dann wurde ihr der Kopf in ein gespaltenes Gabelholz eingeklemmt und immer enger zugedrückt, bis die Gefolterte in ihrem Schmerz irgend jemand als die wirkliche Hexe angab. Beiden wurde daraufhin das Kelapogift verabreicht. Tat es seine Wirkung, wurde die Hexe mit Knüppeln zu Tode geprügelt; erwies das Kelapo ihre Unschuld, hatte sie

Anrecht auf Schadenersatz, fünf Hühner I vom Angeber. Das war einmal...

Kaweyaweyu wiegt wieder in Gedanken sein angegrautes Haupt. Dann sagt er: „Seitdem die Weißen den Sultani (Häuptling) eingesperrt haben, geht das Land zugrunde. Die Felder sind verlassen. Alles ist matongo (verlassene Pflanzung) und nun sterben die Menschen wie Fliegen.“

Damit gab er einem Glauben der Neger Ausdruck, der zutiefst in ihrer Seele wurzelt. Alle Lebenskraft kommt vom Oberhaupt, sei es dem Ältesten oder seinem Stellvertreter. Werden diese gefangen oder entführt, stirbt alles Leben ab. Das war hier in Kokonyange der Fall. Der weiße Admini- strateur, im abendländischen Denken befangen, kümmerte sich nicht um diese Negermentalität und verhaftete den großen Sultani, weil er die Steuerkasse um einige tausend Franken geprellt hatte.

Die Menschen verstehen einander nicht, wie überall in der Welt, so auch hier in Afrika.

Vor zwanzig Jahren und abermals vor vierzehn Jahren habe ich diese Urwaldgegenden nach allen Richtungen zu Fuß durchstreift. Damals war der Wald, noch . so gut wie gar nicht durch Autostraßen er- I schlossen. Damals war Hungersnot in diesen Waldgegenden unbekannt. Es gab Bananen in Überfluß. Was ist nun geschehen? Schwer zu sagen. Ist es so, daß der auf die Neger ausgeübte Zwang, Staatspflanzungen anzulegen, sie davon abhält, für ihre eigenen genügend zu sorgen? Die Eingeborenen verkaufen zu festgesetzten Preisen ihre Erzeugnisse an die Behörden, die damit die Minenarbeiter versorgen. Die Preise sind aber so niedrig, daß sie keinen Anreiz zur Arbeit geben. Daher wird noch durch die eingeborenen Häuptlinge ein Druck auf die Neger ausgeübt, für größeren Ertrag zu sorgen. Aber auch das hilft nicht, die Produktion Zu steigern. Ich habe früher nie gehört, daß Neger, so wie jetzt, „kondju“ und „endseka“ essen, Waldknollen, die vorerst entgiftet werden müssen und früher nur den Bambuti als Nahrung dienten. Jetzt verzehren sie diese.

Trägt die Verlagerung der Leute aus dem

Wald an die Straßen dazu bei, daß die Felder nicht mehr genügend bearbeitet werden? Die Neger behaupten es. Wie dem auch sei, im Ituriwald geht ein großer Wandel vor sich. Man trägt Tuchkleidung, was vor zwanzig Jahren nur sehr vereinzelt zu sehen war. Die Dörfer verfallen. Weiße haben sich längs der Straßen auch im Urwald niedergelassen. Man beginnt den Holzreichtum abzuschöpfen. Eingeborene arbeiten in zahlreichen Sägereien an den Straßen. Die Weißen haben allerdings auch mit dem Bau von Spitälern begonnen. Nach dem Verbrauch meiner Apotheke zu urteilen, müssen sie alle Hände voll zu tun haben. Mein Muschenzi behandelt täglich an die zwanzig Patienten, meist Lungen- und Malariakranke oder Verletzte. Ich habe den Eindruck, daß die Waldneger dem Einbruch der „Zivilisation“ nicht standhalten können. Die Pygmäen sind noch ein wenig mehr durch das Walddickicht geschützt, in dem sie leben. Aber wie lange? Dieser Tage kam ein Pygmäe zu mir und bat um Medizin gegen Syphilis. Vor zwanzig Jahren ware

Geschlechtskrankheiten im Urwald noch n völlig unbekannt.

r Die Kolonisatoren brachten dem Land den r Frieden, zerstörten aber auch di alten Sitten und Bräuche der Eingeborenen, die. n nun immer haltloser der neuen Zeit gegen- n überstehen. Ich erinnere mich an eine empörte Rede eines alten Negers bei einem e Gespräch gerade vor fünfzehn Jahren, der d den Untergang seines Volkes voraussagte: r „In die Weiber ist der Hoffartsteufel ge- e fahren, sie trachten nur, sich zu zieren un

zu kleiden, sie wissen nicht, wie sehr sie die

4 Hüften verrenken sollten, wenn sie an Männern und Burschen vorbeigehen. An e Kinder und Arbeit denkt keine.“ Der Alte hat nur zu wahr gesprochen. Manche der e Negerstämme, so die ßabira und Ęalese,

r sterben aus. Man plant jetzt die Um

der noch lebenskräftigen Banande in den Wald. Um die Pygmäen, die dem Ur- i waldleben am besten angepaßt sind, kümmert man sich aber so gut wie nicht. Sie werden nach wie vor von den Negern bedrückt und ausgebeutet. Sie sind wie zer- . brechliches Glas in der Hand der Kolonisatoren: für schwere Arbeit, die man von den Eingeborenen fordert, sind sie unbrauchbar. Dennoch sind sie lebenstüchtiger als die Neger. Man müßte einen Weg finden, sie selbständig zu machen und wirtschaftlich zu heben. Die Menschlichkeit verlangt es.

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