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DER TORSO

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Ist es nicht so, daß ein geheimnisvoller Reiz eigener Art jeden Torso umwittert? Ob der Künstler das Werk unvollendet hinterlassen hat oder ob es in Jahrhunderten von brutaler Menschenhand, von der Gewalt der Elemente verstümmelt und entstellt wurde — gleichviel, das Fragmentarische spricht mit überredender Macht zu uns. Ich denke dabei keineswegs an die Ruinenseligkeit der sentimentalen Ära, die sich am Relikt als solchem, am Gedanken der Vergänglichkeit berauschte, ja

Ruinen künstlich nachahmte. Was ich im Sinne habe, ist die vom Unvollendeten oder Verfallenen ausstrahlende Anregung, den Torso im Geiste zu ergänzen. Die Selbsttätigkeit der Phantasie wird aufgerufen, zur Teilnahme am Schöpfungsakt entzündet, und die vielfachen, verschiedenartigen Möglichkeiten dieses geistigen Vollzugs, die Unbestimmbarkeit der vom Künstler letztlich beabsichtigten oder der vom harten Zugriff der Zeit beraubten Gestalt erzeugt ein Gefühl, ein Glücksgefühl inneren Reichtums.

Solches empfinden wir angesichts fast aller Werke Michelangelos, der so gigantisch plante, daß das von ihm Realisierte bei aller (auch äußeren) Größe beinahe immer nur einen Bruchteil seiner Vision darstellt. Und die nie zur Vollendung gediehene Stephanskirche in Wien — spricht sie nicht weit eindringlicher, beschwörender zu uns als der Kölner Dom mit seiner, den alten Plänen bis ins Detail gewissenhaft nachgebildeten Gestaltung, die der Phantasie zu tun nichts mehr übrigläßt? Nun aber Werke, die vollendet waren und uns nur in zerstörtem Bild vor Augen stehen: die Tempel von Paestum, von Agrigent, die Akropolis, der Diokletianpalast • in Spalato und gar Pompeji, Rom... Nicht ermüdet die Phantasie, unbewußt wieder aufzu-erbauen, was sich dem Sinne in Bruchstücken darbietet, und gewiß wäre das kaiserliche Rom, könnten wir's durch Zauberschlag wiederherstellen, in seiner künstlerischen Wirkung nicht so bestürzend wie das Forum, der Palatin in seiner heutigen Gestalt. Denn die Phantasie ist so geartet, daß sie die Realität immer überflügelt: ihr wohnt die höhere Kraft inne, die verklärende Distanz des nicht mit Händen zu Greifenden... Und ergeht es uns bei Werken der Musik, der Dichtung anders? Bei Bachs „Kunst der Fuge“, beim Mozart-Requiem, bei Schuberts h -Moll-Symphonie, bei Bruckners Neunter — bei Schillers und Hebbels „Demetrius“-Dichtungen, bei Goethes „Pandora“? Es ist — unabhängig davon, ob der inappellable Spruch des Todes oder (häufiger) geänderte Forderungen des inneren und äußeren Lebens die Vollendung verhindert haben — die rätselhafte Suggestivkraft des Fragmentarischen, die uns mit hohem Anspruch herausfordert.

Rätselhaft? Ja, diese Kraft ist — auf künstlerischer Stufe — der weit tieferstehenden, doch ähnlich gearteten Lockimg des Rätsels verwandt, das von einem Ding, von einem Begriff vieles aussagt, eins (bisweilen das Wichtigste) offenläßt, den Leser zur Ergänzung lädt: köstliches Spiel des Verstandes, freilich nur des Verstandes, während der künstlerische Torso sich vor allem der Phantasie bemächtigt. Zwischen ihm und dem Rätsel ist das Spielzeug des Kindes beheimatet, jenes, das Freude bereitet, indem es Spielraum gewährt, nicht in technischer Vollkommenheit ein Fertiges hinstellt und abschnurren läßt; ein paar Holzklötzchen, die sich das Kind zu einem Eisenbahnzug imaginiert, bieten ihm mehr als ein elektrisches Wunderding, das es nur bestaunen kann, das keines fremden Willens bedarf und das Kind dadurch zur Passivität verurteilt. Auch der Erwachsene, der sich dem Kunsterlebnis unterwirft, will selbsttätig sein; >vas Wunder, daß seine innere Teilnahme dort besonders erregt wird, Wo ein Teil des Geländes unbebaut geblieben ist?

Dazu ein anderes: Liegt nicht im unvollendeten Werk etwas von dem Aufdämmern des noch nicht ganz Erweckten — im Verfallenen nicht das Signum des nie Endgültigen? So oder so

visieren wir aus dem uns Gegenwärtigen Künftiges oder Vergangenes an: ein Werdendes oder ein Entwerdendes, nicht ein Seiendes wie das fertige, unzerstörte Werk. Und darin liegt wohl das Entscheidende. In beiden Fällen wird das Moment der Zeit wirksam, das dynamischer Art ist und dadurch auch unsere Dynamik weckt. (Ähnlich dynamisch die Wirkung von Bauten, die durch Jahrhunderte in jeweiligem Stilwandel fortgeführt und unter Mißachtung der ursprünglichen Pläne von immer neuem, immer anderem Willen geprägt wurden, wie etwa ein antiker Tempel, der zur Kirche wurde, immer verändert bis ins Rokoko dem christlichen Gott diente und endlich, säkularisiert, zur Wohnstätte umgestaltet wurde; er mutet wie ein lebendes Wesen an, das unter wechselnden Erden- und Himmelsaspekten seine Substanz bewahrt hat.)

Vielleicht berührt sich die Wirkung des Torsos, die Wirkung des Unvollständigen irgendwie mit der des Unvollkommenen, des nicht Erfüllten. Nichts beschwingt die Phantasie mehr als unerfüllte Liebe; nichts lähmt sie so wie Sättigung. Und das Vollkommene? Sei es im sittlichen, sei es im ästhetischen Verstand gemeint, wir vermögen es nicht zu fassen; was zur Vollkommenheit weist, aber sie nicht ganz erreicht, neigt sich uns gewährend zu. Der Sohn Gottes, der „Menschensohn“, der auf dem Ölberg in Todesangst zum Vater betet, ergreift uns mehr als der ewige Vater, zu dem wir nie hinanreichen. Und selbst im Irdischen: vollkommene Schönheit bleibt uns unnahbar, man nennt sie wobl gar ein „Bild ohne Gnade“ — ohne die Gnade menschlichen Erdenrestes; ein Wangengrübchen, eine leichte Asymmetrie des Antlitzes machen es liebenswert. So lieben wir auch die kleinen Schwächen großer Männer, weil wir uns erst dadurch ihnen recht nahe fühlen; nicht minder gewisse Inkongruenzen zwischen Absicht und Gestaltung in den Meisterwerken. In alldem liegt menschliche Wärme und Unmittelbarkeit, die wir Unvollkommenen am völlig Großen, nichts als Schönen missen. Der Torso ist — eben durch seine Stückhaftigkeit — unvoll-

kommen; am glatten Marmor gleiten unsere Blicke leicht ab, an der Bruchstelle haften sie — was hier auch gleichnisweise zu verstehen ist.

Im gleichen Sinne verklärt sich auch fragmentarisches Leben, das Leben derer, die man euphemistisch „frühvollendet“ nennt: Mozart, Schubert, Mendelssohn, Hugo Wolf, Schiller, Kleist, Hölderlin, van Gogh, Trakl... Unwillkürlich setzten wir im Geiste die steile Lebenskurve dieser Großen fort, als potentielle Möglichkeit, vielmehr als eine Fülle solcher Möglichkeiten, die uns bewegt, bereichert. — Gibt es aber überhaupt ein Leben — und reichte es wie das Tizians bis an die äußersten Gemarkungen der Dauer und des Schaffensreichtums —, das man von seinem Subjektiven her ein „erfülltes Dasein“ heißen dürfte? Schon darum nicht, weil die höchstgespannte Erlebenskraft der Kindheit, ihr quellender Reichtum an Geist, Seele, Phantasie, Tatkraft das künftige Leben viel breiter anlegt, anlegen muß, als ihm an Entfaltung in der durch abnehmende Erlebenskraft subjektiv immer rascher und rascher abfließenden Zeit gegönnt ist. Selbst Goethe, der am Ende seiner Tage, nach der Vollendung des „Faust“, von sich sagen durfte, es sei im Grunde nun gleichgültig, ob und was er noch etwa tue, konnte aus dem unmeßbar weiten Feld seiner Gedanken, Entwürfe, Pläne nur einen Teil in Garben binden, mußte in die Scheune seiner Ausgabe letzter Hand auch viel Begonnenes, Abgebrochenes, nicht zur Reife Gediehenes bergen, nicht zu reden von den ungezählten Saatkörnern, die nicht aufgingen.

Denn die Natur gleicht dem Sämann des Evangeliums: Von all den Kräften, die ein Mensch — und nicht nur ein Heros des Geistes, nein, selbst ein Zurückgesetzter, Dürftiger — als Morgengabe für seinen Lebensweg empfängt, kann er nur ein* einziges entfalten, ein geringes zur Blüte und davon nur ein weniges zur fruchtbaren Reife bringen. Darin liegt die tiefste Wurzel aller Lebensenttäuschung: daß wir von uns selbst enttäuscht werden. Wir alle sind Torsi; wie sollte uns nicht im künstlerischen Torso Ahnung und Mahnung berühren?

Das Photo auf dieser Seite stammt aus dem Buch „Die griechische Sendung — Dorische Tempel im Mittelmeerraum“ von Francois Cali, mit Photographien von Serge Moulnier. (Rheinische Verlagsanstdlt 'Wiesbaden.)

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