7102460-1995_17_05.jpg
Digital In Arbeit

Der Umgang mit der „Fettdruck-Sünde”

19451960198020002020

Wie wurde jene Priestergeneration erzogen, die heute noch aktiv ist? Hier eine ehrliche „Beichte”, die an Offenheit nicht zu überbieten ist.

19451960198020002020

Wie wurde jene Priestergeneration erzogen, die heute noch aktiv ist? Hier eine ehrliche „Beichte”, die an Offenheit nicht zu überbieten ist.

Werbung
Werbung
Werbung

Es war mir eigentlich seit meiner Ministrantenzeit klar, daß ich schnurstracks in die Hölle • kommen werde, falls ich mich jemals jener Sünde hingeben sollte, die mir unter dem fremdklingenden Regriff „Onanie” bekannt wurde.

Der umfangreiche Beichtspiegel in meinem Gebetbuch ließ sich wie eine spiegelverkehrte himmlische Versicherungspolizze lesen: Wichtig war nicht das Klein-, sondern das Fettgedruckte. Während sich bei Mord und Totschlag ein, zwei mit Fettdruck gesetzte Sünden befanden,

fab es beim „sexten” Gebot lauter ettdruck: „Ich habe Unkeusches gedacht, ich habe Unkeusches betrachtet, ich habe Unkeusches gelesen, ich habe Unkeusches getan, an mir, an anderen...” und so weiter.

Folgen der Unkeuschheit

Ich habe früh genug gespürt und mit einer damals eher noch unterbewußten Genugtuung registriert, daß ich über eine gute Portion gesunde Erotik verfüge. Denn kaum hatte ich knieend auf meinem Bett und mit zufallenden Augen den Schutzengel um seine guten Dienste als Mitglied der himmlischen Wach-und Schließgesellschaft angefleht, als schon der Diabolos, der sich, wie ich später' durch den Psalmisten erfuhr, ständig herumtreibt (suchend, wen er verschlingen könne), an der Traumgrenze auftauchte. Ich würde lügen, behauptete ich, ich hätte ihn als unangenehm empfunden — zumal er die entzückenden Züge eines jungen glutäugigen Mädchens trug, die mein heimlicher Schwärm und

in der Realität die Tochter unseres Gemischtwarenhändlers war. Und so sah ich im Traum ihre makellosen Schenkel, die mich umgehend zu nächtlichen Erektionen ver-anlaßten. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Wußte ich doch, daß die „Selbstbefleckung” eine Fettdruck-Sünde ist, schwer und mit unabsehbaren Folgen des göttlichen Strafgerichts.

In leuchtenden Farben beschrieb der ungarische Bischof Tihamer T6th, ein begnadeter Jugendschriftsteller, dessen Bücher Ende der Dreißigerjahre in ganz Europa zu Bestsellern wurden, welche Folgen solche Unkeuschheiten haben. Man

bleibt in seinem Wachstum zurück, wird zerstreut, ein schlechter Schüler, der aus der Schule fliegt und am Ende seines rapiden Verfalls nicht selten im Irrenhaus landet.

Insgeheim beobachtete ich meine kleinwüchsigen Schulkameraden, in denen ich Strafkolonisten der „heimlichen Sünde” witterte. Schließlich kam mir nicht einmal im Traum in den Sinn, ein Bischof könnte mich irreführen oder gar lügen. Und so kam ich ins Knabenseminar, da es für mich seit meinem fünften Lebensjahr keinen anderen Beruf gab, als den eines Priesters.

Es waren jene Jahre, in denen meine gottgeschenkte erotische Po-

tenz zur vollen Blüte erwachte. Sie manifestierte sich in herrlichen Orgasmen und in darauffolgenden bedrückenden Schuldgefühlen. Ich ging in einer entferten Ortschaft in eine möglichst dunkle Kirche, suchte mir einen möglichst dunklen Beichtstuhl mit einem möglichst alten und schwerhörigen Priester aus, - so bodenlos war meine Scham, diese schwere Sünde zuzugeben.

Not mit der Unterdrückung

Von meinem zwölften bis zu meinem 24. Lebensjahr im Knaben- und Priesterseminar kaserniert, wurde mir wenigstens gegen die Frauenwelt - bei meiner Heterosexualität kam nichts anderes in Frage — ein Riegel vorgeschoben. Man erklärte uns, daß die sogenannte „pollutio nocturna”, der nächtliche Samenerguß, keine Sünde sei, falls man an dieser Sauerei nicht auch noch Lust empfinde. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich dieses „Wenn” in tiefste Zweifel gestürzt hatte. Es verursachte mir schlaflose Nächte, in denen ich darüber nachgegrübelt habe, ob ich nun frühmorgens bei der Messe zur Kommunion gehen darf oder nicht. Durch solche Wachperioden hatte ich allerdings auch die Möglichkeit zu beobachten, was sich in unserem riesigen Schlafsaal mit den rund 50 Retten abgespielt hat.

Heute weiß ich, was ich damals natürlich nicht mitgekriegt habe, daß nicht nur ich allein meine grausige Not mit der unmenschlichen Unterdrückung meiner gottgeschenkten Erotik hatte — die von Rom noch heute, wenn auch mit schwindender Nachfrage, als katholische Sexualmoral verkauft wird.

Der erotische Stau, eine Mixtur von Verlangen nach Zärtlichkeit, Glück und sexueller Lust, suchte auch bei uns unaufhaltsam seinen Weg, mochte man noch so angestrengt an etwas anderes denken, vor dem Einschlafen von hundert her-unterzählen oder den heiligen Schutzengel anrufen^ wie unsere

priesterlichen Erzieher uns rieten. Die „Versuchung” wollte nicht weichen. Heimliche Freundschaften waren ebenso an der Tagesordnung wie der Austausch von Zärtlichkeiten am Abend nachdem im Schlafsaal die Lichter ausgegangen waren. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, daß in solche heimliche Spiele auch nur einer unserer Erzieher verwickelt gewesen wäre. Wurde offenkundig, daß der eine oder andere Priesterstudent der höheren Jahrgänge homosexuelle Annäherungsversuche unternahm, wurde er fristlos gefeuert. Solche Vorfälle hat es durchaus gegeben. Ich glaube aber, daß pauschale Verdächtigungen an der Realität vorbeigehen.

Klar war uns allerdings auch, daß , dieselben Professoren, die uns vom hohen Wert des ehelosen Lebens erzählten, diesen hohen Wert nicht besonders schätzten. Noch heute staune ich, mit welcher Selbstverständlichkeit wir die Freundinnen unserer Priestererzieher registrierten, obwohl wir damals durchaus an die Notwendigkeit des zölibatären Lebens glaubten.

Irreparabler Totalschaden

Erst später, als ich mich verliebte und trotz langen Nachdenkens keinen Widerspruch zwischen der Liebe und Ganzhingabe an Gott und an eine Frau entdecken konnte, widmete ich mich der jahrelangen gründlichen Erforschung der Geschichte des Zölibats. Durch Erkenntisse, die sich in meinem 1967 bei Rowohlt veröffentlichten Buch „Katholische Priesterehe oder der Tod eines Tabus” niederschlugen, erlitt meine von den Professoren in jahrzehntelanger Bemühung eingetrichterte Sexualmoral endgültig einen irreparablen Totalschaden. Mir wurde es zur Gewißheit: Die kirchliche Sexualmoral ist unhaltbar, ihre Folgen sind katastrophal, ihre Bevision unausweichlich.

Der Autor ist katholischer Priester und Herausgeber des Monatsmagazins KIRCHE INTERN.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung