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Der unvergeßliche Tag

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In seinem neuesten Roman „Herbst des Reiches“, der vor kurzem im Otto-Walter-Verlag in Ölten erschienen ist, hat der österreichische Dichter Felix Braun an Hand der Schicksale einer Wiener Familie die letzten Friedensjahre der Habsburgermonarchie, die Zeit des Krieges und die ersten so schrecklichen Nachkriegsjahre, zu zeichnen vermocht. Das folgende Kapitel ver-öffentlicht die „Furche“ aus dem genannten Werk, da sich wieder jener Tag nähert, an dem vor vierundvierzig Jahren der Weltbrand begann.

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In seinem neuesten Roman „Herbst des Reiches“, der vor kurzem im Otto-Walter-Verlag in Ölten erschienen ist, hat der österreichische Dichter Felix Braun an Hand der Schicksale einer Wiener Familie die letzten Friedensjahre der Habsburgermonarchie, die Zeit des Krieges und die ersten so schrecklichen Nachkriegsjahre, zu zeichnen vermocht. Das folgende Kapitel ver-öffentlicht die „Furche“ aus dem genannten Werk, da sich wieder jener Tag nähert, an dem vor vierundvierzig Jahren der Weltbrand begann.

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In dem großen Redaktionssaal standen die Journalisten beisammen. Niemand arbeitete. Auf dem langen, mit allerlei Papieren, Stößen von Zeitungen, Zeitschriften, Manuskripten, Bleistiften, Federstielen, Löschwiegen, Scheren, Messern, Klebtuben, Radiergummis und anderen Utensilien bedeckten Tischen brannten die grünumschirmten Lampen, obwohl es draußen noch hell genug war. Kaum daß ab und zu ein Wort fiel; es war oft so still, daß man das Abstreifen der Asche von einer Zigarre hören konnte; dann und wann ging und kam jemand, meist Redaktionsboten; auch der bärtige, dicklippige Kopf des Chefredakteurs zeigte sich im aufgehenden Türspalt, blickte fragend oder sprach das aus, was alle einander immer wieder fragten. Der kleine Morseapparat, der hinten an der Wand auf einem Tischchen aufgestellt war, rührte sich nicht. Daß dieses wohlbekannte tickende, klappernde Geräusch laut werde, wünschte jeder. Der junge Doktor Schreikehler ging immer wieder hin, sah angestrengt hinein, so daß seine Hakennase geradezu in Gefahr geriet, von dem Rad ergriffen zu werden; in seinen Schläfe- und Kaumuskeln arbeitete es. WWW“, meldete er/zurückkehrend.

„Wieviel Uhr?“ fragte Fischaug.

„Halb sechs.“

„Um sechs ist die Frist abgelaufen.“ Alle schwiegen.

Fischaug war völlig gebrochen. Jedenfalls war es nicht mehr er, der das Wort führte. Queiß rückte nach und nach an seine Stelle.

„Kein Zweifel, es ist abgelehnt“, sagte er.

„Es wäre kein Wunder“, nahm ein junger blasser Mann mit blondem Schnurrbärtchen und außerordentlich hoher Stirn das Wort: „Ein solches Ultimatum kann kein Volk, das noch einen Funken Ehre besitzt, annehmen, geschweige denn erfüllen. Der beste Wille muß hier versagen.“

„Sie müssen aber nachgeben!“ entgegnete Fischaug. „Sie können es mit uns nicht aufnehmen.“

„Wenn sie nicht nachgeben, was dann?“ fragte ein kleiner Mensch, dessen Gesicht beschattet blieb, da er mit dem Rücken zum Fenster stand.

„Meinen Sie die heutige russische Regierungserklärung?“ fragte Fischaug, wieder unsicher geworden. „Das wäre das einzige.“ Er nahm eines der Zeitungsblätter auf und las laut: „,Die kaiserlich-russische Regierung verfolgt mit Aufmerksamkeit' und so weiter. Verfolgt mit Aufmerksamkeit!' So was hab ich gern. Das wird man in Belgrad auch gehört haben!“

„Kurz und gut: Weltkrieg“, sagte Queiß.

Die Tür zum Chefzimmer flog auf. Der bärtige, dicklippige Kopf streckte sich vor. „Was Neues? Telephon? Telegraph?“

„Nichts.“

„Ist Giebichstein schon zurück?“ „Nein.“

„Ist der Leitartikel für den Fall der Ablehnung schon geschrieben?“ „Jawohl!“ rief Queiß.

„Auf jeden Fall in Satz damit! - Ist der für den Fall der Annahme schon soweit?“

Fischaug zögerte, ehe er das Nein einbekannte. Zum erstenmal in seiner !',ngen Laufbahn als Journalist, daß er hinter der Zeit zurückgeblieben war. Mein Gott, man wurde alt. Man hatte die Atemkraft nicht mehr. Das, Herz verbrauchte sich schneller.

„Was? ...“ die dicken Lippen wichen voneinander. Die Augen dt., bärtigen Kopfes starrten unbegreifend.

„Ich schreibe, so wie die Nachricht da ist.“

„Das ist zu spät. Seit wann wird nicht auf

Vorrat geschrieben? Ich bitte, das zu besorgen.“ Der bärtige Kopf verschwand, die Tür fiel zu. „Der Alte kann mich . . “ sagte Fischaug mit Ueberzeugung — und wurde bleich: Der Morseapparat hatte eingesetzt. Schreikehlers lange, sehnige Hände zitterten, als er das Papier ergriff, — Bei.. . Belgrad mußte es heißen - aber da korrigierte der Apparat sich selbst und schrieb von neuem: Berlin... „Berlin!“ Die Spannung löste sich. „Dreck“, murmelte Fischaug. — „Warten Sie nur“, mahnte Queiß. „Es kann auch wichtig sein.“ In diesem Augenblick stürmte Giebichstein herein.

„Also — so gut wie angenommen!“ keuchte er.

„Wie? Was? Offiziell? Wer sagt das?“ Alle riefen durcheinander.

„Der Sektionschef!“ Giebichstein ließ sich auf einen Sessel fallen. „Da hetzt man sich ab, und zum Schluß ist kein Krieg!“ Seine Manschetten fielen ihm über die Hände. Auf seiner schweißigen §tirn zog sich schwarz der dicke Streifen vom Hutrand. Er atmete rasselnd.

„Nicht möglich“, sagte Queiß. „Sie lügen immer da oben.“

„Auch die Berliner Nachricht klingt optimistisch“, rief Schreikehler vom App“-at, der jetzt stillstand, herüber. Er beschäftigte sich damit, die Papierstreifen abzuschneiden und nacheinander auf einen Konzeptpapierbogen zu kleben. „Kaiser Wilhelm und Zar Nikolaus bleiben in ständigem Kontakt“, las er laut, „und sind bemüht, einen europäischen Konflikt zu verhindern.“

„Wer's glaubt, wird selig“, murmelte Queiß.

„Gott sei Dank“, sagte Fischaug hoffend.

Egon Pappenheim trat ein, mehrere Bogen noch tintenfeuchten Papiers in der Hand. „Hier ist das Feuilleton im Fall der Ablehnung“, meldete er. „Ich glaube, es ist gut geworden.“

Schreikehlers Rabenprofil schnellte herum. „Sie nehmen aber an!“ rief er aus. „Hier ist eine günstige Nachricht!“

„Reden Sie doch nicht“, tadelte Queiß ärgerlich.

Egons Gesicht ward blaß. „Wie? Mein Feuilleton soll also nicht? — Es ist ein Dithyrambus auf Hötzendorf.“

„Hab ich's nicht gesagt, daß sie keinen Krieg führen werden?“ triumphierte Fischaug.

Da schrillte das Telephon.

Alle, standen reglos.

Endlich sprang Giebichstein auf und stolperte auf die Zelle zu.

„Es ist ja drin beim Chef!“ brüllte Fischaug.

Giebichstein stand so ratlos mitten im Saal, daß sich der blonde Redakteur nicht enthalten konnte zu lachen: Seine Hose schien ja Wellen zu schlagen, unter dem ausgefransten Rand des linken Hosenbeins pendelte ein Stück Unterhosenband hervor, die Schnürriemen waren nur über die unteren Oesen gezogen, oben klafften die Schuhe, man sah die heruntergerutschten Socken. — „Ein Bild Serbiens nach dem Kriege!“ rief der Lachende, auf die Jammergestalt weisend.

„Oder Oesterreichs“, erwiderte die tiefe Stimme des Beschatteten am Fenster.

Da flog die Tür auf. Der bärtige Kopf drang heraus: „Scfort Extraausgabe! Ultimatum in allen Punkten angenommen!“

Die Tür schlug zu.

Nun war es schon bald neun. Vor einer Stunde bereits hatten Melanie und Erna den Tisch gedeckt, die Schüssel mit dem kalten Aufschnitt in die Mitte gesetzt, einem jeden vor seinem Platz Teller, Besteck, Wasserglas, für den Vater und Karl je ein Weinglas hingestellt, Erna auch die schmale gläserne Vase mit den blühenden Zinerarien nicht vergessen, die vor den Sitz der Mutter gehörte — aber der Vater war noch immer nicht da. Karl rekelte sich auf dem Sofa und brummte ab und zu über Hunger, Zeitverlust, Kaffeehaus und dergleichen. Die Hofrätin stand nervös am Fenster und spähte auf die Gasse hinab, die von dem großen Kandelaber vor der Kirche beschienen und überdies immer wieder von vorüberfahrenden elektrischen Wagen erhellt wurde. Es zeigte sich unter den Gehenden und Kommenden jedoch keine vertraute Gestalt.

„Ist etwas Neues?“ fragte Friederike, aus dem Buch aufsehend.

„Nichts. Die Serben sollen ja angenommen haben“, brummte Karl.

„Waren nicht Extraausgaben?“ fragte Erna.

„Aber Papa hätte ja doch telephortiert, wenn etwas gewesen wäre“, meinte Melanie.

Da läutete es.

„Der Vater“, sagte die Hofrätin und trat vom Fenster.

„So läutet er aber nicht“, behauptete Melanie. Es klopfte an die Tür.

„Hab ich's nicht gesagt, daß es nicht der Vater ist?“ rief Melanie aus. „Er hat doch auch den Wohnungsschlüssel mit.“

Der Mund der Hofrätin wurde noch schmäler, ihre Nase noch länger. „Herein“, sagte sie gepreßt. — „Nur herein.':“ - wiederholte Melanies helle Stimme. Sie war doch sehr neugierig, wer so spät kam.

Da trat Attilio ein. Alle erstaunten.

„Verzeihen Sie, daß ich Sie so überfalle!“ sprudelte er hervor. „Aber ich komme gerade vorbei und, ich habe gedacht, Sie wüßten etwas — es ist ja nicht mehr auszuhalten, diese Spannung!“ Er redete hastig, atemschöpfend.

„Nein, wir wissen selbst gar nichts“, sagte die Hofrätin trocken.

„Die Serben sollen angeblich angenommen haben“, bemerkte Karl, der nun dastand und seine Bügelfalte herauszubringen suchte.

„Das Gerücht ist in der Stadt verbreitet“, versetzte Attilio.

„Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ lud Melanie ein. Er gefiel ihr wieder in seinem Feuer, seinem wilden schwarzen Haar, seinem ganzen ungestümen Gehaben.

„Nein, danke, ich störe ja — und Sie haben auch gewiß noch nicht genachtmahlt.“

„Leider nicht“, bestätigte Karl anzüglich.

„Aber Papa muß jeden Augenblick kommen“, versicherte Melanie — ihre Mutter konnte ihr Blicke zuwerfen, wie viele sie mochte, man hatte doch die Pflicht, höflich gegen einen Gast •ju sein. „Wenn Sie schon nur zu ihm kommen“, fügte sie hinzu und sah ihn an.

Attilio fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich weiß wirklich nicht“, sagte er ratlos. In seinem lichtgrauen Sommeranzug mit dem weißen steifen Umlegkragen und der schwarzen Krawatte sah er beinahe so elegant aus, wie Melanie es für wünschenswert hielt. Es ärgerte sie immer an Anselm, daß er so nachlässig gekleidet war. „Was hat die Erna fort auf ihn zu schauen?“ dachte sie mißbilligend. Sie warf der Schwester einen Wink zu, aber diese tat, was ihr beliebte. Unverschämt, wie sie ihn fixierte. „Sie wollen also nicht Platz nehmen?“ wiederholte sie, um wenigstens zu erreichen, daß er aus Ernas Blick fortkam.

„Leider kann ich Ihnen nichts anbieten, da wir selbst noch nicht genachtmahlt haben“, sagte die Hofrätin.

„Still“, machte Karl, beide Hände vor sich haltend und angestrengt gegen das Fenster zu horchend. „Ich glaub, ich hör was...“

A1L lauschten. Das Gas sauste.

„Ich glaube - Extraausgabe“, sagte Erna leise.

„Natürlich — Extraausgabe! Ich spring hinunter!“ rief Karl.

Der ferne Ruf war nunmehr deutlich geworden. Er hatte etwas Langgezogen-Feierliches, tief Erregendes. Die Hofrätin hielt sich an einen der hohen Sessel fest. „Nicht du“, sagte sie zu Karl, der an ihr vorbei zur Tür wollte, „schick das Mädchen hinunter oder besser — Erna geh und sag's ihr!“

Sofort kehrte der Sohn um. Erna stolzierte mit affektierten Schritten um Attilio herum zur Tür und hinaus.

„Man weiß nicht, was man wünschen soll“, sagte Attilio, an seinen Nägeln beißend. „Wenn sie jetzt annehmen, zieht sich das Alte wieder weiter — aber es kann ja nicht anders werden, es muß zum Schluß ausbrechen, muß — muß! Also lieber heute als morgen!“

„Natürlich!“ pflichtete Karl bei. „Nachdem so lang gerüstet worden ist!...“ Er fühlte es angenehm, auszusprechen, was er so oft in der „Arbeiter-Zeitung“ gedruckt gelesen.

„Nein, ich kann nicht glauben, daß es ernstlich Krieg geben soll“, sagte Friederike. „Krieg im zwanzigsten Jahrhundert! Es wäre Wahnsinn! Wahnsinn!“

„Aber die Serben haben uns ja den Kronprinzen ermordet!“ ereiferte sich die Hofrätin. „Dafür müssen sie Buße zahlen! Das kann ein so großes Reich nicht auf sich sitzen lassen. Nächstens ermorden sie uns — ich weiß nicht, wen. Mit der Bombengesellschaft muß man endlich deutsch reden!“

„Nicht Nägel beißen!“ mahnte Melanie. Attilio nahm den Finger vom Mund — das Lächeln, zu dem er sich zwingen wollte, gelang ihm nicht. So öffnete sich die Tür gerade im rechten Augenblick, durch die ein nackter grober Weiberarm ein Zeitungsblatt hereinhielt. Da er zunächst stand, griff er darnach. „Angenommen!“ las er die Ueberschrift, rief es laut und reichte es der Hofrätin weiter. „Gott sei Dank“, hörte er Friederike sagen. „Hätten Sie auch in den Krieg müssen, wenn es abgelehnt worden wäre?“ erkundigte sich Melanie.

„Natürlich“ Wie diese Aussicht schon stolz machte! Wie er sich schon durch diese'Antwort fühlte! „Aber nun muß ich doch gehen. Verzeihen Sie die Störung, gnädige Frau. Und vielen Dank! Jetzt werden wenigstens alle' Menschen in Ruhe schlafen können.“

„Weil kein Krieg ist?“ fragte Karl ironisch.

„Nein, weil Gewißheit ist, wenigstens vorläufig.“

Wohlerzogen küßte er die Hand der Hofrärin, • die geschmeichelt lächelte und überlegte, ob sie ihm nicht doch eine kleine Wegzehrung mitgeben sollte, es aber wieder aufgab, denn schließlich, einem unangesagten Besuch brauchte man nichts aufzuwarten, noch dazu, wenn es so spät war — jedenfalls ein netter junger Mann war er, das mußte man sagen. Karl begleitete den Gast ins Vorzimmer.

„Ein reizender Mensch“, sagte Erna mit Betonung.

„Etwas tölpelhaft“, warf Melanie hin und machte sich an der Kredenz zu schaffen.

Die Hofrätin war nicht abgeneigt, sich der herabsetzenden Meinung anzuschließen. „Sehr taktvoll ist es gerade nicht, einen bei Nacht und Nebel zu überfallen“, meinte sie.

Karl trat wieder ein, in Hut und Ueberzieher, die Türklinke in der Hand. „Du, Mama, ich geh doch ins Kaffeehaus — ich kann wirklich nicht länger warten — du hebst mir halt ein bissei was auf, bis ich nach Haus komm ...“

Ehe die Mutter entgegnen konnte, war die Tür zugefallen. „Ein verflixter Bub“, murmelte -die Hofrätin. „Wenn ich das gewußt hätt, hätt er gleich essen können.“ — „Karl!“ rief sie, ihm nacheilend, mit ihrer lautesten Stimmkraft. Sie lief durchs Vorzimmer, auf den Gang hinaus, wo sie aber des Widerhalls wegen nicht weiterzurufen wagte. Auch waren die beiden schon verschwunden. Kummervoll trat sie zurück und schloß die Türe. —

„Nein, jetzt wollen wir aber doch voressen“, entschied sie, als sie ins Speisezimmer zurückkehrte. „Ja, ja!“ riefen Melanie und Erna und klatschten in die Hände. „Ich habe schon einen Wolfshunger“, sagte Erna. „Und ich einen Bären-!“ übertrumpfte Melanie. Friederike gesellte sich lächelnd heran, die Hofrätin schnitt die Brote, strich Butter darauf, belegte sie mit Aufschnitt und Käse, teilte jeder Tochter das Ihre zu — sie selbst wartete noch auf den Gatten — und unter Schwatzen und Lachen der jüngeren Mädchen wurde gegessen.

Ohne daß man ihn kommen gehört, stand plötzlich der Hofrat im Zimmer.

Erna sprang auf, ihm wie sonst entgegenzulaufen — aber sie blieb, wo sie stand: der Gesichtsausdruck des Vaters verbot jegliche Begrüßung. Noch nie hatten die Töchter dieses vertraute Gesicht so verschlossen gesehen, die Hofrätin nur einmal, aber daran mochte sie nicht gemahnt werden. „Du bist gewiß ganz schrecklich müde“, sagte sie, um das unerträgliche Schweigen zu beenden. „Setz dich gleich her und iß. — Du mußt verzeihen, daß wir nicht länger gewartet haben, aber die Kinder haben einen splchen Hunger gehabt...“ „Wo ist Karl?“ fragte der Hofrat. „In seinem Kaffeehaus.“ „Na, natürlich!“

„Ja, aber, er hat auch fast bis jetzt gewartet.

— Ist übrigens etwas passiert? — Weil du gar so bös dreinschaust...“

„Passiert?“ Der Hofrat lachte kurz auf. „Nein! Gar nichts! Nur daß wie ein kleines Kriegerl haben. Sonst nichts.“

Friederike stand auf, bleich. „Aber die Serben haben doch angenommen“, stammelte sie. „Angenommen?! Fällt ihnen im Traum ein!

— Ich bitte, sich vielmehr zu vergegenwärtigen: jetzt in dieser Nacht marschieren bereits die ersten Regimenter — jetzt sind vielleicht schon die ersten Burschen gefallen ...“

„Aber die Extraausgabe?“ wandte Friederike ein. — „War falsch. Da habt ihr die rechte.“ Er griff in die Tasche und warf das Blatt auf den Tisch, in riesigen schwarzen Lettern war darauf das Wort „Weltblatt“ zu lesen. „Jawohl, jetzt spielen die Donaubatterieh von Semlin nach Belgrad hinüber und umgekehrt. Bald können wir die Fahnen heraushängen — am Ring soll's ja schon gut zugehen: Ovationen, Volkshymne, Wacht am Rhein. In Gottes Namen, letzt geht's nicht mehr zurück. Jetzt muß ausgehalten werden.“

„Entsetzlich! Entsetzlich!“ murmelte Friederike.

„So, Mutter, und jetzt will ich essen. Man braucht Kräfte für diese schöne Zukunft. Also her damit!“ Wie er war, setzte er sich an seinen Platz. Auf einen Wink der Hofrätin ging Erna die Hausschuhe holen, Melanie brachte die aufgehobenen Speisen, Friederike goß den Wein ein. „Was hat denn das Licht heut, daß es so düster brennt?“ fragte er, während er hastig aß. Seine Miene verschloß sich wieder. Niemand wagte zu sprechen. Als Erna mit den Hausschuhen kam, winkte er ärgerlich ab. Besorgt sah die Hofrätin auf ihn.

Aus der Wanduhr drang das wohlbekannte, surrend raunende Geräusch, das dem Stundenschlag voranging. Mit dem letzten Klang legte der Hofrat Gabel und Messer hin; aber er blieb an seinem Platz sitzen.

„So, und jetzt marschiert ihr beiden“, wandte sich die Hofrätin an Melanie und Erna, „macht eure Betten, dann sagt ihr dem Vater gute Nacht. Ich geh noch in die Küche, für morgen nachschauen — ja, ja, kommt nur gleich mit mir!“ Die Mädchen, froh, des lastenden Banns ledig zu sein, kamen dem Gebot nach, und die Mutter, nach einem letzten Sorgenblick auf den Mann, der in seinen Gedanken erstarrt zu sein schien, folgte ihnen.

Friederike und der Vater sißen einander gegenüber, in sich verloren. Das Gas sang durch die Stille. Der Hofrat hatte noch seine Serviette nicht herabgenommen, die Finger der linken Hand spielten um das halbgeleerte Weinglas.

Da hob Friederike ihr Gesicht. Es zeigte dieselbe Verschlossenheit wie das des Mannes gegenüber. Sie war im reinen mit sich.

„Vater“, sagte sie leise.

Der Hofrat fuhr zv.-nir.mcn. „Was gibt's?“ frag.e er, sah, daß er die Service noch umhatte, nahm sie hastig ab, schaute die Tochter abwesend an.

Friederike zögerte. Es sprach sich nicht leicht aus. „Es ist.. . ich wollte nur. ..“ Sie errötete.

„Also was?“

„Fragen, wo das Büro des Roten Kreuzes ist.“

Er starrte sie an. Sein Gesichtsausdruck zeigte völliges Unverständnis. Allmählich löste es sich in seinen Zügen — Friederike konnte es nicht mitansehen, sie neigte den Kopf.

„Versteh ich dich?“ fragte er mühsam und stand auf.

Auch sie erhob sich. „Es ist das einzige“, hauchte sie.

In seinem Gesicht arbeitete es, seine Brust hob und senkte sich. „Du kannst mich morgen ins Büro begleiten“, sagte er hastig, heimlich, als fürchtete er, gehört zu werden. Er lauschte, ob nicht etwa seine Frau käme. „Komm her!“ brachte er rauh hervor. Seine Augen verschleierten sich.

Nur zaghaft kam sie näher. Aber da war sie schon sein. An beiden Ellbogen hielt er sie,- zog sie an sich. „Ueberleg dir's bis morgen noch“, raunte er ihr zu. „Kein Mensch kann wissen, was daraus wird.“

Friederike an seiner Brust schüttelte den Kopf: „Nein... laß es entschieden sein“, bat sie dringend, die Augen mit flehendem Blick an ihm emporgehoben, er spürte ihren Atem durch die Kleider, hörte ihr Herz dumpf schlagen. Schmerzlich kam es ihn an, sie an sich zu pressen, nie mehr loszulassen — aber er mußte an sich halten, in seinen Muskeln gab die Kraft nach, er seufzte nur. wie er ihr's einst als Kind so gern getan, streichelte er ihren Kopf. Tief her aus der Brust quoll's ihr zur Kehle. Er spürte und fürchtete, was bevorstand. Draußen näherten sich Schritte. „Die Mutter kommt“, flüsterte er, „das Geheimnis bleibt unter uns, hörst du?“ Rasch beugte er sich und küßte sie auf die Stirn.

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