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DER VERGESSENE URSPRUNG

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Kleine Adelspalais im müden böhmischen Spätbarock, Wappen und Heiligenbilder über den Portalen, durch die der flüchtige Blick des vorbeihastenden Großstädters das Grün von Gärten wahrnimmt, die, eingespart aus der steinernen Umgebung, völlig unbekümmert ein eigenes Leben führen; eine Kirche im josefinischen Stil, die eher einem Tempel gleicht als einer christlichen Kirche und in der sich der leidende Leib Christi über dem Hochaltar wie eine große Verlegenheit ausnimmt oder wie ein Hindernis, das zwischen Gott und dem Menschen steht; ein Kloster, aus dem die Mönche schon lange fortgezogen sind; die ganze Gasse still und eher eng, so bietet sich jener Teil Prags dar, in dem Rainer Maria Rilke geboren wurde und seine frühe Kindheit verbrachte. War sie von Einfluß auf das sensible Gemüt des Kindes und hinterließ sie Spuren für das spätere Leben? Oder war dieser böhmische Ursprung nur ein Zufall und wurde ausgelöscht durch die Eindrücke der ständigen Wanderschaft, die Rilke durch die weite Welt trug?

Der genaue Kenner Rilkes wird, wenn er die zahlreiche Literatur über den Dichter durchgeht, auf eine seltsame Tatsache stoßen, auf die Tatsache nämlich, daß das Verhältnis Rilkes zu Böhmen lange Zeit nicht gewürdigt wurde. Freunde und Gelehrte, Bewunderer und Neugierige nahmen Leben und Werk des Dichters unter die Lupe und registrierten und klassifizierten mit genauestem Fleiß alle Beziehungen Rilkes zu den Ländern, in denen er lebte und schuf: zu Frankreich und zu Rußland, zu Italien, zu Spanien und zur Schweiz. Was sollten sie aber über Rilke und Böhmen berichten, außer, daß er in Prag geboren wurde und dort einige frühe Gedichte .schrieb und dann das Land verließ, um niemals wiederzukehren? Daß er kurz vor seinem Tod Böhmen noch seine Heimat nannte, daß er, der geborene Deutsche, sich selbst als einen slawischen Menschen bezeichnete, all dies hätte sie stutzig machen müssen. Erst Peter Demetz unternahm in seinem Buch „Renė Rilkes Prager Jahre“ Rilke — wie es die moderne Psychologie vorschreibt — von seinen Ursprüngen her zu erklären, das heißt im Falle Rilkes als Kind der Stadt Prag. Wer die Hauptstadt Böhmens kennt, ihrem innersten Wesen nach kennt, für den ist Rilke kein Rätsel mehr. Denn Rilke ist der vollendete Prager, der vollendete böhmische Mensch.

Böhmisch ist die Begeisterung Rilkes für Rußland, das er nicht aufhört als seine Urheimat zu preisen; böhmisch ist seine Liebe zu Westeuropa und dessen Hauptstadt Paris, das ihm „unentbehrlich“ ist und dem er „das Beste verdankt, was er geleistet hat“; böhmisch ist seine Abneigung gegen Deutschland, in dem er „nie gerne ist“ und in dem „unsereiner sich erst recht in der Fremde fühlt“; böhmisch sein Abscheu gegen das alte Österreich, von dem er „kaum sagen kann, wie alles ihm zuwider dort ist“; böhmisch ist wieder seine geheime und .starke Liebe zu eben diesem Österreich, df sich. erst zeigt qpd die er spürt, als dieses Österreich nicht mehr, besteht. Plötzlich..spricht er, rįin von „unserem“ armen Österreich, „merkt die Heimatlosigkeit des Österreichers“, von der er sich ebenfalls betroffen fühlt und die „wie ein großes Weh vor ihm steht“. Böhmisch ist seine Ablehnung des Barocks, wie sie sich in der Verwerfung .seines „Cornet Rilke“ äußert, dieser ganz barocken Dichtung, die er eine „Improvisation“ nennt und die er „unausstehlich“ findet, obwohl dieses Werk zu den schönsten seiner Schöpfungen gehört und mehr gelesen wurde als das „Stundenbuch“ und die „Duineser Elegien“ zusammengenommen.

Aber auch hier ist er ein getreues Abbild Böhmens, das die Epoche .seines Barocks als einen der dunkelsten Punkte seiner Geschichte bezeichnet, die ihm aufgezwungen wurde und die verleugnet werden muß, obwohl Böhmen durch die Kunst und Kultur des Barocks zu einem Juwel des Abendlandes wurde. Böhmisch ist sein seltsames Hervorheben einer geschichtlichen Tradition, wenn sie auch auf vagen Fundamenten ruht, und die sich bei ihm darin zeigt, daß er auf Grund irgendwelcher Gerüchte behauptet, vom Kärntner Uradel abzustammen, und ein Wappen gebraucht, das im Ständehaus zu Klagenfurt abgebildet ist und angeblich seiner Familie zugehört; was alles quellenmäßig nicht überprüft werden kann, worauf er aber weiter fest beharrt und worin sich nur die eine geheime — böhmisch — Sehnsucht offenbart, Mitspieler am großen Theater der Welt zu sein. Böhmisch ist die Form, in der er seinen Beitrag an die Geschichte leistet und der in „alledem nur Leiden ist. Das Mitleiden, Vorausleiden und Nachleiden.“ Böhmisch die Lethargie, die ihn beherrscht, aber zugleich befähigt, Erleidender der Geschichte zu sein. Wohl empfindet er sie und klagt, „ein Ausbund an Unentschlossenheit“ zu sein, aber gleichzeitig ist er glücklich und stark in dem Bewußtsein, „Geduld für Jahrhunderte“ zu haben. Und böhmisch ist schließlich vieles in seinem Verhältnis zürn Christentum. Gewiß in erster Linie trieb seine bigotte, engherzige, hysterische Mutter ihrem Sohn das Christentum gründlich und restlos aus. Sie ist der Hauptgrund seiner Abneigung gegen die christliche Religion. Und Rilkes Worte „sei Heide und Heide sei weit“ und „Gott macht .sich nichts aus den Christen“ sind nur aus seiner Haßliebe zu der im Grunde unchristlichen Mutter zu verstehen. Aber dennoch darf die böhmische Komponente in seiner Beziehung zum Christentum, von dem er sich „immer leidenschaftlicher entfernt“, trotz der vielen christlichen Worte in den „Geschichten vom lieben Gott“, im „Stundenbuch“, im „Marienleben“ und in den „Elegien“ nicht übersehen werden, genauso wie seine Heimat sich immer mehr vom Christentum entfernte, trotz der vielen Kirchen, Klöster und der Kapellen. Im Gegenteil, diese Gotteshäuser seiner Heimat — und man sieht deutlich,- wie er sich an die Kirchen Prags erinnert, an St. Niklas auf der Kleinseite, an St. Thomas, Maria Viktoria, St. Georg und Strahov, St. Ignatius, und Aegid, St. Kajetan und Allerheiligen — lassen ihn voll Verachtung die Worte sprechen von den „Kirchen, welche Gott umklammern wie Flüchtlinge und Ihn dann bejammern wie ein gefangenes und wundes Tier“. Es spricht eine Tragödie, die erschauern macht, aus diesen Werken. Es ist die Tragödie Böhmens.

Aber Rilke ist nicht nur ein Kind seiner Stadt, er ist vor allem auch das Kind seiner Eltern, seiner „böhmischen“ Eltern. Da ist der Vater: ein gescheiterter Offizier, der sich als kleiner Beamter fortbringt, äußerlich in der Maske eines Grandseigneurs, innerlich unsicher und zerbrochen. Da ist die Mutter: brennend von Ehrgeiz, im Grunde des Herzens unreligiös, äußerlich bigott bis zum Überdruß, ein Schmock (sie kleidet sich wie eine Erzherzogin in Trauer), erbittert, daß sich ihr Traum, neben ihrem Mann eine Dame von Welt zu werden, nicht erfüllt. In dieser Atmosphäre wächst der kleine Renė auf. Während der Vater gar keinen Einfluß auf seinen Sohn erlangt, kann ihn diese hysterische Mutter für sein ganzes Leben entscheidend beeinflussen. Sie kann ihm ihre Tagträume so stark aufzwingen, daß er sich davon niemals mehr befreien kann, sondern sie eines Tages erfüllen wird. Der Traum seiner Mutter ist, daß er jenes Leben führen kann; welches,, Wie .php ej-uf ię 4er "Welt,'zu leben, die sie als die „große“ ansieht, also unter Hocharistokraten, auf Schlössern, sein Name in aller Mund.

Die militärische Karriere, die Rilke vielleicht die Erfüllung dieses Wunsches teilweise hätte bringen können, ist ihm versagt, mit sicherem Instinkt erkennt der junge Renė, daß ihm nur noch ein anderer Weg übrigbleibt, um dieses Ziel zu erreichen: als Dichter und Schriftsteller. Der junge Renė glaubt, daß er Talent zu diesem Beruf besitzt, und versucht, auf den verschiedensten Wegen dieses Talent einzusetzen, um dem Ziel, das ihm die Mutter aufgezwungen hat, näher zu kommen. Bis er eines Tages erkennt, daß er nicht seinem Ehrgeiz, .sondern seinem Talent zu dienen habe, und er mit Instinkt, mit unendlichem Fleiß, mit Zähigkeit seinen Weg, seinen eigentlichen Weg beginnt.

„Rainer Maria Rilke“, schreibt Demetz am Schlüsse seines Buches, „glaubte oft, sein jüngeres Selbst, Renė, in seiner Arbeit und in seinem persönlichen Schicksal verleugnen zu können. Mit Gewalt verbannte er den Gedanken, daß der Geschichte .seiner Arbeit das Schicksal Renė voranging, die merkwürdige Geschichte eines jungen Mannes aus der Provinz, der aus engem Talent, einer dürftigen Sprache, einer ehrgeizigen Jugend, gegen die Hemmnisse des Ortes und der Zeit seines Lebens nach einem vorgefaßten Existenzentwurf zu einem dichterischem Mythos zu steigern vermochte. Wie Münchhausen sich an seinem eigenen Haar aus dem Sumpf einer gehemmten Jugend und einer armen Sprache emporgezogen zu haben, darin lag Rilkes eigentliche, unendlich rührende Leistung.“

In dem kleinen Bergfriedhof von Raron im schweizerischen Kanton Wallis, angelehnt an die Kirchhofmauer, befindet sich das Grab des größten Dichters, den Böhmen der Welt schenkte und der, fast unbekannt in seiner Heimat, einer der vollendetsten Künder ihres Wesens ist.

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