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Der verlorene Gewinn
Die Erfolge der modernen Medizin innerhalb der letzten Jahrzehnte sind den Gegenwartsmenschen kaum bewußt. Noch vor zwei Generationen betrug die durchschnittliche Lebenserwartung kaum 40 Jahre, stieg in den letzten Jahrzehnten ständig an und hält heute schon bei einer Lebensdauer von 74 Jahren.
Die modernen Sozialpolitiker, wohl infolge eigener unverarbeiteter Ressentiments, haben mjt dem Geschenk der modernen Medizin an die Menschheit bisher nichts anzufangen gewußt. Nach wie vor lassen alle sozialen Bestrebungen die Richtung erkennen: die Freizeit weiterhin auszudehnen und die Zahl der Rentenempfänger zu erhöhen. Als wäre das Nichtstun der einzig anzustrebende Sinn des Lebens! Als könnte man mit einer Rente jemals seine Daseinswünsche befriedigen! Alle sozialen Streitigkeiten unserer Tage betreffen Verkürzungen der Arbeitszeit, und die Verantwortlichen im Staate wetteifern im Bemühen, das Heer der Rentner mit „gerechten“ Pfründen abzuspeisen. Selbstverständlich geschieht dies ohne Rücksichtnahme auf die tatsächlich Arbeitenden im Staate, die ja für jede Rentenerhöhung und Arbeitszeitverkürzung aufkommen müssen. Noch nie hat man in all den vergangenen Jahren eine Stimme vernommen, die auf die Abhängigkeit der Freizeit von der Arbeit hingewiesen hätte, wann hätte es jemals ein Politiker gewagt, die Arbeit als integrierenden Faktor unseres Daseins hinzustellen? Es ist lediglich die Rede von Verlängerung des Urlaubs, Erhöhung, des Lohnes, Reduzierung der Stundenzahl, Ausdehnung des Wochenendes und nicht zuletzt von einer möglichst frühzeitigen „Berentung“. Der moderne Mensch kann um mehr als zwanzig Jahre länger leben als seine Vorfahren; wird diesen gewonnenen Lebensjahren aber kein Sinn gegeben, dann sind sie eben im wahrsten Sinn des Wortes sinnlos. *
Die Arbeiten von Buchta und Jores liegen schon lange zurück. Sie wurden hundertfach wiederholt und haben überall die gleichen, einwandfreien Resultate gebracht. Man konnte statistisch nachweisen, daß der beschäftigungslose Mensch für eine Reihe von Krankheiten wesentlich anfälliger ist, ja, mehr noch, statistisch wurde der Beweis erbracht, daß Untätigkeit das Leben verkürzt. Was nützt es also, die Lebenserwartung zu erhöhen, wenn der Mensch vorzeitig vom Arbeitsprozeß ausgeschaltet wird und damit körperlich und seelisch an Spannkraft verliert. Unter den älteren Jahrgängen kann man in der täglichen Praxis mühelos erkennen, wer noch eine Lebensaufgabe zu bewältigen hat, eventuell auch noch einer Beschäftigung nachgeht, und — wer nichts mehr zu tun hat. Die Folgen der relativ frühen Pensionierung wirken sich sehr oft verheerend aus, und besonders das vorzeitige Invalidisieren hat übelste Folgen. Für viele Menschen wird das Leben wert- und planlos, da sie, einmal aus dem Arbeitsprozeß herausgerissen, keinen richtigen Anschluß mehr finden und sich in jeder Beziehung benachteiligt fühlen. Man sehe hinein in die Ordination vor allem der praktischen Ärzte, wo sich zehntausende Rentner täglich ihre Kopfwehpulver holen, weil sie sich eben nicht richtig wohlfühlen. Die natürlichen Alterserscheinungen werden wesentlich unangenehmer, schmerzhafter empfunden, und die Angst vor dem Alleinsein zerrüttet vollends die Persönlichkeit. Die unvorstellbar große Summe von Lebenserfahrungen, die Höhepunkte der geistigen Leistungskraft in* den Lebensjahrzehnten nach dem Klimakterium werden derzeit völlig ignoriert. In einer Zeit, da die technischen Errungenschaften die Lebenshaltung -der Mensel en von Grund auf verändern und die moralischen und ethischen Werte zum Großteil abgewertet wurden, hat man für das Alter, für die Krönung des menschlichen Lebens, keinerlei Beachtung. Man glaubt, mit der Zahlung von Renten inmitten des Irrgartens eines Konsumgüterüberflusses die Voraussetzung zu einem „glücklichen Alter im sozialen Staat“ schaffen zu können und hätte eigentlich längst erkennen müssen, daß der ganze Wohlfahrtsstaat den Menschen nicht glücklicher, nicht zufriedener gemacht hat!
In der freien, demokratischen Welt greift der Staat wenig in das Privatleben ein. Man muß acht Jahre lang in die Schule gehen, und junge Männer werden einige Monate zum Dienst mit der Waffe eingezogen. Welchen Beruf man ergreift, welche Arbeit — die vornehmste Äußerung menschlicher Daseinsform — man erwählt, bleibt jedem Menschen selbst überlassen. Man wird zur Arbeit nicht erzogen, und viele, leider sehr viele Menschen empfinden die Notwendigkeit, einen Beruf auszuüben, zeitlebens als ein qualvolles Muß. Zum Teil liegen die Gründe dafür in den ersten Kindheitserfahrungen mit dem Begriff der Arbeit, zum Teil aber ist die technische Zivilisation dafür verantwortlich, die eine richtige Einstellung der Arbeit nicht aufkommen läßt.
Und hier wirkt sich nun eine Wechselbeziehung besonders verhängnisvoll aus: mit der Zunahme der Freizeit steigt auch das Ressentiment gegen die Arbeit. Jeder hat schon die Erfahrung gemacht, daß nach einem Urlaub die Arbeit überhaupt nicht von der Hand gehen will und man erst einige Zeit braucht, ehe man wieder richtig eingearbeitet ist.
Wie aber reagieren die Sozialpolitiker auf diese Tatsachen? Haben sie erkannt, daß es verheerende Folgen haben wird, wenn man mit dem Ressentiment gegen die Arbeit ununterbrochen ein politisches Geschäft machen will? Haben sie längst schon begriffen, daß es notwendig ist, die Einstellung zur Arbeit positiv zu beeinflussen, der Freizeit einen wirklichen Sinn zu geben und dem Menschen auch auf Grund der hohen Lebenserwartung die Möglichkeit zu geben, das Alter sinnvoll zu nutzen? Haben diejenigen, die den sozialen Fortschritt gepachtet zu haben scheinen, endlich eingesehen, daß die Schaffung von Millionenheeren dahinvegetierender Rentner den Erfolg der Medizin, den Gewinn an Lebenszeit, zunichte macht? Beginnt man bereits die Konsequenzen zu ziehen und verlegt man das Hauptgewicht politischer Beeinflussung auf die Erziehung zur Arbeit, den Einbau alter Menschen in den Lebensprozeß und die Abstimmung der Freizeit auf die jeweilige Tätigkeit?
Ein Blick in die Tageszeitungen lehrt das Gegenteil:
Noch mehr Menschen sollen berentet werden, das Ziel ist jetzt die 3 5-Stunden-Woche, der arbeitende Mensch soll so früh wie möglich mit dem Arbeiten aufhören . ..
Die Medizin lieferte längst den Beweis, daß der Verschleiß um so größer ist, je weniger man arbeitet. Aber wer will das schon verstehen . ..
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