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Der voyeuristische Genuß am Abartigen

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In Ägypten sollen menschliche Skelette ausgegraben worden sein, in deren Schädeln die Archäologen eigenartige Trepanationen entdeckten. Diese Öffnungen, möglicherweise Hinweise auf kultische Handlungen, wurden aus ungeklärten Gründen vorgenommen. Waren es bewußtseinserweiternde Praktiken - oder medizinisch indizierte Eingriffe?

Irgendwo habe sie davon gelesen, sie wisse nicht mehr, wo. Elfriede Kern inspirierte dieser seltsame Lektüreimpuls zu ihrem neuen Roman „Kopfstücke”, der im Herbst im Residenz-Verlag und zuvor in einem kurzen Vorabdruck in den „manu-skripten” erschienen ist. „Ich wollte sehen, was ich heute daraus machen konnte”, so Kern, die kürzlich im Wiener Literaturhaus ihr neues Ruch vorstellte. Der Autorin gelang eine interessant eingefädelte Geschichte, deren Handlung sich wie zufällig aufzurollen beginnt, von den Verzerrungen des scheinbar Alltäglichen lebt und mit Fingerspitzengefühl in eine alles unterminierende Skurrilität gebettet ist.

Die früh verwaiste Yolande muß die Schule abbrechen, um nach dem Tod der Mutter ihre beiden Halbgeschwister aufzuziehen. In einem Streit fügt ihr der gewalttätige Rruder mit einer Spitzhacke eine gefährliche Kopfwunde zu. Nur „ein Sprung zur Seite rettete ihr das Leben”. Von diesem Augenblick an beginnt eine grundlegende Metamorphose ihres Daseins. Yolandes Platz war seit geraumer Zeit im Dorf „beim jähzornigen Rruder und bei der blöden Schwester”; „froh und erleichtert” zugleich flieht sie, läßt ihre Vergangenheit im Dorf zurück und schlägt sich auf bizarre Art durchs Leben. Ihre Wunde, „ein perfektes Loch auf dem Kopf”, „erstklassige Arbeit, Millimeterarbeit sozusagen ”, weckt ein schier unglaubliches, nahezu magisches Interesse, übt auf andere eine geheimnisvolle Wirkung aus. Ihre erste Station ist eine verlassene Rauernhütte, in der sie sich fürs erste einmal Ruhe verschafft. Rald bekommt sie regelmäßigen Resuch vom Hausbesitzer. Nachdem er sie entdeckt hat, fordert er sogleich eine „gesunde Rasis für ihre Rezie-hungen” ein, indem er „ihre Notlage” schamlos „ausnützt”. Yolande beugt sich dem Voyeurismus am Ungewöhnlichen und stellt für finanzielle Gegenleistungen ihr Loch im Kopf zur Schau: „Tu, was du willst, hab ich gesagt, aber rühr mich nicht an, denk dir am besten eine Glasscheibe zwischen uns beiden.” Hier zeigt sich vordergründig eine Engführung lustvoller Retrachtung der Verletzten mit sexueller Zurschaustellung von Weib lichkeit, dahinter verbirgt sich aber eine prinzipielle Thematisierung voy-euristischen Genusses an Grausigem. Die allmähliche Heilung der Wunde muß um jeden Preis verhindert werden; der Prozeß zeigt sich geradezu als „Gratwanderung” zwischen Schonung und Genesung, die es auszuloten gilt.

Nach geglückter Flucht nistet sich Yolande „als harmlose Herumtreiberin” bei einem kranken Advokaten ein. Immer intensiver beginnt er sich mit dem „heiklen Terrain” des Kopfes zu beschäftigen. Sukzessive stockt er sein Rohrersortiment in der Werkzeugkiste auf und ist schließlich von der Idee geradezu besessen, an sich selbst eine Trepanation vorzunehmen. Diese altbewährte, nur „in Vergessenheit geratene Methode” soll seine Schmerzen lindern und ihm ein neues „Hochgefühl” verschaffen. Yolande hingegen gewinnt Oberhand und setzt sich im subtilen Kleinkrieg unverfroren gegen gewachsene Beziehungen durch. Elfriede Kern zeichnet hier die destruktive Entwicklung einer Frau nach, die gegen ihre langjährige Sozialisation zum braven, vorbildlich agierenden Mädchen aufbegehrt, indem sie nach langjährigen Entbehrungen und Verzicht genüßlich aus der Rolle fällt.

Das letzte Kapitel des Romans markiert durch den Wechsel der Erzählperspektive eine gewisse Eigenständigkeit. In den Vordergrund rückt nun die Wunderheilerin Cora, die ihren Lebensunterhalt mit dem Handel mit magischen Opfer-säckchen verdient. Ihr schließt sich Yolande an, bis die Symbiose ein bitteres und jähes Ende erfährt.

Elfriede Kern ist erst 1988 als freie Autorin in die Öffentlichkeit getreten. Den Schreibanfängen der einstigen Ribliothekarin ging „manisches” Lesen voraus; momentan liegen ihre Lektüreinteressen vielfach im 19. Jahrhundert, etwa bei Kleist, Grill-parzer, Stifter, Eschenbach oder Rilke. Rislang publizierte sie vor allem in regionalen Kleinverlagen und zum Teil in ausländischen Anthologien. Mit ihrem Roman „Etüde für Adele und einen Hund”, den nun auch der französische Verlag Gallimard im Frühjahr 1998 neu herausbringen möchte, schaffte sie den Einstieg bei Residenz.

Daß in den „Kopfstücken” ein besonders subtiler Umgang mit dem Sprachmaterial deutlich wird, sticht sofort ins Auge. Wiewohl die Autorin kühn alle Register seelischer Verwundungen zieht, entbehrt das Vokabular gänzlich verbaler Rohheit, es entpuppt sich vielmehr als kritisches Instrumentarium zwischen den Zeilen. Erzählt wird einfach, ohne Schmuck und Rild. Eine zusätzliche Konnotation erhält der Text lediglich durch seine formale Dreiteilung in „Wald- Winter- und Nachtstück”, übrigens eine strukturelle Hommage an Adalbert Stifter, der mit ähnlichen Gliederungsprinzipien arbeitete.

Thema des Romans ist das Marginale, das, worüber man nicht spricht, was man verschweigt. Wie ein roter Faden durchzieht der Rlick auf das „Andere”, das sozial Ausgegrenzte und Verstoßene den Text. Rlinde Wut kommt auf, etwa wenn von den Freunden des Advokaten die Rede ist, wenn klare Grenzen sich aufzuweichen drohen. Doch letztlich will und kann das Unzulängliche nicht integriert werden. Es bleibt am Rande wie Yolande selbst.

Und gerade das Deformierte evoziert den Voyeur, lockt ihn an und lädt ihn ein zur Refriedigung seiner geheimen Lust am Grauen. Als passionierte Zeitungsleserin bezieht Kern ihre Sujets aus der unmittelbaren Umwelt, indem sie das stoffliche Reservoir anzapft, das ihr die Medien zutragen. Natürlich wird das Geschehen transformiert, verzerrt und überhöht. „Meine Figur geht keinen normalen Weg”, betonte die Autorin im Literaturhaus. „Sie liebt das Leben nicht, sondern leidet an ihrem Dasein; durch Stillhalten und Abgestumpftsein gegen Schmerz versucht sie, möglichst unversehrt davonzukommen.” Dennoch weiß Yolande sich zu wehren. Rar jeglichen Vertrauens in andere schließt sie raffiniert und abgebrüht, um das nackte Überleben kämpfend, den Pakt mit ihrer Umwelt für eine ungewisse Zukunft.

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