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Der Weg zum Menschen

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Man denkt verschieden über die Völker und nicht immer Dinge, die besonders schmeichelhaft für das betreffende Volk sind. Es ist leider so, daß man Land und Volk immer nur nach seiner Politik, seiner Regierung, öffentlichen Meinung oder was es sonst noch sein mag, wertet. Etwas anderes ist es, sich ein Volk anschaulich vorzustellen. Unversehens erinnert man sich an etwas, was man einmal gesehen hat, an etwas ganz Zufälliges und Alltägliches. Merkwürdig, daß sich einem gerade diese unscheinbaren Eindrücke so unvergeßlich einprägen.

Man denkt an England, und sogleich taucht das Bild auf:

Nun, ich weiß nicht, ob Sie überhaupt eine bildhafte Vorstellung dabei haben. Was mich betrifft, so sehe ich einfach ein rotes Häuschen in Kent; nichts Besonderes — ich habe es kaum eine Sekünde lang gesehen, als der Zug von Folkestone nach London raste, übrigens war das Häuschen halb hinter Bäumen verborgen; im Garten schnitt ein alter Herr mit einer großen Schere eine lebende Hecke zurecht; jenseits der Sträucher fuhr ein junges Mädchen auf einem Rad. Nichts weiter sonst. Ich weiß nicht einmal, ob das Mädchen hübsch war; der alte Herr mochte der Ortspfarrer oder ein Kaufmann im Ruhestand sein — es ist ja auch einerlei. Das Häuschen hatte hohe Kamine und weiße Fenster wie alle die roten Landhäuser in England. Mehr weiß ich darüber nicht zu sagen. Wann immer ich aber das Wort England ausspreche, sehe ich ganz deutlich das Häuschen in Kent vor mir, den alten Herrn mit der Gartenschere, das Mädchen, wie es geradeaus die Straße entlang fährt, und es wird mir ein wenig bange dabei. Ich habe noch vieles andere dort gesehen: die Bank von England, die Westminsterabtei und noch eine Menge historischer Denkwürdigkeiten, aber sie bedeuten für mich nicht England. England ist für mich jenes schlichte Häuschen im grünen Garten mit dem alten Herrn und dem Mädchen auf dem Fahrrad. Warum gerade das, weiß ich nicht.

Oder wenn ich mir Deutschland vorstelle, fällt mir unwillkürlich ein altes Wirtshaus in Schwaben ein und nicht — das Brandenburger Tor oder Potsdam. Ich bin nie in jenem Wirtshaus gewesen; irgendwo hinter Stuttgart hatte ich es während der Fahrt entdeckt. Es dämmerte bereits; kein Mensch war auf der Straße; das Wirtshaus war hoch und geräumig wie eine Kirche inmitten der alten Stadt, die wie Spielzeug in einer hohlen Hand zusammengepfercht, dalag. Vor dem Wirtshaus blühte der Flieder und zum Schankgewölbe führten steinerne Stufen. Es wirkte in seiner Würde und Behäbigkeit geradezu komisch und erinnerte mich ein wenig an eine Gluckhenne, die in einer warmen Mulde döst. Gewiß, ich hatte in Deutschland noch ganz andere und weit auffälligere Dinge gesehen, deutschere sozusagen, als es das alte bürgerliche Gasthaus in Schwaben war. Was gab es da an Städten und Domen und Denkmälernl Aber jenes ehrfurchtheischende, breit hingelagerte Einkehrhaus hat in meiner Erinnerung über alles den Sieg davongetragen.

Oder nehmt einmal“ Frankreich und vergegenwärtigt euch, was es dort zu sehen gibt. Meine unabweisliche Vorstellung von Frankreich ist eine Straße in Paris, ganz am Rande der Stadt, dort, wo die Zollinie verläuft. Da gibt es ein paar Schenken und Benzinpumpen zwischen Gemüsegärten. Vor einer solchen Schenke, deren Leinwanddach die Aufschrift „Au rendez-vous des Chauffeurs“ trägt, steht ein schwerer, zweirädriger Karren mit einem falben normanischen Wallachen davor; der Bauer in seiner blauen Bluse, den breiten Strohhut auf dem Kopfe, trinkt vor der Schenke hellen Wein aus einem dicken Glas. Das ist alles, mehr ereignet sich dort nicht; nur die Sonne glüht in kreideweißer Unerbittlichkeit, und der braune Bauer in der blauen Bluse leert sein Glas. Sagt, was ihr wollt: Aber darin liegt Frankreich.

Oder Spanien. Ich sehe ein Cafe am Puerta del Sol. Am Nebentisch sitzt eine schwarzhaarige Mutter in schwarzem Kleid und hält in den Armen ein ebenso schwarzhaariges Kind mit rundlichem Köpfchen und feierlich ernsten, dunklen Guckaugen; der Vater, den schwarzen Sombrero im Nacken, grinst vor Begeisterung und zwinkert seinem schwarzäugigen Sprößling übermütig zu. So oder ähnlich könnte es ein Reisender überall erleben; nur daß dort unten im Süden die Frauen mehr als irgendwo in der Welt wie Madonnen, die Väter wie Toreros und die kleinen Kinder wie geheimnisvolles Spielzeug aussehen. Wenn ich von Spanien höre oder darüber lese, sehe ich nicht die Alhambra und nicht den Alkazar, sondern das lieblich feierliche Gesdiöpfchen In den Armen der schwarzhaarigen Donna.

Oder Italien. Gleich ist man verführt, an den Vesuv, an Pinien oder dergleichen zu denken. Nichts davon! Ich erinnere mich an eine Bahnfahrt in einem polternden Personenzug; wenn ich nicht irre, fuhr er von Orvieto nach Rom. Es war Nacht, und mir gegenüber hockte ein schlafender Arbeiter, dessen zottiger Rundschädel schwer und haltlos hin- und herschwankte. Dann erwachte der Italiener, gähnte laut, rieb sich mit breiter Hand die Augen und sagte etwas. Erinnerst du dich? Du verstandest ihn nicht und hattest auch kein rechtes Vertrauen zu ihm. Da griff er langsam in die Tasche, zog ein Stück in Papier gewickelten Käse heraus und bot ihn dir mit aller Selbstverständlichkeit an, du mögest dir davon abschneiden. So ist es Sitte dort. Die rauhe Arbeiterhand mit dem Schnitt Schafkäse blieb mir als verkürztes Sinnbild für ganz Italien in Erinnerung. —

Ich weiß wohl, auch heute ist es immer noch erschreckend weit von einem Volk zum andern, und man denkt sich so manches dabei; niemals, sagt man sich, niemals kann vergessen werden, was geschehen ist und was noch immer geschieht. Was hat man einander in dieser verzweifelt weit auseinanderklaffenden Ferne und Fremde noch zu sagen? Da denkt man, meinetwegen, an .England und sieht das rote Landhäuschen in Kent vor sich; der alte Herr schneidet immer noch an seinem lebenden Zaun herum, und das Mädchen flitzt geradeaus die Straße dahin. Merkst du es? Eigentlich wolltest du sie begrüßen. „How do you do? Schönes Wetter heute, nicht wahr? Yes, very fine indeed.“ Siehst du, das wäre wohlgetan und dir wäre leichter. — Jetzt könntest du die Steinstufen zu dem schwäbischen Wirtshaus hinaufsteigen, den Hut an den Haken hängen und „Guten Abend, die Herren!“ sagen. Sie wüßten gleich, du bist ein Ausländer und sprächen etwas gedämpfter bei Tisch, indem sie hie und da zu dir herüberblickten. Sobald sie aber merken, daß du den

äußeren Bodenrand des Maßkruges genau so wie sie an dem roten Tischtuch abstreifst, verliert sich ihr Mißtrauen, und du hörst sie fragen: “Woher, wohin des Wegs?“ — „So, so, aha“, staunen sie, und schon seid ihr mitten im Gespräch. — Oder du hieltest „Au rendez-vous des Chauffeurs“. Der Bauer in der blauen Bluse trinkt eben sein Glas leer und wischt sich mit dem Handrücken über den Schnauzbart. „Faid chaud“, würdest du sagen. „A votre sante!“ — „A la votrel“ würde der Bauer erwidern, und mehr wäre eigentlich nicht zu berichten, es sei denn, du sagtest noch: „Nein, mon vieux, ich habe wirklich nichts gegen Sie; wie war's, wenn wir noch ein Gläschen miteinander tränken?“ — Auch stünde es dir frei, dem kleinen Spanierkind zuzulächeln; es heftet die feierlich ernsten Augensterne auf dich, die schwarzhaarige Mutter sieht auf einmal noch madonnenhafter aus als sonst, und der Caballero, den Hut im Nacken, sagt irgendwas auf spanisch, was du nicht verstehst. Macht nichts, macht nichts, wenn das Kind nur nicht erschrocken ist vor dir! — Und dann müßtest du noch ein Stückchen von dem Schafkäse kosten. „Grazie, grazie“, murmelst du, mit vollen Backen kauend, und bietest dem Mann nachher eine Zigarette an.

Nichts mehr! Es braucht, weiß Gott, nicht viel gesprochen zu werden, damit endlich Friede sei unter den Menschen!

(Berechtigte Ubersetzung aus dein Tschechischen von Julius M a d e r)

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