6690816-1962_37_09.jpg
Digital In Arbeit

DER WEISSE BÄR

Werbung
Werbung
Werbung

Der jüdische Todesengel Malach Hamawet stieg auf die Erde herab. Er war in feldgraue Uniform gekleidet und zeichnete einen Teil seines Volkes mit dem gelben Davidstern aus. Es war im Frühling des Jahres 1940. Die Lawinen stürzten vom Gebirge ms Tal, und die Gebirgsblumen enthüllten ihre Blüten. Simon wurde bereits „Herr Simon“ genannt. Er war bereits alt genug, um sterben zu können.

Die Ernte dauerte kurz. Der Todesengel fand seine Ernte in den Gaskammern von Trblinka. In der Ortschaft verblieb nur ein Mann: der Sturmbannführer Otto von Pleß. Simon kannte von Pleß nicht, von Pleß kannte Simon nicht. Trotzdem konnten diese beiden einander nicht leiden, wie einander nur zwei Menschen nicht leiden können. In diesem gegensätzlichen Verhältnis besaß der Deutsche alle Attribute, der Jude hingegen war ein wertloses Blatt. Von Pleß trug eine schnellschießende Pistole, Simon sein semitisches Aussehen. Die Natur hatte Risse gezeugt, die nicht leicht wegzuschließen waren. Heute war es bereits zu spät. Der gottselige Ahne hatte schon lange die Erde verlassen, und erst vor einer Woche hat Simon, zum Andenken an seine Eltern, den ersten „Kadisch“ gesagt. Iii einer auf gutgeölten Zahnrädern geführten Buchhaltung1 hat ein gewissenhafter Schreibführer in der Bilanz den Verlust von zwei Kugeln im Werte von einer Mark und achtzig Pfennig irgendwo verzeichnet.

Unweit vom Orte, wo sich Simon versteckt hielt, im zweiten Haus derselben Straße, wohnte Alois Morawietz, der Inhaber des Photoateliers. Er war der einzige, der das Versteck des Jungen kannte, und brachte ihm zuweilen in der Dämmerung ein bißchen warme Nahrung. Seine Besuche waren kurz. Morawietz hatte ausschließliches Interesse für die Touristen am Gebirgshang, wie auch für die Militärs, die vom schweren Blitzkrieg dort auszuruhen wünschten. Fast jeder nahm ein Andenken mit sich, in Form einer photographischen Aufnahme mit dem Giwoint als Hintergrund oder den weißen Gebirgsmassen, als Entgelt einen geringen Teil des Soldes hinterlassend. Hingegen war die Welt, die Simon umgab, ganz anders geheimnisvoll, er selbst in Gedanken stets vergraben.

Aus diesem Grund hatten Morawietz und Simon kein gemeinsames Thema und sprachen nur selten und wenig miteinander. Eines Tages kam Morawietz, brachte jedoch dem Simon kein Essen, sondern zog ihn aus dem Versteck und nahm ihn mit. Es war für beide etwas Ungewöhnliches. In der Wohnung angelangt, schwiegen beide anfangs; keiner fand die richtigen Worte. Endlich sprach Morawietz zu Simon: „Schau in den Spiegel“, sagte er kurz, als ob er „Auf Wiedersehen“ oder „adieu“ sagen wollte. Simon blickte hin. Aus dem viereckigen Spiegel starrten ihn zwei traurige Augen an. Dunkle Augen, wie sie die Mädchen lieben. Aber seine große Nase über den fleischigen Lippen wie auch die leicht abstehenden Ohren und sein langes, verwildertes Haar ergaben ein Gesicht,, das einem wolfähliiehen Tier glich. Simon versuchte, sein Spiegelbild anzulächeln. Dieses erwiderte ihm jedoch nur eine Grimasse, unbeholfen, und um den Mund legte sich ein schwerer Schatten.

„Siehst du“, sagte der Photograph, „mit so einem Gesicht kann man nicht.“ — „Kann man nicht“, erwiderte Simon und ließ traurig seinen Kopf hängen. Im Zimmer wurde es wieder still. Morawietz erhob sich vom Stuhl und ging mit kleinen Schritten um den Tisch herum. An der Wand zeigte die Uhr die 9. Stunde an. Von draußen hörte man hinter dem Fenster das Knistern des Schnees unter den schweren Tritten der Feldgendarmeriepatrouille. Für Simon war dieses Knistern anders als die gewöhnlichen Geräusche der Alltagsmenschen. „Ich werde dich retten“, sagte plötzlich der Photograph und blickte in die Ecke des Zimmers hinter den Jungen. „Ja, ich rette dich“, wiederholte er in Gedanken. „Ich werde dich in ein Tier verwandeln. Ich werde dich in einen Bären verwandeln.“

Simons Vater wollte ihn zum Bäcker machen. Ein Bäcker sei ein guter, praktischer Beruf. Ganz egal, welche Zeiten kommen werden, Brot würden die Menschen immer brauchen. Die Mutter wünschte aber ihren Sohn in einer Synagoge zu sehen. Ihr Symche sei klug, sagte sie, er möge Talmud studieren, vielleicht wird er ein Zadik werden. Ein Zadik zu sein, ist nicht schlimm, weder auf dieser noch auf der anderen Welt. Morawietz aber sagte jetzt: „Du wirst ein Bär sein!“ Simon wußte, daß er nie mehr den Bäckerkittel beim Backofen tragen und auch nie den Namen des gottesähnlichen Wortes tragen würde. Er wird ein weißer Bär werden! Er wird auf diese Weise vielleicht dem Tod entgehen. Unter den Tieren gibt es keinen Unterschied, Jude oder nicht Jude, keines schätzt das andere geringer, wie es die Menschen untereinander tun!

Simons Herz zitterte leicht vor Freude und gleichzeitig vor Kummer! Mit Tränen in den Augen ergriff er die sehnige Hand des Morawietz und drückte seine Lippen fest auf sie. Der Photograph zog automatisch seine Hand zurück. Als er vor einer Stunde den Jungen zu sich in die Wohnung einlud, dachte er ausschließlich an das gute Geschäft. Einen unentgeltlichen Arbeiter zu haben, der aus Angst an ihn festgebunden ist, ist kein alltäglicher Fund. Jetzt aber, wo der Dankeskuß seine Hand brannte, begriff er plötzlieh, daß er ein guter Mensch sei. ein guter und edler. Hinter dem verschneiten Fenster schwieg die Gasse die Polizeistunde! An den Mauern klebten die mit von „Pleß“ gezeichneten Verordnungen. In den Bars tranken die Soldaten einen Selbstgebrannten und sangen fremde, aufreizende Lieder. Nur das Gebirge erhob sich in den Himmel, kantig und schar/, wie immer. Morawietz liebte diese spitzigen Riesen sowie die wunderbaren Abhänge. Man könnte ruhig sagen, daß diese seine einzige, wahre und sentimentale Liebe waren. Mit kleinen Schritten näherte er sich' der Wandecke und berührte vorsichtig mit der Schuhspitze die kunstvoll zusammengenähten Lammfelle. „Zieh dies nur an“, sagte er. In seiner Stimme klangen kaum vernehmbare warme Töne. Die Bekleidung war schwer und roch nach dem schlecht bearbeiteten Fell und menschlichem Schweiß. Simon zog diese Kleidung an und stellte sich vor den Spiegel. Nur zögernd gab er, Zoll um Zoll, seine menschliche Gestalt auf, unter dem gewaltigen Bärenbauch. Über den Kopf zog er die Kaputze mit den großen, gläsernen Augenhöhlen. „Das paßt dir sogar sehr gut“, spöttelte Morawietz hinter ihm. Als sich ihm aber statt des Simon die weiße Bärengestalt zuwandte, verschwand das Lächeln von den Lippen Morawietz'. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, daß ein Schloß zugeschnappt sei, das sich nie mehr öffnen würde. Am nächsten Tag begann für Simon ein neues Leben.

Schwer und unbeholfen stampfte der weiße Bär die Krupuwka-straße hinab, umarmte fremde Leute und tanzte mit ihnen. Nur durch die schmalen Schlitze im Fell konnte Simon die Leute sehen.

.Es vergingen Tage, Wochen, Monate, Jahre. Lustige Bärenbilder füllten die bauchigen Brieftaschen der bauchigen Feldwebel und -der -*fhlanfeBn;iSS-Offl*ter-e:''Das •ßäfenbfld Wanderte in Tausenden von Exemplaren in die entferntesten Ortschaften Deutschlands, wo sie mit Freude und Sehnsucht erwartet wurden, von den schönen Gretchen und Hildchen.

Die Jahreszeiten unterschieden sich nui in den Farben der Erde und des Himmels. Als aber der Sommer kam und die warmen Sonnenstrahlen den Schnee der Tatra schmolzen, begann unter dem Bärenfell der Körper des armen Jungen zu schwitzen. Seine Haut juckte ihn, und infolge des häufigen Kratzens bekam er einen Ausschlag, der dem von Aussätzigen ähnlich war. Simon wartete auf die Gelegenheit, um die Kaputze über seinem Kopf für einen Moment öffnen zu können und frische Luft einzuatmen. Auf so eine Gelegenheit warteten auch die sorglos ihm folgenden Kinder. Alle wollten ihm ein Zuckerl oder eine kleine Münze zustecken, aber Simon fürchtete die kleinen Kinder nicht weniger als die grausamen Spitzel des unbarmherzigen von Pleß. Zakopane war zu dieser Zeit bereits „judenfrei“.

Eines Tages schließlich, als er durch die Hitze wieder furchtbar litt, öffnete er für kurze Zeit die Kaputze; in diesem Augenblick ging auf dem gegenüberliegenden Gehsteig eine in schwarzer Trauerkleidung gewandete Frau. Es war eine ganz fremde Person. Er hatte diese Frau noch nie gesehen, und nur nach ihrer Bekleidung, die von einer Uniform umgearbeitet wurde, war zu erkennen, daß sie eine Deutsche sei. Er zog sofort die Kaputze wieder über, jedoch mit einer kleinen Verspätung. Die Blicke dieser Frau und .die des weißen Bären hatten sich schon über die Straße hin gekreuzt. Seit diesem Tag kam täglich die fremde Unbekannte zur selben Stunde in die Nähe der Brücke, wo der Photograph mit dem Bären arbeitete. Simon hatte täglich eine Viertelstunde Todesangst. Wenn er sie erblickte, stellte er sich stets die Frage: Wird sie mich anzeigen öder nicht? Manches Mal verspätete sich die Dame. Dann überfiel Simon noch größere Angst. In jedem deutschen Gendarm sah er den Häscher, von der Unbekannten geschickt. Nach Ablauf eines Monats ungefähr blieb der Besuch der Dame aus. Scheinbar war sie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Simon jedoch fühlte stets ihre Gegenwart. Irgendwie blieb sie für ihn die unsichtbare Gefahr. Diese verfolgte ihn fortwährend, und er konnte sich davon nicht befreien, genauso wenig wie der Mond von der Erde und die Erde von der Sonne. Indem er so weiterlebte, hörte Simon überhaupt zu denken auf und lebte tatsächlich nur noch wie ein Tier.

Nach der Tagesarbeit kehrte Simon, von Schmutz und Schweiß durchtränkt, nach Hause zurück und legte sich zum Schlafen hin, dabei tierische. Gerüche verbreitend. Außerdem stöhnte er im Schlaf laut, so daß die Mitbewohner nicht schlafen konnten. Aus diesem Grund verbot ihm eines Tages Alois Morawietz, länger dn der Wohnung zu schlafen und zeigte ihm eine Schlafstätte auf dem Boden. Hier mußte man die Lichtöffnung schließen, denn, stöhnend während des Schlafes, könnte er jüdisch klingende Laute vo*n sich geben, die im Hof gehört werden könnten.

Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft mischten sich im Schädel Simons zusammen und erschienen als ein Ganzes. In der Nacht träumte er schwer. Bald stand er vor dem Backofen und zog heiße Brote heraus, bald aber sang er mit einer ihm fremden Stimme die heiligen Lieder, die der Oberkantor aus Nowy-Targ in der Synagoge zu singen pflegte. Währenddem bewegte sich zuckend sein tierischer Körper, bis er erwachte.

Es nahte inzwischen wieder der Frühling. Das fünfte Jahr der Besatzung brach an. Im Gebirge schmolz bereits der Schnee, und die Lawinen stürzten krachend ins Tal; das Echo erwiderte diesmal die Artillerie. Die Untergrundbewegung lebte wieder auf. Im Tal wurden die Feldgendarmeriepatrouillen verstärkt. Die Gewehrkolben der Polizisten schlugen öfters an die Türen der Bewohner. Beschlagene Stiefel suchten Rache für die Invasion, für die Niederlage! Aus Mangel an Kunden war Alois Morawietz gezwungen, sein ehemals blühendes Unternehmen zu schließen. Simon war nun arbeitslos. Er war unbrauchbar, unnütz und außerdem eine gefahrvolle Last. Eines Tages kam der Photograph unverhofft in die Kammer, wo Simon schlief. Er öffnete ein Brett im Fußboden, und ein kleiner Lichtstrahl fiel auf das Gesicht des Bärenmenschen. „Mein lieber Simon“, sagte der Photograph ruhig, dabei nach weiteren Worten suchend. „Ich weiß“, erwiderte die Bärenhaut; es waren die ersten Menschenworte, die sie nach Wochen wechselten. „Ich weiß. Ich muß diesen Ort verlassen.“ „Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte der Photograph und sah ein, daß er nicht 6tark genug sei, den Jungen wegzuschicken... Sein Kommen war unnötig. Er legte seine Hand auf den Arm des Bärenmenschen und beruhigte ihn. .Kränke dich nicht, Simon. Der Krieg stirbt und wir leben. Nur die Gestapo grassiert. Sie kann auch bei uns in der Nacht anklopfen, und du mußt dich dann unter dem Dach verstecken.“

In der Ecke rührte sich eine Maus, die alte Kredenz, die am Boden stand, stöhnte durch die Feuchtigkeit. Der Schlaf kam nicht. Auf einmal hörte Simon das Klopfen der Gendarmerie.„Du mußt dich unter dem Dach verstecken“, hatte Morawietz gesagt.

Mit schweren Schritten bestieg Simon die Leiter hinter der viereckigen Bodenöffnung. Am Horizont erwachte das Licht. Die Luft war still, das Gebirge majestätisch. Das Haus des Photo-graphen hatte nur einen Stock. Der weiße Bär sprang und stürzte in den Schnee. Er erhob sich langsam und tapste davon. In dem Nebengäßchen verblieben nasse Spuren, die seinen Weg nach der Stadtgrenze anzeigten. Im Gebirge fand er eine geschützte Höhle, wo er sich aufatmend niederließ. Die Natur beherbergte einen menschlichen Bären, der still sein Gebet des Dankes flüsterte. Er war gerettet. Die Nacht verstrich ruhig, angstlos.

Am nächsten Tag, sehr früh, zogen von Osten kommend die Partisanen heran. Die Burschen waren munter und lustig. Die Luft war kristallklar. Durch das Fernglas sah man im Tal die abziehenden Kolonnen. „Also Ende des Tausendjährigen Reiches“, sagte lachend ein bärtiger Offizier mit Auszeichnungen am Kragen seiner Zivilbluse und blickte durch das Zeiß-Fernrohr ins ferne Gebirge. Unverhofft erblickte er durch das Glas einen weißen Fleck: einen unbeweglichen. „Schaut! Bären! Ein weißer Bär!“ Zehn paar Gläser schössen in die angegebene Richtung. Im Fadenkreuz des Fernglases erblickten sie den weißen Bären, und es war, als ob er ihnen mit den Pfoten winkte.

Der Sergeant prüfte mit seinem geübten Auge die Entfernung. Er regelte den Sucher und legte sich nieder. Das Gebirge echote den trockenen Knall seines Schusses als Antwort zurück. Der Bär bäumte sich auf und stürzte. Der Offizier, der durch das Fernglas den Bären zuerst erblickt hatte, lobte: „Mit dem ersten Schuß hast du ihn erledigt!“ „Ich treffe stets ins Herz“, antwortete gelassen der Sergeant und strich behutsam über den Lauf seines Karabiners.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung