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Der weitere Blick

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In Wahlzeiten stellt sich, je näher die schicksalhaften Termine heranrücken, ein merkwürdiges Phänomen ein. Der Blick des Staatsbürgers, und nicht nur des schlichten Mannes von der Straße, der es heute gewohnt ist, ziemlich frei rundum in die Welt zu sehen — in jenen Staaten, die sich für die Demokratie entschieden haben —, dieser Blick wird plötzlich enger. Nicht selten um vieles. Die Linse wird schmal, wie in Augenblicken der Lebensgefahr, das Auge sieht auf einmal nicht mehr die Fülle der umliegenden Gegenstände, sondern ein sehr verengtes Blickfeld: das Anliegen der eigenen Partei, vielleicht auch nur eines Mannes, eines Standes, eines Kampfrufes. Man nennt das bisweilen Konzentration, • „Sammlung aller Kräfte“, Einsatz bis zum letzten. Da treten uns also einige Dinge scharf und überscharf entgegen, alles andere aber nur verzerrt, bestenfalls verschwommen. Es tritt einfach zurück. Solche Momente sind für das Leben des Gesamtvolkes nicht ungefährlich. In ihnen können sich Psychosen der Angst, des Hasses, der Versteifung bilden, die die Elastizität, die alles Leben und die Demokratie im besonderen braucht, arg behindern. Die Verlängerung eines überhitzten Wahlkampfklimas bedeutet nichts anderes als die Vorbereitung der Diktatur. Wenn Wahl auf Wahl, Volksabstimmung auf Volksabstimmung sich jagen, sind die großen Trommler nimmer weit.

Oesterreichs Volk erliegt in diesen Tagen nicht dieser Illusion und Depression. Unsere Augen werden weit offengehalten durch die Weltereignisse. Wir verdanken ihrer Ungunst die seltene Gnade, mit höherer Objektivität als vielleicht sonst unsere eigene innenpolitische Lage besehen zu dürfen. Das ist nicht unser Verdienst: wir selbst sind mitten hineingestellt in die Geschehnisse, die sich heute in Asien anbahnen, und haben schon deshalb die Pflicht, sie in unseren Blick einzubeziehen. Als in Korea der Krieg begann, merkte es auch der kleinste Mann irgendwo in Mitteleuropa an den steigenden Preisen, an den nervösen Zuckungen des Arbeitsmarktes, an tausend unruhigen Reaktionen, wie sehr es auch uns anging. Berlin und Korea, Wien und der Eiserne Vorhang waren einander plötzlich nahegerückt auf einige herzbeklemmende Tage und Kilometer. Die programmatische Rede des amerikanischen Präsidenten vor dem Kongreß in Washington und die ersten Aktionen, die ihr bereits folgen, haben für uns nicht die hochinteressante Bedeutung wie etwa die Erklärung des New Deal durch Roosevelt, womit der demokratische Präsident damals immerhin eine innenpolitische Konsolidierung einleitete, die in konsequenter Fortsetzung später das Auftreten gegen Hitler ermöglichte, sondern gehen uns bereits heute unmittelbar direkt an. Folgt aus ihr der Großkampf um Asien, stellt die Zurückziehung der amerikanischen Flotte vor Formosa einen Akt dar, der zum Krieg mit China und dann seiner Hintermacht führen muß? Die ungemein heftige Reaktion zunächst sowohl in Paris wie' auch in London auf diese Verlautbarung eines weltgeschichtlichen Fahrplanes für uns alle, zeigte sofort, daß hier erkannt wurde: jeder Schritt, den Amerika heute in der Welt tut, entscheidet mit für uns alle. Keiner von uns kann aus dem Zug aussteigen, wenn dieser, einmal entgleist, dem Abgrund zurollt! Es bedeutet demnach keine unzuständige Einmischung und schon gar keine Kurzsichtigkeit, wenn die Parlamente und die Staatsmänner' Westeuropas mit höchster und wachester Aufmerksamkeit dem Europabesuch und den Erklärungen des Außenministers John Foster Dulles entgegensahen. Soweit sich heute feststellen läßt, gelang es diesem, viele Bedenken zu zerstreuen. Amerika hat nicht die Absicht, China anzugreifen, will aber auch nicht zum Schutze Rotchinas die Meere bewachen. Das weitere wird die Geschichte zeigen.

Dulles hat bei seiner Europareise jedenfalls eines beobachten können: dieser Kontinent lebt und ist gewillt, sich zu verteidigen, er kann, dies aber nur, wenn die Vereinigten Staaten Rücksicht nehmen auf die unmittelbaren europäischen Lebenssorgen. Ein neuer und weiterer Konflikt in Asien müßte die knappe Balance zwischen Preisen und Löhnen, das kunstvolle und gebrechliche Gefüge unseres Arbeits- und Materialmarktes in Europa über Nacht zum Einsturz bringen.

Inflation, Massenarbeitslosigkeit, soziale Unruhen wären nur die ersten Folgen einer solchen Aktion. Das würde für alle Staaten diesseits des Eisernen Vorhanges gelten, in besonders hohem Maße für das kleine, kapitalsschwache, auf fremde Märkte und ungestörte internationale Beziehungen angewiesene Oesterreich.

Es darf vielleicht als eine seltsame Schickung des scheinbar sich so ungnädig erweisenden Himmels angesehen werden, daß in eben diesem für die Zusammenarbeit Europas mit Amerika wie für seine ganze Existenz kritischen Moment den mit vollen Segeln in ein neues Kapitel der Weltgeschichte steuernden Amerikanern Westeuropa ein einzigartiges Schauspiel bot. Sturmfluten, wie seit Jahrhunderten nicht mehr, brachen über die Küsten herein. Bald drückten in Holland durch sechshundert Lücken in den geborstenen Dämmen die schmutzigen und erregten Wasser. Tag und Nacht kämpften in England und Holland zehntausende Menschen mit Sandsäcken und Spaten gegen das einbrechende Verderben, dennoch war es, nicht zu verhindern, daß allein in Holland mehr als zweitausend Todesopfer zu beklagen sind, 300.000 verloren ihre Heimstätten, 700.000 bis 800.000 wurden mehr oder minder schwer geschädigt. In diesem Augenblick eilten nun nicht nur die amerikanischen in Europa stationierten Truppen zu Hilfe, sondern es begann sofort und ohne weiteren Anruf eine gesamteuropäische Aktion, die noch läuft, ja, noch ausgebaut wird. Und Oesterreich hat sich in diese Selbstverständlichkeit sofort eingeschaltet. Gilt es hier doch nicht nur, Dank zu geben für die holländische Betreuung österreichischer Kinder nach zwei Weltkriegen, sondern hier, im Grenzland, zu erweisen, daß wir wissen, wozu europäische Solidarität verpflichtet.

Mitten im Wahlkampf gibt nun Oesterreichs Volk sich selbst eine Vorstellung von dem, was europäische Demokratie ist. Es sind ja nicht nur Kirche und Regierung, Parteien und Verbände, Stadt und Dorf, Gemeinschaften und einzelne, die sich zu Geld- und Sachspenden gemeldet haben, sondern es ist wirklich unser Volk. Die Ergebnisse der ersten Tage sind erfreulich. Sie sollen uns aber nicht ruhen lassen. Denn wenn wir diese Aktionen wohl verstehen, dann besitzen wir in ihnen eine große Chance, uns selbst zu helfen, uns selbst ein Beispiel der Solidarität, der Demokratie zu geben. Europa kann nur bestehen, das zeigen die Sturmfluten dieser Tage, wenn es sich selbst als ein immer stärker durchformtes Werk der Nachbarschaftshilfe begreift, als ein Haus mit vielen Geschossen und Stuben, das im Keller wie unter dem gemeinsamen Dach gleichzeitig bestellt werden muß, „oben“ und „unten“ also und in der Mitte.

Die Gefahr aus Asien und die Gefahren in Westeuropa haben also unsere innerösterreichische Optik geweitet. Wir sehen in diesen'Tagen, wenn, wir zur Wahl schreiten, sehr deutlich: wir sind nicht allein auf der Welt da, wir haben Rücksicht zu nehmen, wenn wir hoffen wollen, daß man auf uns ■ Rücksicht nimmt. Wir haben also einiges zu verantworten. Und wir hoffen, daß auch unsere Politiker dieses begreifen: daß nur bestehen wird, wer heute bereits die Verantwortung für das Größere, Ganze auf sich nimmt, der also Staatspolitik über Parteipolitik zu stellen vermag. Das aber kann heute nur, wer Oesterreich von Europa her sieht und großzügig dessen Verpflichtungen begreift. Oesterreichs Volk hat in den letzten Jahren vielleicht am stärksten darunter gelitten, daß alles so klein, so eng,'so wenig im guten. Sinne wagemutig, ohne längeren Atem, ohne rechte Weitsicht und Planung war. Der Einsturz der Dämme an. Europas Westküste sollte uns zu denken geben: der Damm unserer Demokratie verträgt- sehr eine innere Verstärkung. Diese aber kann nur von Menschen erarbeitet werden, die schnell entschlossen morgen die Wahloptik aufgeben zugunsten jenes größeren Blickes, der alle zusammensieht, d i e Oesterreich wollen und zu verantworten bereit sind.

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