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Der Wohnungsraub des Krieges

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Selbst vor Ausbruch des Krieges im Jahre 1939, als fünf Jahre hindurch jährlich im Durchschnitt mehr als 360.000 Häuser gebaut wurden, hinkte das Angebot hinter der Nachfrage noch stark nach. Nach den ersten Kriegsmonaten fand die Errichtung von Neubauten überhaupt praktisch ein Ende. Zwischen 1941 und 1945 wurden weniger als 80.000 Häuser erbaut. Andererseits wurden 220.000 Häuser durch Feindeinwirkung total zerstört und weitere 250.000 unbewohnbar gemacht. Wenn man noch die vier Millionen leicht beschädigter Häuser hinzurechnet, dann war unter den insgesamt rund 13 Millionen Wohnungen Großbritanniens ungefähr von je dreien eine beschädigt beziehungsweise zerstört. Der Ausfall an Wohnungen infolge des Krieges wird in Großbritannien auf fast zwei Millionen geschätzt.

Als es nach dem Krieg an das Ausfüllen der klaffenden Lücken im Wohnbau ging, waren die Baumaterialien knapp, insbesondere Holz und Stahl. Der Österreicher mag sich nur schwer in eine Lage versetzen, in der Mangel an Holz herrscht, Großbritannien muß aber Holz einführen — soweit es der Mangel an harter Währung überhaupt erlaubt. Eine Zeitlang herrschte große Ziegelknappheit; denn mehr als zwei Drittel der Ziegeleien waren während des Krieges stillgelegt worden. Außerdem waren Wohnbauten nicht der einzige dringende Bedarf, der aus den nach Kriegsende zur Verfügung stehenden bescheidenen Mitteln gedeckt werden sollte. Das Wohnbauprogramm mußte, so dringend es auch immer war, in eine lange Reihe anderer wichtiger Erfordernisse einschließlich des industriellen Wiederaufbaus eingefügt werden.

Nichtsdestoweniger wurden bis zum 30. September 1950 in Großbritannien 92 7.0 00 neue Häuser errichtet, ungefähr weitere 200.000 Häuser befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Bau. Dadurch sowie durch die Wiederherstellung unbewohnbar gewordener Häuser und die Aufteilung größerer Einzelhäuser in Etagen Wohnungen wurde es möglich, fast 1,2 5 0.0 0 0 Familien neu unterzubringen, wobei die Benutzung ehemaliger Militärlager und behördlich angeforderten Hausbesitzes nicht einberechnet ist.

Die britische Regierung verfolgt die Politik, den dringendsten Erfordernissen zuerst zu entsprechen; daher wird das Hauptgewicht auf die Errichtung von Mithäusern in geeigneter Größe durch die Gemeindebehörden (praktisch durch private Bauherren, die von den Gemeindebehörden beauftragt werden) gelegt. Die Zinse für diese Häuser sind in einer Höhe gehalten, daß sie für Mieter, die sich einen Hauskauf nicht leisten können, erschwinglich sind. Gewisse Bezirke und gewisse Berufsgruppen genießen Vorzugsrecht, zum Beispiel Gruben- und landwirtschaftliche Arbeiter, deren Areinen Methodistengottesdienst. An einem Tisch speisten vier Einarmige, ihre Sitze so anordnend, daß ihre Arme nicht kollidierten.

Am Morgen lag dichter Nebel über dem Stadtgebiet. Von den Ankündigungstafeln auf den Baugründen perlten Tropfen herab auf das kurze Gras und die Gerippe von Eggen lagen unbestattet auf den nassen Stoppeln. Bei einer auf fünf Meter zusammengeschrumpften Sichtweite gab es keine Welt mehr, kein gleichzeitiges Dasein: jedes Ding stand einzeln und für sich, gleichsam nur als Bild und vertretungsweise,— Stadtrandöde. Stieß man die Tür zum Gasthof auf, erklang ein Glockenspiel, Elfenbeinkugeln klapperten und einer der Umstehenden sagte: „So machen sie 's in der Krone in Margate.“ So pulste Englands Herz beim Spieltisch bis ans Ostende der Insel. In dem kleinen Vorgarten einer roten Villa kniete ein junges Mädchen auf der feuchten Erde und sägte an dem Ast eines Strauches, sie hatte eine niedergeschlagene und verschlossene Miene, kreischend fuhr die Säge durch das nasse Holz, irgendwo rief eine ärgerliche Frauenstimme: „Judy, Judy“, und in der Geflügelfarm gegenüber bellte ein Hund. Eine angerauchte Zigarette verglomm zu Asche vor einer kleinen verschlossenen roten Tür, ohne daß weit und breit jemand zu sehen war.

Die Cairn-Terrierfarm befand sich auf dem Gipfel des Hügels. Die Tiere können niemals ruhig gewesen sein; Frauen männlichen Typs in Tweedanzügen, Stahlkämme in den Händen, schritten an den Hundezwingern vorüber. Eine Anschlagtafel verkündete: Mazawattee Tee. Sommervillen waren zu vermieten. Mitten in dem Buchenwald war ein funkelnagelneues Haus zum Kauf angeboten. Es machte einen soliden Eindruck, etwas zur Dauer Bestimmtes, es schien etwas zu repräsentieren — sei es auch nur Besitzerstolz. Doch es war nur einige Monate bewohnt worden; ein kärglicher Drahtzaun hielt Wald und Wiese draußen. Der Eigentümer hatte im Dezember geheiratet und sich im August scheiden lassen; sie hatten hier einmal jede Jahreszeit erlebt — den Herbst ausgenommen — und keines wollte nachher in dem Haus wohnen. Ein Hausknecht fegte das Buchenlaub von den Wegen — ein aussichtsloser Kampf gegen den Wald — und lamentierte über den Verfall und die Vergeudung.

„Jedes Zimmer viermal gestrichen ..'. Da unten in der Mulde wollte ich einen Teich anlegen — noch einen Monat und ich hätte den Gemüsegarten klar gekriegt.“

Ein Stück Land, eine hübsche Behausung für die Dauer der Ehe, die Erde verlangt weder Pflege noch Liebe — niemand ist verantwortlich für das Kind auf dem Bahngleis. Wie hieß es doch? „Feldoder Bodenbesitz hat den Zweck, eine Miete einzuheben .. .*

Aus: „Gesetzlose Straßen“, Verlag Herder, Wien

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