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Nicht für die breite Masse, nicht übersetzbar und doch wichtig: das Lebenswerk Wulf Kirstens.

Dichtung als Bestandsaufnahme: Das scheint für Wulf Kirsten, den herben Sprachmeister aus Deutschland, zu gelten. Seit 50 Jahren schreibt er nun schon Gedichte. Jetzt liegen sie in einer schönen Ausgabe des Ammann Verlags vor. "Erdlebenbilder" heißt diese Sammlung von über 250 Gedichten. Kein Druckfehler, sondern eine kühne, treffende Beschreibung der Heimatgedichte ohne Sentimentalität, der Naturgedichte ohne Romantik.

Bilderreich und genau schreibt Wulf Kirsten, mit einem staunenswert reichen Wortschatz. Heute wohnt Kirsten in Weimar, geprägt aber haben ihn die linkselbischen Täler zwischen Dresden und Meißen. Erst mit 23 Jahren verließ der heute Siebzigjährige sein Dorf, um in Leipzig Abitur zu machen und dann Deutsch und Russisch für das Lehramt zu studieren. In diese Zeit fällt eine prägende Tätigkeit: er wurde freier Mitarbeiter des "Wörterbuchs der obersächsischen Mundarten". Ein Wortsammler also, der in dreieinhalb Jahren mit dem Eifer des Philologen auf 1200 Belegzetteln seltene Wörter festhielt. Viele haben in seine Gedichte Eingang gefunden.

Wozu brauchen wir heute noch alte bäurische Wörter? Hanfpotz (Vogelscheuche), Schermäuser (Maulwurfsfänger), verstruttet (mit Gesträuch bestanden), Besthaupt (bestes Pferd)? Zumal Kirsten daneben Wörter aus der modernen Technik stellt? Das eben ist seine Besonderheit: durch das Sprachmaterial zeigt der Autor die Kompliziertheit des modernen Lebens - auch auf dem Land. Altes und Neues stehen oft unverbunden nebeneinander und machen die Menschen "sprachlos". Der Wort-Retter Kirsten strebt nicht nach Wohlklang und Eleganz, sondern nach Genauigkeit. Der Dichter als Chronist. Wenn einer in der ddr gelebt hat und einen Blick für das Land und die Bestellung des Landes entwickelt hat, blieben ihm die gewaltigen Umwälzungen auf dem Agrarsektor, die Kollektivierung, der Großeinsatz von Chemie und Technik nicht verborgen. Er scheute nicht vor Kritik zurück, weil er sah, dass der Sozialismus keinen neuen Menschen schaffen konnte. Auch nach der Angliederung an das sowjetische System blieben Menschen in ihrer Herkunft und Umgebung verwurzelt und empfanden das Dörfersterben durch Großraumwirtschaft als Verarmung. Der "Reißwolf des Fortschritts" hat die Landschaft der Kindheit verschlungen und als schalen Ersatz die "Weltmaschine", das Fernsehen, gebracht.

Also auf ins reiche Sprachland des Wulf Kirsten? Unbedingt. "Abendgang. im dunkel liefen wir ins nächste dorf. / leicht übers flachland hob sich die hügelkette:/ hebungen, senkungen, wettinisch. / wir nahmen nur noch die umrisse wahr, / den saum aus sperrigem astwerk, / stillgelegter weinberge verworrene zeichen. / unkenntlich schon das grab des generals, der unter Napoleon diente./ In Seeben richteten die frauen das abendbrot, / ihre bewegungen, hart gezeichnet im licht, / unterschieden sich nicht. / durch die geöffneten fenster quoll künchendunst. / lehmgemäuer flankierten die gasse, / scheunenwände mit kugeleinschlägen. / von salven punktiert die jahreszahl / neunzehnhundertdreiundzwanzig - / in der blutspur der erhebungen / liefen wir stadtein." Man lese sich dieses Gedicht laut vor und beobachte, wie die Bilder aus der Sprache entstehen.

Aber versteht man alles? "Wettinisch" vielleicht: das Herrscherhaus in Sachsen waren die Wettiner. Doch was bedeutet die Jahreszahl 1923? Kritiker schreien im Allgemeinen nicht nach Fußnoten. Hier fehlen sie wirklich. Freunde der Lyrik sind heutzutage eine rare Spezies. Man sollte ihnen ihr "Leben mit Gedichten" erleichtern.

Erdlebenbilder

Gedichte aus 50 Jahren. 1954-2004

Von Wulf Kirsten. Amman Verlag, Zürich, 2004. 402 Seiten, geb., e24,90

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