6649225-1958_43_08.jpg
Digital In Arbeit

Der Zug der 18.000

Werbung
Werbung
Werbung

„ES IST NICHT ARG. Man gewöhnt sich daran. Die Familie gewöhnt sich an das Leben ohne Mann; der Mann gewöhnt sich an das Leben ohne Familie.“ — Ich pfeife „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Aber er sagt: „So schön ist es wieder auch nicht.“

ES IST KALT UND ES IST NEBLIG. Denn es ist morgens, 3.30 Uhr. Der Bahnhof ist absolute Trostlosigkeit und von der Welt völlig abgeschieden. Es ist ein Bahnhof im Burgenland.

Aus den Aktentaschen der Männer, die auf dem Bahnhof warten, dampft der Kaffee in den Thermosflaschen. Sie kommen von daheim, wo sie 48 Stunden waren, und fahren zur Arbeit, die weit entfernt ist und wo sie Wochen und Monate sein werden. Der Zug wird um 6 Uhr in Graz ankommen, denn um 7 Uhr beginnt die Arbeit auf den Baustellen.

So warten tausende Arbeiter an jedem Montagmorgen auf den Bahnhöfen und an den Autobushaltestellen des Burgenlandes. Die meisten ersparen sich das wöchentliche Warten. Ihre Arbeitsstellen sind zuweit entfernt, und sie warten nur einmal im Jahr, zu Beginn der Saison, auf den Zug zum Arbeitsplatz in einer anderen Stadt — und dann die ganze Saison hindurch auf die kurze Zeit der Arbeitslosigkeit zu Hause.

18.000 Arbeiter aus dem Burgenland, die die Pausen in ihrem Leben bei ihren Familien sind und die Monate dazwischen auf den Baustellen in ganz Oesterreich.

. „MAN GEWÖHNT SICH DARAN, es ist gar nicht so arg. Man verliert bald die Angst, daß man gerade in dem Moment nicht zu Hause ist, da man gebraucht wird. Es ist nicht so arg, bis auf das eine Mal, da man zu Hause sein müßte, da es fürchterlich ist, daß man nicht zu Hause war, weil efwasTwar JmHausrwejLy.-. schah im Haus, weil etwas verschwand aus.dem-Haus und man sah gar nicht wie und wohin.“

Wir sitzen im Abteil des Zuges, und der Rauch aus billigem Pfeifentabak und aus „Dreiern“ ist dicker als der burgenländische MorgennebeL Ein alter Mann neben uns kommt in unser Gespräch:

„Ja, es-ist gar nicht so arg, dV.s stimmt. Bis auf den Tag, an dem man nach Haus- kommt und man weiß, jetzt ist das Wanderlevin vorbei, jetzt kann man bleiben, jetzt bezieht man seine Alterspension. In der nächsten Woche weiß man dann, daß es das ganze Leben war, das man auf den Baustellen der ganzen Welt verbracht hat, und daß es nur ein“ armseliger Rest ist, der bleibt. Denn man ist vollständig fremd geworden zu Hause, in diesem. Leben, auf den Arbeitsstätten in der Fremde. Die Familie wundert sich etwas, daß man plötzlich da ist, und wenn es lang dauert, beginnt sie sich zu ärgern. Ich geh im nächsten Jahr ins Ausgedinge in meinem Haus, in dem ich fremd geworden bin.“

Das ist das Leben von 18.000- Männern aus dem Burgenland, die in den offiziellen Statistiken als Wanderarbeiter geführt werden; Restbestand einer vergangenen Epoche sozialer Rückständigkeit, dem alle sozialen Aemter des Burgenlandes zu Leibe rücken, indem sie den „Kampf für die Auf Schließung des Burgenlandes“ führen. Nur der Arbeiter auf dem Bahnsteig von Mattersburg weiß nichts von diesem Kampf. Die kurzen Pausen in seinem Leben sind vorübergeflogen wie die schwer tragenden Apfelbäume vor dem Zugfenster, wenn der Nebel plötzlich zerreißt und sich wieder schließt. — „Und wenn ich zu Hause blieb, war ich arbeitslos oder krank, meine Kraft ist auf den Baustellen geblieben, in Graz, in Wien und in allen Städten unseres Landes.“ genland, es nistet vielleicht noch in entfernten Winkeln, wo die Männer verlorengingen. Wo heute ein Mann ist, der noch zugreifen kann, gibt es kein Elend mehr, und auch die Armut ist nicht mehr der Wolf, der ein Leben lang an einem frißt. Früher gab es im Burgenland nichts, als solche Wölfe.“ — Sie haben Arbeit, und die ist nicht schlecht bezahlt. In der Saison bekommen sie 2500 bis 3000 S im Monat, und in der „Pause“, die sie zu Hause verbringen, Arbeitslosenunterstützung. Die Frauen können daheim arbeiten gehen. „Sie bekommen für ihre Weiberarbeit mehr, als Männer früher bekamen“, räsoniert der Alte. „Wir haben ein Haus und meine Schwiegereltern haben zwei Joch Grund. In meinem Haus hatten früher nur die Kinder Betten. Wir, meine Frau und ich, mußten auf dem Boden schlafen. Jetzt hat jeder sein Bett und meine Frau bestellte vor zwei Wochen SW-Möbel. Auf dem Grund meiner Schwiegereltern haben wir viele Blumenbeete angelegt, wo früher jede' Kartoffelstaude eine Lebensfrage war. Ich kann mich an das Elend kaum noch erinnern, die Kinder wissen nichts mehr davon. Geblieben ist aber der weite Weg zwischen unserem Arbeitsplatz und unserem Haus.“

„UNTERENTWICKELTES GEBIET“ nennen soziale Organisationen das Burgenland. Ich erinnere mich noch daran, als es tatsächlich unterentwickelt war. Der Boden gehörte zu zwei Drittel einer Handvoll Grundherren, zu einem Drittel einer Masse grauer Kartoffelesser. Verhungerte Pferde zogen hölzerne Pflüge. Die Wiener Tuberkulosenheime waren ein paradiesischer Aufenthalt für die Söhne aus den burgen-ländischen Dörfern, die nur, wenn sie Glück hatten, bis nach Wien kamen, und meistens ihre Tuberkulose in die feuchte Schilfluft über die Seen hauchten. Sogar der Schmuggel war. damals totes Wirtschaftsgebiet. “JÖs“'faule“'fraen geb'uf t des Krieges hatte eine Nachkriegskonjunktur das Burgenland aus einem

„unterentwickelten Gebiet“ fast über Nacht zu einem Territorium gemacht, in dem verschiedene Seiten des Lebens recht gut entwickelt waren. Die 18.000 Wanderarbeiter — die Zahl ist seit Jahrzehnten stabil — konnten ihr Wandern temporär einstellen und fanden Arbeit am Nachkriegsbauwunder im Burgenland.

Die Konjunktur brach dann zusammen und die alte „Unterentwicklung“ brach wieder aus. Da bemühen sich nun alle Behörden eines Sozialstaates Ministerien, Landesregierungsstellen, Gewerkschaften machen einander den Rang streitig, die ersten in der „AufSchließung“ des Burgenlandes zu sein. Und tatsächlich merkt man in jedem Dorf dieses „Aufschließen“. Neonstraßenbeleuchtung wirft auf die Mauern der Höfe und der Keuschen ein bläulich-blasses Licht. Jeder Marktplatz sieht von ferne wie die große Pratersternumfahrung aus, in Rust und Mörbisch wird der Fremdenverkehr gefördert, indem man die Heurigenindustrie und ein neues Hotelgewerbe mit reichlichen Mitteln düngt. Graue Betonstraßen zwängen sich in der Richtung des Neusiedler Sees.

. .Entlang der Straßen des Burgenlandes, die so prächtig geworden sind, daß Pferde sich schämen, auf ihnen zu traben, werden Industriegelände geplant, für die man durch Aussendungen, wie „Wollen Sie sich einen Betrieb im Burgenland aufbauen?“, in fast allen Sprachen der Welt wirbt. Ich sah zwei neue Industriehallen bei Petersdorf. Mir wurde eine neue Schneiderei gezeigt und zum Schluß ein prächtiges Kukuruzfeld bei Mattersburg. — „Das wird unser Industriepark.“ — Aber die Industrien, die sich nach dem burgenländischen Industriepark sehnen, haben sich noch nicht gemeldet, und wenn irgendeiner Interesse zeigte, so wurden ihm mit der Einladung zum Bauen zugleich die Verbote übermittelt, die besagen, welche Industrien hier nicht aufgebaut werden dürfen. — Solche, die anderen Industrien in Oesterreich eine Konkurrenz sein könnten. Und da bleiben nicht viele, von den wenigen, die Interesse daran haben, „sich einen Betrieb im Burgenland aufzubauen“. — Das Kukuruzfeld ist noch fest und sicher in den Händen der Ester-häzys, die ihren Mais für solider halten als die Pläne gewisser Institutionen zur „industriellen Aufschließung“.

Wie UNO und UNESCO zusammengenommen, stürzen sich die verschiedenen österreichischen Bürokratien auf das „unterentwickelte Gebiet Oesterreichs“. Nur zwei merken nichts davon: der burgenländische Wanderarbeiter, der am Morgen auf dem Bahnhof oder bei der Autobushaltestelle steht, und der burgenländische Bauer, der zu Hause bleibt und den Arbeiter haben möchte, um das aufzuschließen, was im Burgenland wirklich aufgeschlossen werden kann: sein Feld, das Land.

TRAKTOREN STEHEN IN DEN HÖFEN, aber es gibt zuwenig Traktorenführer. Ställe sind halbleer, weil es zuwenig Hände gibt, die das Vieh pflegen. Aecker bleiben unbestellt, Gesindekammern stehen leer. Auf den Höfen ?ieht man kaum junge Menschen. Es gibt keine Jungknechte und keine Jungmägde. Selbst die Bauernsöhne und Bauerntöchter wollen fort. Man drängt sich zur Verpachtung der Ester-häzyschen Güter. Es sollen Hunderte neuer Kleinwirtschaften entstehen. — Aber alte Wirtschaften verdorren wie Bäume, denen mdn die Wurzeln amputierte, die Arbeit entzog. ,

„Landarbeit!“ Das hat einen Klang im Burgenland, der häßlicher ist als Dienstmädchenarbeit in Wien. Der Geruch von Analphabetentum, von Schmutz und schlechten Schlafräumen ' und unendlich langen Arbeitstagen haftet an ihm. — „Wir wollen nicht weniger sein als die Zigeuner“, sagt mir ein junger Bursch in Eisenstadt; lieber wird er Hilfsarbeiter auf Wanderschaft, denn eine Lehrstelle bekommt im Burgenland nur ein Glücklicher unter zwölf, nur ein Mädchen unter sechzig.

Das ist ein Montagmorgen im Burgenland: Frauen sind zu Hause geblieben und alte Männer, die ein Leben lang auf Wanderschaft waren und jetzt in einem Haus im Ausgedinge sind, das ihnen fremd geworden ist. Tausende Arbeiter warten auf Stationen, um zu ihren Arbeitsstätten gebracht zu werden, die sehr weit entfernt sind. In den Höfen bereitet man die Tagesarbeit, vor, aber Traktoren bleiben mit Piachen bedeckt, weil niemand da ist, sie zu führen. Langsam wird es hell, und wohlmeinende Beamte treten den Weg in ihre Aemter an, wo sie weitere Schritte zur Aufschließung des Burgenlandes beschließen werden. Vorbei an einem Acker, der in diesem Jahr unbestellt geblieben ist.

SIE RAUCHEN BILLIGEN TABAK UND „DREIER“. Aber sie essen gutes Selchfleisch, und auf dem Gepäckträger stehen nicht mehr die zerrissenen Rucksäcke und Aktentaschen, frühere Firmenschilder des berufstätigen Wan-derns, sondern Kunstlederkoffer mit Reißverschluß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung