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Der Zug kommt in einer Stunde...

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So bescheiden, klein und ein wenig müde geworden mit der Zeit, steht er Tag um Tag an seinem Bahnwächterhaus, wenn ein Zug an ihm vorbei über das Geleise donnert, das immer schlecht rasierte Kinn auf den Kragen seiner Uniformbluse gedrückt, die Hand mit dem verwaschenen roten Fähnchen so gehorsam an der Hosennaht. Weichensteller steht unter seinem Namen auf dem Lohn-säckchen, einfach Weichensteller, und ganz klein geschrieben, als ob das keine große Sache wäre, achtzugeben auf die Züge, daß sie auf dem rechten Geleise fahren, damit nicht Tod und Schmerzen das Ende ihrer Fahrt bedeuten.

Von seinem Blockhaus kann er nicht in die einsame Station hinuntersehen. Sie liegt am anderen Ende des kurzen Tunnels. Hinter dem Wäldchen, aber an der anderen Seite, ist sein Wächterhaus, er braucht also nur dem Geleise nachzugehen, fünf Minuten etwa. Es wäre recht einsam dieses Leben hier in der Talschlucht, wenn seine Frau nicht wäre und Joseph, der Sohn. Es ist Simon noch nie eingefallen, mehr zu verlangen als diesen zärtlichen Frieden seines Alltags.

Der Güterzug ist durch und der D-Zug kommt erst in einer Stunde. Draußen ist die Nacht. Es regnet, und die Bäume peitscht der Sturm. Simons Gedanken sind bei Agnes, seiner Frau. Der Arzt schüttelte heute bedenklich den Kopf, als er fortging.

Das Kind — es kann vielleicht erst in einer Woche da sein. Simon lächelt ein wenig. Vielleicht ist es diesmal ein Mädchen. Agnes liebt Joseph, aber nun möchte sie doch ein Mädchen haben. Ein Mädchen, und sie werden es Agnes nennen.

„Hab keine Angst“, sagte sie heute, als er in den Dienst gehen mußte, „hab keine Angst, Simon, es wird alles gut gehen.“

Doch als er sie ansah, wandte sie das Gesicht ab. Vielleicht weinte sie wieder.

Am Wäldchen bl:eb er stehen und schaute sich um. Da stand sie an der Tür in ihrer weiten blauen Schürze und winkte ihm nach.

Es hätte für Agnes kein Kind mehr kommen dürfen, hatte der Doktor gesagt. Die Bedenken des Doktors aber wiegen die Freude nicht auf, und am Ende geht doch alles so, wii es muß. Darüber muß Simon lange nachdenken, und seine Hände werden eiskalt, wie er daran denkt, daß Agnes daran sterben könnte.

Gestern sagte Agnes, er könne nun gut den Kinderwagen vom winzigen Dachboden des Bahnwächterhauses herabholen. Er wäre noch gut und brauchbar und dann legte sie rosafarbene Polster hinein.

Simon schaut nach der Uhr. In einer halben Stunde muß der D-Zug da sein. Simon betrachtet die Hebel und Taster des Stellwerks. Sie blinken im Licht der Lampe. Er ist doch ein König in seinem kleinen Haus. Ein Handgriff hier und der Semaphor am Tunnel rührt sich, gibt die Strecke frei oder gebietet einem langen Zug voller Leute Halt. Dieses glänzende Ding da braucht er nur zu berühren und die Schranken an der Landstraße drüben senken sich und versperren den Weg, bis der Zug vorüber ist, und wenn Simon wieder etliche Male umdreht, ist die Straße wieder frei, und jeder kann fahren, wohin er mag. Ja, diese großen Hebel sind für die Wechsel an den Geleisen zur Einfahrt in die Station. Simon ist Herr über Leben und Tod sozusagen. Das Telephon klingelt. Es meldet sich der Stationsvorsteher.

„Ist gut, ich habe verstanden“, sagt Simon und legt den Hörer auf. Es ist ihm plötzlich wieder kalt.

Baumer ist also in der Station, oder besser gesagt, irgendwo im Finsteren um die Station herum. Im Wäldchen etwa oder sonstwo.

„Baumer ist um die Wege, geben Sie acht“, hatte der Stationsvorsteher durchs Telephon gerufen.

Der Regen schlägt an die Fenster des Blockhauses und rinnt glitzernd an den Scheiben nieder.

Simon muß wieder an Agnes denken, sie fürchtet solche Regennächte, wo der Wind im Walde weint. Er schaut wieder nach der Uhr. Es ist Mitternacht und in sechs Stunden ist sein Dienst um.

Baumer fällt ihm wieder ein. Er hat nicht gerade Angst vor Baumer, und doch spürt er, wie seine Hände kalt und feucht werden.

Baumer ist um die nächtlichen Wege, der Weichensteller Baumer, der Jahr um Jahr hier seinen Dienst versah, treu, gewissenhaft und genügsam wie er selber, bis eines Tages das große Unglück im Tunnel geschah, im Tunnel, der nicht länger ist als eine Seite der Kirchhofmauer im Dorf drüben, und an dessen andern Ende das kleine Stationsgebäude angebaut ist, als wäre es aus dem Fels des Berghanges herausgewachsen. An dem Unglück trug Baumer keine Schuld. Es war eine Regennacht wie die heutige gewesen.

Baumers Unschuld an der Sache hatte sich bald herausgestellt, und so war er weiter im Dienst geblieben, bis er eines Tages Anfälle bekam, die Toten in den Nächten schreien hörte. Es geschah nun des öfteren, daß er einfach während des Dienstes aus dem Blockhaus fortlief und erst nach Stunden mit den Augen eines Wahnsinnigen aus dem Walde kam. So mußte er entlassen werden. Er lebte fortan im Walde in einer verlassenen Hütte des Hegers, und wenn er einem Menschen begegnete, lief er davon und sie konnten ihn lange noch schreien hören. Er wird immer seltener gesehen, und wovon er lebt, weiß kein Mensch.

„Der Baumer kommt“, sagen die Leute im Dorf, wenn die Kinder nicht folgen wollen.

Zuweilen aber taucht er in finsteren Nächten vor dem Blockhaus auf, steht stundenlang vor einem der Fenster und preßt das bärtige Gesicht an die Scheiben und starrt hinein. —

Und nun ist es da, dieses Gesicht, vor dem Simon sich nicht fürchtet, vor dem ihm aber irgendwie graut und das seine Traumnächte mit Angst und Schrecken füllt bis zum Rand. Simon läßt es nicht aus den Augen, dieses Antlitz am verregneten Fenster, und kann nicht erkennen, ob es weint oder ob es nur der Regen ist, der am Glas niederrinnt.

In solchen Stunden greift er oft und oft in seine Tasche. Da ist das Messer. Es ist kühl, und daß es da ist, beruhigt ihn. Keiner kann sagen, welche GedanKen hinter dieser haarumwehten Stirne da vor dem Fenster wohnen, was Baumer hertreibt aus dem weiten Wald. Niemand v/ürde Simon schreien hören im einsamen

Blockhaus hier in der Talschlucht, wenn Baumer hereinkäme, um ihm etwas anzu-tun. Was ist ein Riegel an der Tür iüi Hände, denen ein solcher Geist befiehlt.

Oh, es ist gut, daß das Messer in der Tasche ist, nicht für Simon allein, für einen Zug voller Menschen ist es gut.

Das Telephon klingelt.

Der D-Zug hat Verspätung und kommt erst in einer Stunde.

Das Antlitz am Fenster ist fort, nur der Regen rinnt an den Scheiben nieder. Simon wischt mit dem Ärmel über die Stirn unterm Kappenschirm hin. Es war doch eben noch dagewesen, er hatte es doch genau gesehen.

Fäuste trommeln an die Tür. Wieder und wieder.

Simon ist, als wate er bis zum Hals im eiskalten Wasser.

„Vater — Vater —“, schreit es verzweifelt vor der Tür.

Simon reißt sie weit auf.

Joseph ist da, faßt schreiend und weinend nach seinen Händen.

„Die Mutter — die Mutter —

„Was ist mit der Mutter, red ...“

Er schüttelt den Buben.

„Sie sagt nichts mehr, sie schreit nur und schreit und der Stubenboden ist voller Blut —“

Simon stürzt mit dem Buben in den Regen hinaus. Nach einigen Schritten hält er an, als habe ihn einer zurückgerissen.

In einer Stunde kommt der Zug.

Joseph krallt sich weinend an sein Gewand.

„Die Mutter — geh mit —“

Simon spürt den niederströmenden Regen nicht.

„Lauf“, schreit er durch den rauschenden Sturm, „lauf zum Doktor ins Dorf. Immer der Bahn nach, aber nicht auf dem Geleise, hörst du, und dann den Steig durch das Föhrenholz — lauf!“

Er preßt die Fäuste in die Augen.

Joseph ist nicht mehr da. Er ist in der Nacht verschwunden.

In einer Stunde kommt der Zug. In einer Stunde ...

Er muß zu Agnes. In der halben Zeit kann er zurück sein.

Er versperrt das Blockhaus und stolpert über das Geleise davon. Der Sturm schmeißt den Regen auf ihn nieder. Äste und Zweige liegen auf dem schmalen Steig durch das nachtdunkle Wäldchen. Nun kann er das zage Licht aus dem Wächterhaus schon sehen, das ihm wie leise Hoffnung aus dem Fenster entgegenströmt.

Agnes liegt da, stöhnend den Mund aufgetan und ihre Hände strecken sich ihm entgegen. Er hebt sie auf und legt sie sanft auf das Bett. Nun ist sie still, als verstürbe sie in dieser Stunde.

„Gleich kommt der Doktor, gleich wird

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