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DER ZUG NACH WIEN

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Wie oft bin ich als Gymnasiast auf der „Hohen Brücke“ gestanden, die über den Salzburger Bahnhof von einer Straße zur anderen führt und von der aus man den Wiener Schnellzug draußen beim Gasthaus „Zum grünen Baum“ einbiegen und auf dem geraden Damm in den richtigen Bahnsteig niedergleiten sieht! Um zwei Uhr nachmittags brachte er die Wiener Morgenblätter nach Salzburg, und in ihnen mußte heute die entscheidende Nachricht stehen, die man mit heißer Ungeduld erwartete!

Dort oben zwischen den Bäumen der Waldlichtung erscheint plötzlich ein weißer Rauchstreifen, kurz darauf ist auch“ das dunkle Ungetüm einer Schnellzugslokomotive zu erkennen, Signale erklingen — und eine letzte Spannung sagt einem, in zehn Minuten hielte man die Zeitung in Händen und wüßte, wie die Angelegenheit, der man solche Wichtigkeit beigemessen, in der großen Welt draußen entschieden worden sei.

Aus einer schönen Vergangenheit und dem Pflichtenkreis der Schulbücher war man in das künstlerische Leben der Gegenwart geflüchtet und verfolgte seine Ereignisse mit einem Interesse, wie man es so freigebig nur einer Sache zuwendet, zu der man selbst sich hat entschließen können. Da es fast ausschließlich die Wiener Zeitungen waren, die einem über die neuen Theater-und Literaturerscheinungen, über die Auseinandersetzungen auf äem,Gebiets.der bildenden Kunsfeiund Musik berichteten,.war alle diesbezügliche Anteilnahme unwillkürlich zunächst“'auf Wien gerichtet oder-idoch aufseins Gesichtswinkel zugeschnitten. So konnte man kaum die Meldung erwarten, wie die Premiere im Burgtheater oder die erste Aufführung des neuen Stückes von Bahr oder Schnitzler ausgefallen war, ob in der gestrigen Wiener Gemeinderatssitzung Otto Wagner der Bau des neuen Stadtmuseums endlich übertragen worden ist oder Franz Metzners Lessinig-Denkmal zur Aufstellung gelangt. Man suchte auch nach dem Telegramm des Wiener Korrespondenten über die Uraufführung eines neuen Gerhart Hauptmann in Berlin oder des jüngsten Wedekind in München. Alle Hingabe junger Herzen an die Erlebniswelt der Kunst war auf Wien konzentriert oder sah es zumindest als den gegebenen Umschlagplatz in die ersehnte Weite des europäischen Geisteslebens an.

Dieser Zug nach Wien wurde aber auch, sooft es nur ging, in die Wirklichkeit übersetzt und nach dem realen Fahrplan genommen. Für Wiener Reisen wurde gespart und sorgsam vorher ausgewogen, wie man möglichst viel und zugleich das Wichtigste von dort mitnehmen könnte. Da mußten manche Widerstände überwunden werden, und die einmal auf ein solches Ziel gerichtete Energie kannte dabei nicht viel Rücksichten. Ich erinnere mich noch mit leichtem Schauder an eine solche Besessenheit, wie ich die griechische Maturaarbeit nicht ganz fertig abgegeben habe, weil ich sonst den Zug versäumt hätte, der mich nach Wien bringen sollte, um abends in der Oper „Iphigenie in Aulis“ mit der Mildenburg als Klytämnestra, der Gutheil-Schoder als Iphigenie unter Gustav Mahler in der Rollerschen Bühnengestaltung zu sehen. Diese unbekümmerte Fahrt ist mir auch noch aus einem anderen Grunde unvergeßlich geblieben. In Wels waren aus dem Rieder Personenzug zwei junge Menschen umgestiegen, die ich ihrem Aussehen nach für Bauernburschen gehalten hatte. Bald waren sie jedoch — ich wollte meinen Ohren nicht trauen — in ein lebhaftes Gespräch über die letzten großen Aufführungen der Hofoper unter Mahler geraten, und man konnte ihm entnehmen, wie tief das Erlebnis großer Kunst in ihnen Wurzel geschlagen hatte. Das infolge der täuschenden Umstände so überraschende Zusammentreffen mit Gleichgesinnten schien mir nun wie eine Bestätigung des eigenen Handelns und war in willkommener Weise geeignet, die sich meldende Stimme des Gewissens zum Schweiigen zu bringen. Der eine der beiden ist Bertil Wetzelsberger gewesen, später Generalmusikdirektor in Frankfurt am Main, der andere — Richard Billinger.

In den Univetrsitätsjahren mußten wir aber alle erfahren, wie wenig Wien selbst auf unseren SehnsuchtsdTang achtete und kaum je einem entgegenkam oder zu helfen versuchte. Verlassen saßen wir in den möblierten Studentenzimmern des achten und neunten Bezirkes, und niemand verlangte zu wissen, ob wir nicht auch etwas zu geben vermochten. Schon dieses Sichselbstüber-lassensein war eine Enttäuschung, und der scheinbar ans Ziel gekommene Zug nach Wien brachte uns bald nur unverdiente Abkühlung. Wie sich die Reichshaupt- und Residenzstadt der ihr zuströmenden Jugend gegenüber verhalten hat, so war sie ziemlich allgemein den Kräften, die in den Kronländern aufgespeichert lagen, nicht mit jener Offenheit zugetan, die vielleicht notwendig gewesen wäre. Man ist sich damals in Wien zu sehr des eigenen Reichtums bewußt gewesen und pflegte ihn, manchmal ein bißchen zu hochmütig, manchmal auch etwas zu gnädig, während die Aufgabe, Wien zum geistigen Mittel- und Mittlerpunkt des ganzen Landes zu machen, wie es alle äußeren Umstände nahelegten, den richtigen Anwert nicht hat finden wollen. Wer sich trotzdem Geltung hat verschaffen wollen mußte Wien wie ein Eroberer angehen, sich mit Wildheit umgeben und einen förmlichen Kriegszug vortäuschen. Das hatte der junge Linzer Hermann Bahr Anfang der neunziger Jahre unternommen, und ihm sind die energischen Erneuerer auf dem Gebiete der Architektur und des Kunstgewerbes gefolgt, die zumeist aus der mährischen Hauptstadt wenige Jahre darauf gegen Wien vordrangen: Olbrich, Josef Hoffmann, Alfred Roller und Adolf Loos. Wien fügte sich nach anfänglichem Widerstreben dann oft sehr gerne einem solchen entschiedenen, künstlerischen Willen, nicht ohne aber wenigstens gegen seinen Träger ein gewisses Mißtrauen zurückzubehalten.

Jahre sind gekommen, in denen sich der Zug nach Wien deutlich in eine Abkehr von Wien verwandelt hatte. Hand in Hand war damit gegangen, daß man sich im verstärktem Maße dem Boden der Heimat und dem gleichnishaften Gang der Natur über die nahe Scholle zugewandt hatte; die Sehnsucht nach dem geistigen Glanz einer europäischen Hauptstadt war einer Beschränkung auf den eigenen Lebenskreis und der Selbstbestimmung auf die hier gegebenen Kräfte gewichen.

Jetzt aber wurde sich Wien früher versäumter Pflichten bewußt, und es griffen die maßgebenden Stellen nun in betonter Weise als Zeichen eines auch innerlich gewandelten Verhältnisses nach den in dien Ländern zutage getretenen Werten, versuchten sie zu sammeln und konnten dadurch Wien gleichzeitig lehren, welche Vorteile es sich zuzueignen vermag, sobald es nur die ihm gestellte Aufgabe erfüllt.

Der Zug nach Wien hat so seinen Verkehr wiederaufgenommen, gleich selbstverständlich, wie er die Jugend vergangener Jahre geführt hat. Unbeschadet eigener Verwurzelung hat sich eröffnet, was die Großstadt im gedrängten Spiel aufgestapelter Kräfte und der daraus entspringenden Weite ihrer Pespektiven zu geben vermag. Der ddeeile Fahrplan ist damit erst wie ein wirklicher richtig geworden. Dem Zug der einen Richtung entspricht in der anderen ein Gegenzug, und sie begegnen einander in der wechselseitigen Überzeugung eines geordneten Fahrdienstes. Der eine Zug ist dabei nicht wichtiger als der andere, und erst beide zusammen ergeben das Bild eines sinngemäßen Verkehrs und natürlichen Austausches menschlichen Guts.

Aus dem NacUlaßbaud „Mtmus Austriacus von Erhard Busbeck, Verlag „Das Berglaudbuch', Salzburg-Stuttgart

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