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Des Wohlstands Dunkelgassen

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Seit Monaten veröffentlichten französische Zeitschriften und Zeitungen Reportagen über die Prostitution, aber erst die jüngste gründliche Untersuchung des begabten Journalisten Dominique Dallayrac „Dossier Prostitution“ zeigt das Problem in seiner ganzen Tiefe und Breite auf. Die käufliche Liebe in unseren Tagen wird damit zu einer Angelegenheit, welche die Vertreter der Kirchen und die Soziologen noch mehr beschäftigt als die Polizei. Man bedenke, daß die Prostitution in Frankreich auf einen finanziellen Umsatz von 1,5 Milliarden neue französische Francs geschätzt wird! 20.000 junge Mädchen und Frauen verschwinden in Frankreich im Laufe eines Jahres. Obwohl der Großteil zu den Eltern und der Familie zurückkehrt, gehen ungefähr 4300 dieser Geschöpfe für immer verloren. Wurden sie von Gangsterbanden in den Nahen Osten oder nach Amerika verschleppt? Rekrutieren sich aus ihnen die Straßenmädchen um die Place Pigalle?

Es sei einmal ein objektiver Blick auf diese Schattenseite unserer Welt gewagt und das unablässige Bestreben katholischer Geistlicher und Laien hervorgehoben, die mit großem persönlichen Mut die Würde der Frau zu retten trachten. Dies iri einem Milieu, in dem Feigheit, Geldgier, schrankenlose Sexualität, Mord und der Gebrauch von Drogen auf der Tagesordnung stehen.

Unterscheiden muß man zwischen dem berufsmäßigen Milieu der Prostitution und jener modernen Spielart, die einmal als Call-Girl auftritt oder als junge verheiratete Frau am Ende des Monats das Familienbudget erweitert. Alle Fachleute sind sich An einer Feststellung einig: Je reicher eine Zivilisation geworden ist, um so mehr nimmt die Prostitution zu. Sie begleitet wie ein Schatten die moderne Konsumgesellschaft. Eine Untersuchung der Zeitschrift „Nou-vel Observateur“ in 2000 Familien eines neuen Stadtteiles im Osten von Paris stellte fest, daß sich die Hälfte der jungen Frauen und Mütter zumindest einmal im Monat prostituiert. Hier hört jede Tätigkeit der Sittenpolizei auf. Der Zuhälter ist verschwunden. Die Lebensgier triumphiert, aber auch zahlreiche Studentinnen, Sekretärinnen und Dienstmädchen füllen die Reihen der „Gelegentlichen“, welche die „leichteste Lösung“ ergreifen. Über diese Tatsachen bestehen derzeit geringe Literaturhinweise, die Beobachter kennen jedoch die Ursachen: der Mangel an seelischen Werten verwirrt labile Charaktere. Die Zersetzungserscheinungen besonders in den jungen Familien fördern den geistigen Verfall. Die vorüber*-gehende bezahlte Hingabe wird durch Film und Literatur vorbereitet und rückt zur Selbstverständlichkeit auf..

Zwischen die „Gelegentliche“ und die „Berufsmäßige“ schiebt sich das Call-Girl, vom Film zu einer Heldin der Gegenwart gemacht. Diese Abart der professionellen Prostitution sammelt junge Frauen meistens guter Gesellschaftsschichten, die ohne Zuhälter, aber in der Regel mit einem spezialisierten Salon einer „Dame“ in Verbindung stehen. Da geht es sehr vornehm zu: Ein Telefon spielt die wichtigste Rolle, denn das Call-Girl arbeitet als „Amateurin“, wie der Fachausdruck lautet. Fast keines dieser Mädchen, oft mit guter Erziehung und von vorzüglicher Intelligenz — man findet unter ihnen Ärztinnen und Rechtsanwältinnen (!) — endete als „Berufsmäßige“. Uber diesen besonderen Zweig des modernen Menschenhandels liegen ebenfalls nur spärliche Informationen vor, da die Atmosphäre eines gehobenen Luxus und strengster Diskretion die Vorgänge abschirmt. In Frankreich gehören große Call-Girl-Ringe zu den Seltenheiten. Es sind meistens einzelne Frauen, die ein Netz ständiger Freundschaften aufbauen.

Wenden wir uns nun jenen tau-senden Mädchen zu, die im Flimmern der Neonbeleuchtung, in gewissen dunklen Gassen um Madeleine, Opera und Champs-Elysees ihre traurige Tätigkeit ausüben. Woher kommen sie? Wie leben sie? Welche Anstrengungen unternehmen Kirche und Staat, um sie wieder in die Gesellschaft einzugliedern? Und wie sehen die Männer aas, die diese

Mädchen schamlos ausnützen unter dem Vorwand, sie zu beschützen? Die „Berufsmäßigen“ stammen fast immer aus sehr bescheidenen Verhältnissen. 23 Prozent stammen aus dem landwirtschaftlichen Milieu, 20 Prozent aus Kleinbürgern der Provinz, 28 Prozent aus Dienstboten-und (bemerkenswert!) nur 13 Prozent aus Arbeiterkreisen. Die meisten der jungen Frauen kannten zerbrochene Familienverhältnisse. 17 Prozent waren Waisenkinder. 28 Prozent sind unehelich geboren. 35 Prozent stammen von geschiedenen Eltern. 20 Prozent waren verheiratet und sind geschieden. Der Mangel an Liebe in der Kindheit, das Fehlen der Geborgenheit schaffen die Voraussetzungen, die in den Abgrund führen. Wie sagte doch eine unter ihnen stellvertretend für viele andere: „Ich sah meine Mutter langsam verfaulen.“ Ein Großteil der Prostituierten lebte mit Eltern, von denen zumindest ein Teil dem Alkohol verfallen ist. 80 Prozent dieser jungen Frauen werden ebenfalls durch Alkohol oder Drogen bedroht.

Hinter ihnen taucht die düstere Gestalt des Zuhälters auf, und wir gelangen in die Sphäre des „Milieus“, wo nach drakonischen Gesetzen Frauen in planmäßiger Sklaverei gehalten werden. Unsere wundervoll organisierte Gesellschaft begnügt sich mit einigen bescheidenen Reaktionen. Die Zuhälter erhalten für ihr schändliches Treiben und ein Leben in gewollter Arbeitslosigkeit meistens sehr sanfte Strafen. Der Typ des Zuhälters in Frankreich rekrutiert sich aus zwei fest umrissenen Gebieten. Für die primitive Form der Prostitution arbeiten Nordafrikaner: 35 Prozent der Zuhälter in Paris sind Algerier. Das Laster im Luxus wird von Korsen und Bewohnern aus Marseille organisiert. Diese „Pegres“, wie der französische Ausdruck lautet, besitzen vorzügliche Nachrichtenquellen, und an der Spitze stehen oft angesehene Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Neben diesen hohen „Kaids“ schwirrem tausende arbeitsunlustige Individuen, die ein bis höchstens drei Mädchen „beschützen“. Diese kleinen Fische müssen oft beachtliehe Gebühren an die großen Chefs entrichten.

Wenn einer dieser Zuhälter oder ein Mädchen die eisernen Regeln des Milieus durchbrechen, werden Todesurteile ausgesprochen und mit unerbittlicher Konsequenz vollzogen. Warum akzeptieren Mädchen und Frauen diesen Zuhälter? Sie werden von ihnen schrankenlos ausgeplündert, geprügelt und oft körperlich verunstaltet. Die Antwort klingt fast zu einfach: Diese jungen Frauen haben Sehnsucht nach einer privaten Sphäre. Der Zuhälter schafft meistens die Illusion der Verbundenheit, ja der Liebe, und die Mädchen verzeihen immer wieder und bringen größte persönliche Opfer. Eine Tatsache mag immerhin nachdenklich stimmen: die Zuhälter kümmern sich eigenartiger Weise um die Kinder ihrer Opfer. Zahlreiche Beweise liegen vor, daß diese sonst unbarmherzigen Männer gute Väter für ihre Kinder werden, besonders wenn ihre Vaterschaft eindeutig feststeht.

Der Zuhälter findet seine „Berufung“ meistens zwischen 18 bis 20 Jahren. Diese Laufbahn wird aus familiären Ereignissen, oft durch Zufall, meistens aus Geldgier eingeschlagen. Solche Burschen gewinnen Geschmack an rassigen Sportwagen, gut geschneiderten Maßanzügen und am Besuch amerikanischer Bars. Sie verfügen über kein Geld, verloren den Rückhalt in ihren Familien und wurden aus der beruflichen Laufbahn geworfen. Von schwachem Charakter, verfallen sie dem Spiel und dem goldenen Nichtstun. In der Regel sind sie unbeschreiblich feig und üben ihre Gewalt nur gegenüber den Schwachen aus.

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