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Deutsche sehen dich an

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DIE AUTORITÄT UND DIE DEUTSCHEN. Herausgegeben von C. G. Schmidt-Frey-U(. Delpsctae Verlagsbuchhandlung, München 1966. 155 Seiten. — DIE DEUTSCHEN. Von Johannes Gross. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt/Main 1667. 302 Selten. DM 19.80. — FRAGEN AN WEIT UND KIRCHE. 12 Essays. Von Carl A m e r y. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1967. 155 Seiten. DM 6.80.

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DIE AUTORITÄT UND DIE DEUTSCHEN. Herausgegeben von C. G. Schmidt-Frey-U(. Delpsctae Verlagsbuchhandlung, München 1966. 155 Seiten. — DIE DEUTSCHEN. Von Johannes Gross. Verlag Heinrich Schettler, Frankfurt/Main 1667. 302 Selten. DM 19.80. — FRAGEN AN WEIT UND KIRCHE. 12 Essays. Von Carl A m e r y. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1967. 155 Seiten. DM 6.80.

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Zu den „incertitudes allemandes“, zu den deutschen Unsicherheiten, Ungewißheiten, zu den Unruhen,, die nichtdeutsche Europäer den Menschen der „verspäteten Nation“ (Plessner), den Deutschen also, nachgesagt haben, gehörte lange Zeit eben dieses beunruhigende Moment: Die Deutschen (so sagte man) können sich nicht selbst ins Gesicht sehen. Wenn sie über sich selbst urteilen, so geschehe das immer mit einem Seitenblick auf „andere“, die ihnen zu-sehen: etwa Franzosen, Engländer, Russen.

Im Blick auf die Unruhe dieses deutschen Blickes auf den deutschen Menschen mag es beruhigend erscheinen: Deutsche sehen sich an. Heute. Mit Blicken, in denen alte Irritationen noch nicht ganz geschwunden sind, die sich aber sehr bemühen, sachlich und sachbezogen, im glücklichsten Fall leicht ironisch und fast gelöst, fast ganz unverkrampft sich selbst anzusehen: den Menschen da, konkret heute; den Deutschen vorab in der Bundesrepublik. Über den Gänsefußdeut-schen läßt sich schon schwerer reden: Das ist der Deutsche in dem Staate, den es nicht geben soll, und der etwa heute noch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter „DDR“ firmiert, in der führenden evangelischen konservativen Wochenzeitung, im Hamburger „Sonntagsblatt“, sich frank und frei, als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, ganz: ohne Gänsefuß, bewegen darf.

„Das Verhältnis der Deutschen zur Autorität gehört zu den zentralen Problemen des politischen und sozialen Lebens in der Bundesrepublik.“ In dem Sammelband „Die Autorität und die Deutschen“ kommt ein Reigen von elf sehr verschiedenartigen Persönlichkeiten zu Wort. Brisant, angriffsfreudig wird dieser Reigen eröffnet von Alfred E. Brettauer, einem in der „Furche“ und ihrem Leserkreis wohlbekannten Autor: „Der Autoritarismus als seelische Nothilfe.“ Brettauers „Ausblick“ entbehrt nicht gewisser beunruhigender Elemente: „Immer größer wird die Furcht, daß nur das Wirtschaftswunder den Ausbruch neuer Gewaltsamkeit, zu der die rabiate Autorität führen muß, verhindert. Von der Autorität versprechen sich die Deutschen die Eintracht, weil sie nicht erkennen, daß sie nur auf dem Friedhof verwirklicht Verden kann. Ihre Abneigung gegen den Konflikt, der das Wesen einer funktionierenden Demokratie ausmacht, geht daraus hervor, daß 1961 28 Prozent eine Allparteienregierung befürworteten. Bei den Sozialdemokraten sogar 39 Prozent.“

Ein anderes Klima bekommen wir in dem Buche „Die Deutschen“ von Johannes Gross. Gross ist bekanntlich einer der hellsten, klügsten Köpfe einer jungen, politisch engagierten deutschen Rechten. Als Student gründete er die Zeitschrift „Civis“, er war dann Ressortchef der „Deutschen Zeitung“ und leitet seit Jahren die politische Abteilung des Deutschlandfunkes. Johannes Gross präsentiert eine hohe Sachlichkeit und Sachfoezogenheit, grundiert durch eine ironische Distanzierung vom geliebten Subjekt und Objekt, hier: von seinen Deutschen. Gross meint: „Das Selbstbewußtsein der Deutschen ist dadurch charakterisiert, daß es ihnen an Selbstbewußtseih fehlt.“ Man muß sehen, „daß die deutsche Gesellschaft eine Gesellschaft ohne politische Tradition ist. Sie ist eine Wirtschaftsgesellschaft ohne politische Kultur, auch ohne eigentliche soziale Kultur“.

„Die Sprache ist die große Klassenschranke der Deutschen.“

„Die Deutschen lieben sich nicht und haben kein Verständnis für ihre Schwächen.“ Gross untersucht spezifisch deutsche Worte, die in die seelische Landschaft der Deutschen einführen: „Gemütlichkeit“, „Treue“, „Wald“, „Mutter“, dazu Neid, Schadenfreude und Selbstmitleid.

Die seit 1949 geschlossene deutsche Gesellschaft in der Bundesrepublik ist konfliktscheu. Breit und genau schildert Johannes Gross die rechtlichen, politischen, gesellschaftlichen Strukturen dieser Gesellschaft mit unbefangenen Seitenblicken auf die DDR (ohne Gänsefüßchen): das Staatsoberhaupt, das Kanzlerprinzip, Instrumente der Macht, Volksvertretung, Parteidemokratie, rechts und links (mit einem Exkurs: die große Koalition). Bonn also, seine Obrigkeiten, die Deutschen und ihr Recht. Als die politische Achillesferse der Bundesrepublik erweist sich möglicherweise ihr stärkstes, höchstdotiertes Kind: die bewaffnete Macht. „Die Bundeswehr soll zugleich harmlos und abschreckend sein, Sicherheit und Entspannung garantieren, ebenso unzweideutig demokratisch wie militärisch tüchtig.“

Gegenüber jenen, in jeder Hinsicht die Mitte und Substanz dieses Buches bildenden Kapiteln, die sich mit den politischen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland befassen, fallen die letzten Abschnitte, die sich mit „Macht und Geist“, öffentlicher Meinung, mit den Intellektuellen usw. befassen, etwas ab: nicht weil es dem Verfasser an Wissen gebricht, wohl aber, wie ich annehme, weil er hier bewußt den Schritt und das Wort verhält, und einige Miseren nicht direkt ansprechen möchte. Gross sagt zum Beispiel nichts über Schulen und Universitäten in Deutschland. Dieses vielsagende Schweigen öffnet sich, fast blitzartig, in einem lakonischen Satz, mit dem er „Protestanten und Katholiken“ anvisiert: „Deutschland ist ein christliches Land.“

Genauigkeit und Ironie verbinden sich hier auf das verbindlichste: Deutschland ist ein christliches Land, heißt: die Konfessionen bilden in der Bundesrepublik Deutschland perfekt funktionierende Interessenverbände. „Weit über ihre eigenen Institutionen und über ihre eigene Publizistik hinaus sind die Konfessionen in Deutschland präsent. Ihre Organisation und Bürokratie überragt jede andere gesellschaftliche bei weitem und ist nur mit der des Staats zu vergleichen. Ihre zahllosen überkommenden Rechte, von manchen Steuerfreiheiten bis zum Glocken-lauten, sind exakt fixiert und werden vom Staat peinlich genau respektiert. Der öffentMehkeitsanspruch der Kirchen ist unbestritten.“

Deutschland ist ein christliches Land: mit der Problematik dieses Satzes befaßt sich Carl Amery in seinen zwölf Essays „Fragen an Welt und Kirche“. Amerys Studie „Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute“ hatte 1963 wie eine Bombe eingeschlagen, am Rande des Karpfenteiches des deutschen Katholizismus. Die Wächter eüten von allen Seiten herbei, um die friedsamen Fische vor der Beunruhigung zu retten. Dies gelang auch weiterhin. Dennoch ist die alte Ruhe nicht mehr in ihrer alten Frische wiederhergestellt worden. Immerhin: wackere deutsche Katholiken, die 1963 Amery als „Linkskatholiken“ und die deutschen Sozialdemokraten als Wegbereiter des Antichristen ansahen, haben sich in der Zwischenzeit längst mit Männern der zweiten Regierungspartei arrangiert und nehmen selbst, bei gemeinsamem Mahl, nicht ungern mit einer Prise Amery-Salz vorlieb.

Amery selbst ist ein konservativer bayerischer Katholik, in dem noch etwas vom Feuer der deutschen katholischen Jugendbewegung brennt. Sein Vater, der Hochschulprofessor DDr. theol. h. c. Anton Mayer-Pfannholz, ist der bedeutendste katholische Geistesgeschicht-ler deutscher Sprache in unserem Saeculum. Amery, der Sohn, vereinigt glücklich ein spirituelles Engagement mit einer guten katholischen Grundausbildung und einem leidenschaftlichen politischen Interesse.

Es tut nicht gut, Amery zu zitieren. Man muß ihn lesen. Ganz. Amery schildert einen deutschen Katholizismus, der heute noch nicht aus seiner Enge, seiner Provinzialität, seiner Menschenangst und Gottesangst herausgefunden hat. Ein Katholizismus, der vom Standpunkt des verschmähten Liebhabers Wilhelm II. und Hitler gegenüber argumentierte. „Wie weit ist es zur nächsten Kapitulation?“

In den Essays „Fragen der Welt an die Kirche“, „Modernität, Fortschritt, Aggiornamento“ und „Freiheit unerwünscht“ kreist Amery um die fatale Verschwisterung einer fatalen Vergangenheit mit einer fatalen Gegenwart. Beide christlichen Konfessionen in Deutschland „entmutigten Revolutionäre in den eigenen Reihen oder hervorragende Geister, die versuchten, ihre Kirche auf die Höhe der Zeit zu bringen — also das zu vollziehen, was man heute Aggiornamento nennt. Heute muß man es ein Wunder nennen, das angesichts solcher Ghettohaltung, ja Untergangsstimmung in den Kirchen überhaupt noch große und freie Geister zu finden waren, und daß der Typus Mensch, der im Laufe der Jahrtausende immer die großen seherischen und die Glaubensbegabungen stellte, den überkommenden Kirchen und ihren Strukturen nicht völlig den Rücken kehrte“.

„Zwei Reden über den Hunnen.“ I. „Eine mögliche politische Aufgabe des deutschen Katholizismus.“ Amery plädiert für eine Aktionsgemeinschaft liberaler Humanisten und offener Katholiken gegen den Vormarsch des Hunnen, der Reaktion im heutigen Deutschland.

„Der Hunne, ich wiederhole es, ist auf dem Vormarsch. Er will die Welt dafür bestrafen, daß er sich selbst dauernd ruiniert. Er will, notfalls im Bündnis mit Peking, das einfordern, was ihm zusteht. Er will keine Nestbeschmutzer, keine Intellektuellen, keine Zersetzer mehr. Er wünscht die Todesstrafe für Taximörder und die Totalamnestie für die Gaskammermörder. Er will die minderrassigen Gastarbeiter hinausjagen und Sexfilme verbieten, aber nicht Kriegsfllme. Er will sein gutes Recht von der ganzen Welt einfordern, denn er fühlt sich verfolgt. Er hält die Amerikaner für schlapp, weil sie nicht mit ihm gegen die Russen antreten, und er hält die Russen für dumm, weil sie nicht mit ihm gegen die Amerikaner antreten. Und was das Schlimmste ist: Er bricht nicht in Gelächter aus, wenn er in den Spiegel schaut.“

Erschrocken bemerke ich, daß ich nun doch in das Zitieren geraten bin: eine Fehlleistung meinerseits. Also füge ich dies letzte Zitat hier hinzu, getrost im Wissen, daß Vorgänge da hinten weit, weit in der Türkei, also in Deutschland, Österreicher nicht beunruhigen werden. Amery beschwört Deutschlands junge Katholiken: „Denn zusammengefaßt (das ist meine große Sorge!) könnten alle Kräfte, denen noch an der demokratischen Wirklichkeit in diesem Lande liegt, gerade noch stark genug sein, den Hunnen zu schlagen. Das ist meine Überzeugung. Kommt aber diese Vereinigung nicht zustande, werden wir getrennt geschlagen werden, so wie es uns 1932/33 ergangen ist, weil sich die Kirche auch damals nicht bereit finden wollte, rechtzeitig den Weg zur Weimarer Verfassung und den sie tragenden Kräften zu finden. Das wage ich zu prophezeien. Wie schon gesagt, der Kampf beginnt in uns selbst...“ Deutsche sehen sich an. Menschen sehr verschiedener politischer Provenienz. Sie alle aber wissen: Deutschlands Zukunft hat schon begonnen: im Kampf um die deutsche Jugend, die morgen Politik machen wird.

Carl Amery vermerkt: „Noch keine Erfahrung der Geschichte (und die Zeit seit 1947 ist schon Geschichte) hat junge Leute daran gehindert, alte Fehler von neuem zu begehen, wenn das Begehen von Fehlern leichter ist als ihre Vermeidung.“ Ich füge hinzu: vor allem auch dann nicht, wenn von Menschen älterer Generationen so nachhaltig, so unangefochten und so unverschämt offen Tag und Nacht, an allen Straßenecken, die Einladung ausgesprochen werden darf, eben diese Fehler „einsatzfreudig“ zu wiederholen.

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