6578738-1951_05_05.jpg
Digital In Arbeit

Deutsche Theaterkunst im Urwald

Werbung
Werbung
Werbung

In fünf Staaten wurde gespielt. In den vornehmsten Theatern, wie dem Teatro Municipal in Sao Paulo, im Sao Pedro in Porto Allegre, das von der Regierung des Staates Rio Grande betrieben wird. Staatspräsidenten und Diplomaten wohnten in der Mittelloge den Vorstellungen bei. Dann wiederum spielte man in den ärmlichsten Bretterbuden, deren innere Ausstattung der Europäer von den Wildwestfilmen kennt: der Holzbau mit der Galerie um den großen Saal, darunter die lange Bartheke; die Treppe nach oben, von wo im Film der Held die Bösewichter herunterwirft. Da geschah es denn, daß ein Darsteller, der von einer Seite der Bühne auf die andere um das Haus herumgehen mußte, von Hunden angefallen und in einen Schweinestall getrieben wurde, während seine Schauspielerkollegen auf der Bühne extemporieren mußten, bis er wieder fähig war, aufzutreten. Begeisterte Brasilianer waren unter den Zuschauern, die kein Wort Deutsch verstanden und doch bis zum Ende aushielten, und oft genug dagegen gleichgültige Deutschsprachige, die es nicht verhehlten, daß sie lieber zum Fußball oder ins Kino gegangen wären. Insgesamt 6000 Kilometer bereiste die Truppe, oft im Flugzeug,manchmal aber auch auf grauenvollen Lastwagen. Auf diesen ging die Fahrt im Zickzack durch Wüsten, Moräste, Gebirge, einmal zwölf Stunden durch eine Mondlandschaft, in der weder Baum noch Strauch, weder Haus noch Tier zu sehen war. Vielfach bei Regengüssen von unvorstellbarer Heftigkeit, ein andermal begleitet von Staubwolken von unbeschreiblicher Dichte. Unvergeßlich wirkte eine Fahrt durch die Gärten von Santa Catarina, die an Schönheit ihresgleichen suchen.

Interessante Begegnungen in Hülle und Fülle boten sich während der ausgedehnten Reisen. Zu ihnen gehört das in Brasilien häufige Zelttheater, eine Besonderheit des Landes. Solch ein Zelttheater ist nichts anderes als ein Zirkuszelt. Nur ist, statt der Manege im Zentrum, gegenüber dem Eingang auf einer Kreissehne eine richtige Bühne angebracht, die mit einem Schnürboden ausgestattet ist, so daß Vorhänge und Kulissen auf- und niedergehen können. Gespielt wird von den Mitgliedern mehrerer, meist untereinander verwandter Familien. Ein Haufen Kinder, die das gesamte Leben dieser Großfamilien beherrschen, gehört stets dazu. Diese Gesellschaften verfügen über Repertoires mit vielen Hunderten von Stücken. Da war eine, die zwei Monate' hindurch am selben Ort jeden Abend ein anderes Stück spielte, übrigens immer vor ausverkauftem Zelt, das heißt vor mehr als tausend Menschen. ' Solch ein Caboclotheater ist eine erfrischende Sache; man muß nur leider Caboclo genug sein, um es vollauf zu verstehen und zu würdigen. Diese Wanderschauspieler sind weitaus bessere Künstler und Menschen als manche von denen, die vor der Öffentlichkeit der Journale glänzen. Der Chef der Truppe ist fast immer der Komiker; seine Hauptrolle ist der „Caboclo“, der Mann aus dem Inneren Brasiliens. In ihm erkennen sich die Zuschauer, die in der Mehrzahl auch Caboclos sind, wieder, und dieses Wiedersehen mit sich selber ist das, was den Erfolg macht. Geht man den Stücken auf den dramaturgischen Grund, so stellt sich so eine Aufführung als eine Verkettung von mehreren Comedias dell'arte heraus. Es sind Rahmenhandlungen, Situationsfolgen, und die Figuren sind beinahe so feststehend wie Arlecchino und Panta-lone, unwandelbare Typen, genommen aus dem Leben der einfachen Menschen im Inneren Brasiliens, viele davon heute schon historisch, weil mit der Veränderung der Daseinsbedingungen im Landesinneren ausgestorben. Von den Dialogen ist vieles Stegreiftext; die Darsteller müssen nur darauf achten, zu gewissen Situationen hinzufinden und auf diesem Wege dem Clown zu recht vielen Witzen Gelegenheit zu geben. Das Vergnügen der Zuschauer ist um so größer, je bekannter und vertrauter ihnen die Vorgänge und Spaße sind. Vor 15 Jahren gab es noch in Rio de Janeiro, dicht an der Avenida Rio Branco, solch ein Caboclotheater, und noch heute kann man an der Peripherie der Millionenstadt oder in Stadtlücken mehr oder weniger ständige Zelttheater treffen.

In Montevideo hat man vor einiger Zeit melancholisch festgestellt, daß es dort vor 25 Jahren 30 Theater gab, während heute vier Theater und 87 Kinos gewählt werden. In Brasilien ist dieser Verfall des lebendigen Theaters gegenüber dem Anwachsen des Kinos vielleicht noch größer. Welch hohe Kultur ist hier zerstört wordenl Denn in den entzückendsten Theatergebäuden, die man selbst in entlegensten Gegenden antrifft, huldigt man dem Film von niederstem Geschmack. Ein Mischmach von Revolvergeknalle und allerlei Gewalttaten ist es, was die Leute anlockt. Nun sind jedoch bei der Bevölkerung des Landesinneren die Zelttheater derart beliebt, daß sie eine Gefahr für die Kinos bilden. In der nicht unbedeutenden Stadt Santa Maria (Rio Grande do Sul) haben sich die Kinobesitzer zusammengetan und einem solchen Zelttheater 50.000 Cru-zeiros (das sind zwischen 1500 und 2000 Dollar) bezahlt, unter der Bedingung, sich zwei Jahre lang nicht in diesem Bezirk sehen zu lassen. Man könnte jubeln: Das lebendige Theater hatte das Kino tributpflichtig gemachtl

Als das .Deutsche Theater in Brasilien“ im September 1948 zu arbeiten begann, war in weiten Gebieten Brasiliens der Gebrauch der deutschen Sprache, als Folge des Nationalsozialismus, in der Öffentlichkeit noch verboten, und sogar noch am Tage des Goethe-Jubiläums gab es bei einer Feier in einer Stadt im Inneren heftige Auftritte, weil Goethe-Worte in Deutsch zitiert worden waren. Dem „Deutschen Theater“ boten sich anfänglich unüberwindliche Schwierigkeiten. Diese wurden von der mutigen Schar und ihrem Leiter, dem einstens auf deutschen Bühnen sehr geschätzten Regisseur Dr. Wolfgang Hoffmann-Harnisch, mit bewundernswerter Tatkraft besiegt. Man setzte es durch, überall, selbst in den kleinsten Orten, den .Faust“ zu geben, häufig auch „Wilhelm Teil“, außerdem „Kabale und Liebe“, „Frischer Wind aus Kanada“, „Charleys Tante“. Letzteres Stück gelangte als Vaudeville mit Gesang und Tanz zur Darstellung, im Kostüm unserer Großeltern. Aus sechzehn Schauspielern bestand das Ensemble, und zwar aus acht Berufsdarstellern und acht jungen Leuten, die von einer Studiobühne für brasilianische Studenten kamen. Kein Stück wurde unter sechs Wochen Probe herausgebracht. Außerhalb der schweren Probenarbeit gab es noch weit schwerere Privatproben. Jedem Berufsschauspieler war ein Anfänger zugeteilt, den er in seinen Freistunden abzurichten hatte. Da ging es denn oft ein bißchen gewaltsam zu, aber dieses System ermöglichte, daß zum Schluß nicht mehr zu unterscheiden war, was handwerklich langsam gewachsen, und was in der Schnellpresse zurechtgemacht war.

Den Höhepunkt aller Darbietungen bildete die Hamlet-Inszenierung von Hoffmann-Harnisch, die über 200mal zur Aufführung gelangte. Diese Aufführung wurde als die sensationellste Tat in der Theatergeschichte Brasiliens gewertet, und der Regisseur hatte soviel Prestige damit gewonnen, daß er versuchen konnte, dem Publikum auch andere Shakespeare-Vorstellungen zu bieten. In überschwenglichen Worten sprach sich die Presse über das Gebotene aus, in Rio de Janeiro sowohl wie in den südlichen Städten. Daß es neben Molicre und Goldoni noch Goethe und Schiller als spielbare Autoren gibt, wurde einer erstaunten Öffentlichkeit seit langem wieder einmal zum Bewußtsein gebracht. Zwei Jahrhunderte, nachdem Goethe das Licht der Welt erblickt, war ein Sieg von weittragender Bedeutung erstritten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung